Allerdings gab es büchersammelnde Personen und Institutionen, für die der günstigere Preis beim Kauf eines neuen, aktuellen Lexikons kein ausreichendes Argument war, um das alte zum Einstampfen zu geben. Bibliotheken sind seit jeher die weitsichtigsten Institutionen dieser Art. Gerade in den wissenschaftlichen Bibliotheken sind (sofern nicht durch äußere Einwirkungen zerstört) alte Lexika erhalten geblieben. Zum Glück, denn das Bewahren und Benutzen der alten Enzyklopädien und Universallexika ist auch heute zumindest in dreifacher Hinsicht noch von großem Wert:
- als Quellen für die allgemeine Geschichte, insbesondere die Sozial- und Kulturgeschichte,
- als Quellen für die Geschichte der Wissenschaften und ihrer Vermittlung,
- als Dokumente der Geschichte von Buchherstellung und Buchhandel.
1. Vom Wert alter Lexika als Quellen für die allgemeine Geschichte, insbesondere die Sozial- und Kulturgeschichte
Enzyklopädien und Universallexika bieten umfassende Querschnitte durch alle Lebensbereiche zu bestimmten Zeiten. In diesen Werken ist festgehalten, was einer Zeit als wissenswürdig gilt, d.h. sie registrieren nicht nur den jeweils aktuellen Wissensstand in den verschiedenen Sachgebieten, sondern auch den Stand des öffentlichen Interesses an diesem Wissen. Allgemeinlexika sind nicht allein Dokumente der Geschichte des Wissens, sondern ebenso Dokumente seiner Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte. In der chronologischen Folge indizieren sie den Wandel der Wissensinhalte und den Wandel der Gewichtung, Einschätzung und Bewertung dieser Inhalte. Gerade letzteres macht sie als Quellentexte für die historische Sozial- und Kulturforschung in hohem Maße interessant. Die auflagenstarken Allgemeinlexika protokollieren gewissermaßen den politischen und sozialen mainstream ihrer Zeit, anders hätten sie die hohen Auflagenzahlen nicht erreicht. Sie artikulieren die Meinungen und Wertvorstellungen einer breiten, tonangebenden Gesellschafts- und Käuferschicht. Schon aus wirtschaftlichen Gründen sind so kapitalintensive Unternehmen wie allgemeine Lexika an die Erwartungen ihrer potentiellen Käufer gebunden. So konnten sich etwa der Meyer oder der Brockhaus nach der Reichsgründung von 1871 keinesfalls antipreußische oder großdeutsche Tendenzen erlauben.
Im Bereich der Naturwissenschaften und ihren technischen Anwendungen sind Allgemeinlexika in der Regel zuverlässige Protokolle des Fortschritts. Darüber hinaus aber vermitteln sie ein zeitgenössisches Bild der gesellschaftlichen Akzeptanz solcher Entwicklungen. Vom Handwerk zur Großindustrie, vom Pferdefuhrwerk über die Eisenbahn zum Benzinmotorwagen, vom Kerzenlicht über die Gasbeleuchtung zum elektrischen Licht: im Großen wie im Kleinen ist in der chronologischen Folge der Werke die Geschichte der Technisierung und Industrialisierung mitsamt ihren ungeheuren sozialen Verwerfungen nachzulesen, und es ist dokumentiert, wie die Zeitgenossen selbst diese Geschichte erfahren und eingeordnet haben.
Erst recht in gesellschaftlich und moralisch sensiblen Bereichen wie etwa der Einschätzung historischer und politischer Ereignisse oder bestimmter sozialer Fragen sind alte Lexika sehr brauchbare Indikatoren für die jeweils geltenden Wertvorstellungen. Ein einziges Beispiel soll das belegen. Im 1815 erschienenen 3. Band der 3. Brockhaus-Auflage ist unter dem Stichwort Frauen zu lesen: "Die Frauen ... sind die Repräsentanten der Liebe, wie die Männer des Rechts im allgemeinsten Sinne. ... Wie Frauen lieben und sich dem Manne hingeben, das bestimmt den Werth und das Wohl der Einzelnen, wie des ganzen Standes, in der Familie und im Volke, und hat dies bestimmt von Anbeginn des Menschengeschlechts." Ausführlich ist dann in psychologischer und physiologischer Hinsicht von dieser sogenannten natürlichen Bestimmung der Frauen die Rede, und wie sie sich als Gattinnen, Mütter und Hausfrauen zu bilden haben, eingeschlossen die Ausbildung ihres Gemüts, ihrer "schönen und verschönernden Natur". Kein Zweifel macht sich laut an dieser Bestimmung, kein Einwand wird referiert, und sei es nur, um abgelehnt, zurückgewiesen zu werden. Der ganze Duktus des Artikels ist von einer unaufdringlichen, ganz nüchternen Bestimmtheit, die anderes nicht denken lassen will. Wie anders ganz am Ende des Jahrhunderts in der 14. Brockhaus-Auflage. Das Wort Liebe, Leitmotiv des frühen Textes, kommt in dem vier Spalten langen Artikel Frau nur noch ein einziges Mal und eher beiläufig vor. Das Bild, das jetzt von der natürlichen Disposition und der rechtlichen Stellung der Frau gezeichnet wird, ist, zumal aus heutiger Perspektive, immer noch empörend genug. Die unbekümmerte Selbstverständlichkeit des alten Rollenbildes aber ist dahin, der Artikelschreiber (zweifellos noch immer ein Mann) ist eindeutig in der Defensive. Inhalt und Stil des Artikels bezeugen die Brüche und Risse in dem tradierten Bild. Am Ende des Textes wird es vollends offenbar, wenn es fast verschämt heißt: "dennoch ist die Existenz einer Frauenfrage nicht zu leugnen". Diesem Stichwort Frauenfrage ist dann ein eigener, sechs Spalten langer Artikel gewidmet, in dem die "Gesamtheit der Probleme und Forderungen, die in der neuesten Zeit aus der Umgestaltung der Gesellschaft und ihrer Lebensformen sich in Bezug auf die Stellung des weiblichen Geschlechts ... ergeben haben" ausführlich erörtert werden. Weitere, ebenfalls sehr lange Artikel kommen hinzu: Frauenarbeit, Frauenarbeitsschulen, Frauenstimmrecht, Frauenstudium, Frauenvereine. Schon die Stichwörter zeugen von einer dramatisch veränderten Wirklichkeit. Es geht um etwas völlig anderes als in dem Artikel am Anfang des Jahrhunderts, es geht um die politisch und gesellschaftlich aktuelle Forderung nach der Gleichstellung der Frau in sozialer, rechtlicher und wirtschaftlicher Hinsicht. Und das Lexikon reagiert zuverlässig auf diese Veränderungen, es greift die Themen auf. Zwar verhält es sich der geforderten Emanzipation der Frauen gegenüber zurückhaltend bis defensiv (der herrschende Ton ist jenes noch heute bekannte: Ja, aber langsam, nicht soviel, und nicht alles auf einmal). Aber noch in dieser Abwehrhaltung ist es ein Spiegel der herrschenden, nämlich männlich dominierten, Verhältnisse.
Zieht man nun die dazwischenliegenden Brockhaus-Auflagen sowie andere Lexika der Zeit heran, so lassen sich die Entwicklungslinien und Bruchstellen in der lexikalischen Darstellung des Themas Frau historisch exakt fixieren. Nimmt man andere, