von
Frank Simon-Ritz
1. Die Nietzsche-Bibliographie im Rahmen der großen Weimarer Personalbibliographien
Die Weimarer Herzogin Anna Amalia Bibliothek ist seit den späten 50er
Jahren - zu dieser Zeit noch unter dem Namen "Zentralbibliothek der
Deutschen Klassik" - in die Funktion eines bibliographischen Zentrums
für die deutschsprachige Literatur des Zeitraums 1750 bis 1850
hineingewachsen. Der erste Schritt auf diesem Weg war die Erarbeitung
der seit 1960 erscheinenden Internationalen Bibliographie zur
deutschen Klassik, die seit 1994 im Saur-Verlag publiziert wird.[1]
Ergänzend zu dieser Epochen-Bibliographie wurde ein Programm von
Personalbibliographien zu Schriftstellern der gleichen Periode
etabliert. Als erstes konnte 1959 eine solche zu Schiller vorgelegt
werden, der weitere Bibliographien zu Heine, Lessing, Herder und
Wieland folgten.[2] Eine laufende Berichterstattung zu Goethe, Wieland
und Herder findet in den einschlägigen Periodika statt.[3] Einen
weiteren Arbeitsschwerpunkt der bibliographischen Abteilung der
Weimarer Bibliothek bildet die Erschließung von literarischen
Zeitschriften des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Hier wurde 1994
zunächst eine Bibliographie der Sekundärliteratur vorgelegt.[4] Seit
1995 wird eine analytische Bibliographie zu Friedrich Justin Bertuchs
Journal des Luxus und der Moden erarbeitet.[5]
Dieses bibliographische Arbeitsprogramm wurde 1995 um ein Projekt
erweitert, das sowohl von seinem Gegenstand als auch vom behandelten
Zeitraum her diesen Rahmen überschreitet. Unterstützt von der DFG hat
im Oktober 1995 ein Team, bestehend aus zwei wissenschaftlichen
Mitarbeitern, zwei Diplombibliothekaren und zwei studentischen
Hilfskräften, mit der Erarbeitung einer internationalen Bibliographie
zu Leben, Werk und Wirkung Friedrich Nietzsches begonnen. Im Jahr 2000
- aus Anlaß des 100. Todestages des Philosophen - sollen die
Ergebnisse dieser Arbeit vorgelegt werden. Nicht zufällig ist dieses
Projekt in Weimar angesiedelt. Hier verbrachte Nietzsche - bereits in
geistiger Umnachtung - die letzten drei Jahre seines Lebens, und hier
richtete seine Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche das
"Nietzsche-Archiv" ein, das zwischen 1896 und 1945 zu einem Dreh- und
Angelpunkt nicht nur der deutschen Nietzsche-Rezeption avancierte. Der
ungedruckte Nachlaß sowohl Nietzsches als auch des Nietzsche-Archivs
wird heute im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv aufbewahrt; die
Bibliotheken des Philosophen und des nach ihm benannten Archivs bilden
einen Teil der Sondersammlungen der Herzogin Anna Amalia Bibliothek.
Damit befindet sich hier ein Grundbestand an internationaler
Nietzsche-Literatur, der zudem seit 1990 systematisch ausgebaut wird.
2. Ausgangsbedingungen
Die Auseinandersetzung mit Nietzsche blieb seit ihrem Einsetzen am
Ende des 19. Jahrhunderts nicht auf fachphilosophische Erörterungen
beschränkt. Vielmehr war die Faszination, die von diesem
Dichter-Philosophen ausging, zu allen Zeiten so stark, daß kaum ein
Zweig der Kultur des 20. Jahrhunderts ohne seinen Einfluß denkbar ist.
Zur Wirkungsgeschichte Nietzsches - und damit auch zu den
Ausgangsbedingungen des Projekts - gehört auch, daß immer wieder
versucht wurde, den Nachweis der Nietzsche-Literatur in den Griff zu
bekommen. Im Bereich der Primärliteratur liegen zwei ältere
Verzeichnisse von Jacoby[6] und Zimmermann[7] vor, die zumindest
die
Erstdrucke der Werke Nietzsches nachweisen. Diese Verzeichnisse sind
jetzt durch eine Monographie zur Druckgeschichte von William H.
Schaberg ergänzt worden, die im Anhang zugleich eine annotierte
Bibliographie zur Veröffentlichungsgeschichte von Nietzsches Werken
bis zum Tod des Philosophen bietet.[8] Auch für den deutschsprachigen
Raum gilt, daß die Editions- und Veröfffentlichungsgeschichte über den
Bereich der Drucke zu Lebzeiten hinaus so gut wie gar nicht
dokumentiert ist, in anderssprachigen Regionen ist die
bibliographische Situation auf diesem Sektor kaum befriedigender.
Im Bereich der Sekundärliteratur stammt die anspruchsvollste
bibliographische Annäherung an den Gegenstand Nietzsche von Herbert W.
Reichert und Karl Schlechta. In ihrer International Nietzsche
bibliography[9] unternahmen sie erstmals den Versuch, die weltweit
erschienene Nietzsche-Literatur zu erfassen. In ihrer Bibliographie
machten Reichert und Schlechta die Einschränkung, daß sie nur
wissenschaftliche Literatur in einem engeren Sinn aufnahmen und auf
die Verzeichnung von Zeugnissen der Wirkungsgeschichte weitgehend
verzichteten. Neben diesem wohl wichtigsten sowohl sprachlich als auch
thematisch übergreifenden Versuch einer Verzeichnung der
Nietzsche-Literatur gab es verschiedene Versuche, die Literatur aus
bestimmten Sprachräumen[10] bzw. zu bestimmten Themen[11]
zusammenzustellen.
Eine Besonderheit stellt das mit gutem Gewissen als "monumental" zu
bezeichnende Verzeichnis Nietzsche und der deutsche Geist des
Amerikaners Richard F. Krummel dar.[12] Mit den ausführlichen
Annotationen zu den einzelnen Dokumenten, die in der Regel den
Charakter von Inhaltsangaben haben, und den eingehenden Erläuterungen
zu den Autoren sowie zum 'diskursiven Kontext', in den ein Text
einzuordnen ist, sprengt dieses Kompendium jedoch bereits den Rahmen
einer Bibliographie. In ihm ist vielmehr ein genuiner Beitrag zur
Erforschung der Wirkungsgeschichte Nietzsches in Deutschland zu
sehen.
3. Grundprinzipien der Erschließung
Die Weimarer Nietzsche-Bibliographie strebt eine umfassende
Verzeichnung sowohl der Primär- als auch der Sekundärliteratur
(einschließlich Rezensionen) von 1867 - dem Jahr der ersten
Veröffentlichung Nietzsches - bis 1998 an. Sie entsteht von Anfang an
als Datenbank. Dabei werden sowohl selbstständige als auch
unselbstständige Veröffentlichungen erfaßt. Das Bibliographenteam
arbeitet nach dem Prinzip der Autopsie; Ausnahmen von dieser Regel
werden als solche kenntlich gemacht. Die formale Beschreibung der
Dokumente erfolgt nach RAK-WB und ISBD. Inhaltlich wird des Materials
auf mehreren Ebenen erschlossen. Zunächst ist die Bibliographie
systematisch angelegt; darüber hinaus werden die Dokumente durch drei
Register erschlossen. Als drittes Element der inhaltlichen
Erschließung steht den Bearbeitern ein Feld für Annotationen zur
Verfügung, in dem im Titel eines Dokuments nicht unmittelbar
erkennbare zentrale Bezüge hervorgeboben werden können. Die
Strukturierung der Daten für die gedruckte Bibliographie erfolgt in
erster Linie durch die feingegliederte Systematik. Diese Systematik,
die sich an das bewährte Gerüst der Weimarer Personalbibliographien
anlehnt, verfügt über drei Ebenen. Auf der obersten Ebene steht eine
Ziffernnotation, die die Zuordnung der einzelnen Dokumente zu einem
Systematikbereich erlaubt. Auf der nächsten Ebene ist eine weitere
Untergliederung der Systematikstellen durch die Einfügung von
Zwischenüberschriften möglich. Auf der dritten Ebene können diese
Zwischenüberschriften durch Marginalien noch weiter untergliedert
werden.
Die Systematik unterscheidet zunächst grob zwischen den beiden
Großgruppen der Primär- und der Sekundärliteratur. In der
Primärliteratur werden Werksammlungen, Ausgaben einzelner Schriften
sowie Ausgaben des musikalischen Werks und Briefeditionen
unterschieden. Eine eigene Gruppe ist für die Veröffentlichungen aus
dem Nachlaß vorgesehen. (Hier findet sich auch - in ihrer
nüchtern-bibliographischen Form - die Veröffentlichungsgeschichte der
umstrittenen Nachlaß-Kompilation Der Wille zur Macht.) In einer
weiteren Gruppe wird die Übersetzungsgeschichte des Nietzscheschen
Oeuvres dokumentiert. Hier folgt die Systematik auf der Ebene der
Zwischenüberschriften einem Alphabet der Sprachen, auf der Ebene der
Marginalien wird die Gliederung aus dem Bereich der deutschsprachigen
Primärliteratur wiederholt. Die Sekundärliteratur untergliedert sich
in zwei große Bereiche. Der erste Bereich ist der Literatur
vorbehalten, die sich mit dem Leben und Werk Nietzsches beschäftigt.
Im zweiten Bereich wird die Literatur erfaßt, welche die
Wirkungsgeschichte des Philosophen zum Gegenstand hat. Im ersten
dieser beiden Bereiche lassen sich vier größere Gruppen unterscheiden.
Die erste Gruppe verzeichnet die allgemeine und einführende Literatur.
In der zweiten Gruppe wird die Literatur zur Biographie Nietzsches, zu
seiner Familie und zu den Zeitgenossen, mit denen er in persönlichem
Kontakt stand, nachgewiesen. Die dritte Gruppe erfaßt die Literatur,
die sich mit dem Denken Nietzsches beschäftigt. Hier finden sich z.B.
Darstellungen zu seinem Verhältnis zu anderen Denkern sowie zu
zentralen Themen seines Philosophierens. Am Schluß dieser Gruppe steht
die Literatur über einzelne Werke Nietzsches. Der Bereich, der sich
mit der Wirkungsgeschichte befaßt, ist - nach einer übergreifenden
Gruppe - nach dem Regionalprinzip untergliedert. Durch die variable
Vergabe von Zwischenüberschriften und Marginalien ist die Systematik
in der Bearbeitungsphase beweglich.
In der Datenbank sind drei Register - ein Personen-, ein Sach- und ein
Werkregister - eingerichtet. Im Personenregister sind zum einen
Verfasser und sonstige an einer Veröffentlichung beteiligte Personen
- Übersetzer, Herausgeber etc. - nachgewiesen. Zum anderen werden hier
auch behandelte Personen erfaßt und durch die Eingabe eines Sternchens
nach dem Namen als solche kenntlich gemacht. (Auf diese Weise läßt
sich klar zwischen Thomas Mann als Autor von Beiträgen über Nietzsche
und Thomas Mann als Gegenstand von Veröffentlichungen zum Thema
"Nietzsche in der Dichtung" unterscheiden.) Das Register der Werke
Nietzsches hat - ähnlich wie das Personenregister - eine zweifache
Funktion. Zum einen sind hier die Textausgaben aus dem Bereich der
Primärliteratur verzeichnet, zum anderen dient dieses Register dazu,
die Literatur über einzelne Werke Nietzsches nachzuweisen. Im Hinblick
auf das Sachregister wurde vor Beginn der Erschließungsarbeiten die
Entscheidung getroffen, nicht mit einem vorab definierten Thesaurus zu
arbeiten, sondern eine dynamische Schlagwortliste zu erstellen, die
sich den Anforderungen der Erschließung anpaßt. Bei der Erarbeitung
der Schlagwortliste kristallisierten sich vor allem zwei Bereiche
heraus, die zu einem besonderen Charakteristikum des Projekts werden
könnten. Zum einen wurde von den Bearbeitern großer Wert darauf
gelegt, bei 'Großbegriffen' mit sehr vielen Einträgen wie z.B.
Anthropologie, philosophische auf einer tiefer liegenden Ebene ein
Spektrum von Begriffen einzuführen, die ihren gemeinsamen Oberbegriff
weiter spezifizieren. Im Beispiel wären dies Begriffe wie Furcht,
Demut, Einsamkeit, Eitelkeit, Glück, Grausamkeit, Körper, Kraft,
Lachen, Leiden, Neid, Scham und Trieb. Eine weiterer Schwerpunkt
besteht im Nachweis von Begriffen, denen im Philosophieren Nietzsches
eine besondere Bedeutung zukommt und die zum Teil erst durch ihn in
den philosophischen Wortschatz eingeführt wurden, wie
Artisten-Metaphysik, Ewige Wiederkunft des Gleichen oder Maske.
4. Die Nietzsche-Bibliographie als Datenbank
Die Nietzsche-Bibliographie als Datenbank wurde als
Client/Server-Applikation konzipiert. Als Clients fungieren
Windows-PCs, als Datenbank-Server kommt Oracle zum Einsatz. Das
Frontend auf den Clients wurde mit dem Entwicklungstool Delphi C/S
entwickelt. Mit dem Datenbanksystem Oracle steht eine leistungsfähige
SQL-Datenbank im Hintergrund, die zugleich die Präsentation der
Datenbank in Datennetzen wie dem Internet erleichtert.
Die Erfassungsmaske ist so aufgebaut, daß den Bearbeitern ein
dreiteiliges Eingabeformular zur Verfügung steht. Die ersten beiden
Bildschirmseiten decken die für die bibliographische Beschreibung der
Dokumente nötigen Felder ab. Hierbei stehen zwei Felder für größere
Textmengen zur Verfügung. Das Feld Inhaltsangaben nimmt die
ausführlichen Wiedergaben der Inhaltsverzeichnisse von umfangreicheren
Ausgaben im Bereich der Primärliteratur sowie von auf Nietzsche
bezogenen Sammelwerken aus dem Bereich der Sekundärliteratur auf. Im
Feld Annotation werden Rezensionen verzeichnet, darüber hinaus steht
es für die erläuternden Zusätze der Bibliographen zur Verfügung. Die
dritte Bildschirmseite ist den drei Registern vorbehalten. In allen
Feldern ist das Problem der Übernahme von Sonderzeichen anderer
Sprachen komfortabel gelöst.
Die Datenbankanwendung bietet den Bearbeitern drei unterschiedliche
Recherchefunktionen. Es ist sowohl eine Suche über die Systematik -
mit Eingabe einer Notation sowie von weiter spezifierenden
Zwischenüberschriften und Marginalien - als auch eine Volltextsuche
möglich. Für die eigentliche Recherchemaske wurden von den Bearbeitern
zehn Kategorien festgelegt, nach denen über eine Art Formular gesucht
werden kann. Es sind dies die Kategorien Verfasser oder sonstige
beteiligte Person, Verfasser, Hauptsachtitel, Werktitel Nietzsches,
Zeitschriften- oder Reihentitel, Behandelte Person, Schlagwort und
Literatur über einzelne Werke Nietzsches. Hinzu kommen die beiden
sekundären Suchkriterien Sprache und Jahr. Für die einzelnen
Suchkriterien wurde definiert, über welche Felder bzw. Tabellen der
Datenbank die Recherche laufen soll. (Der Unterschied zwischen den
ersten beiden Feldern erkärt sich so: Eine Suche über das Feld
Verfasser oder sonstige beteiligte Person läuft über das
Personenregister. Hier sind jedoch nicht nur Verfasser im engeren
Sinne, sondern auch Herausgeber, Übersetzer, Rezensenten, Autoren von
Vor- oder Nachworten sowie Illustratoren verzeichnet. Die Suche über
das Feld Verfasser wird nur über die Einträge in den Verfasserfeldern
der Eingabemaske geführt. Bei vielfach in der Datenbank verzeichneten
Personen ist der Unterschied signifikant.)
Noch innerhalb des Suchformulars erscheint eine Anzeige der
Trefferzahl, zu der die jeweilige Recherche geführt hat. Im nächsten
Schritt können sich die Bearbeiter eine Kurztitelliste anzeigen
lassen. Von hier aus ist es möglich, direkt zu der Aufnahme des
gesuchten Dokuments zu gehen oder sich im Vollanzeigemodus die
wichtigsten bibliographischen Angaben anzeigen zu lassen. Auf den
verschiedenen Stufen des Suchvorgangs ist es auch möglich, zu einer
Datenausgabe in Form eines Downloads bzw. Ausdrucks überzuwechseln.
Für die Datenausgabe wurden von den Bearbeitern zwei Formate definiert
- ein ISBD-Format und ein Korrekturformat, das gewissermaßen der
"Langform" (incl. Notation, Zwischenüberschrift, Marginalie und
Registereinträgen) entspricht.
Am Ende des Projekts wird, soviel stand von Anfang an fest, die
Printausgabe einer nicht nur für die Philosophiegeschichte bedeutsamen
Personalbibliographie stehen. Daneben soll es auch eine digitalisierte
Ausgabe - auf CD-ROM oder als Datenbank via Internet - geben. Die
Präsentation der Datenbank im Internet würde es erlauben, die
Bibliographie bereits in einer vorläufigen Form - während der
Erarbeitungsphase - zugänglich zu machen. Dies würde zum einen dem
bereits häufiger artikulierten Bedürfnis der internationalen
Nietzsche-Forschung entgegenkommen, zum anderen könnte es dazu
beitragen, die Kontakte zur internationalen Forschergemeinschaft zu
festigen und diese so partiell in das Projekt einzubeziehen. Die
Vorbereitungen hierfür sind schon weit gediehen. Seit dem Frühjahr
1996 ist die Nietzsche-Bibliographie zumindest mit einer
Projektbeschreibung im Internet präsent.[13] Zur Zeit wird der
Jahreswechsel 1997/98 als Zeitpunkt anvisiert, an dem die Datenbank in
einer Art Testversion im Internet zu Recherchezwecken zur Verfügung
gestellt werden soll. Dies nimmt die Herzogin Anna Amalia Bibliothek
zum Anlaß für ein Kolloquium zum Thema Bibliographische Datenbanken im
Internet, bei dem am 4. und 5. Dezember 1997 Bibliothekaren und
Verlegern ein Forum für den Austausch ihrer Positionen in dieser Frage
geboten wird.[14]
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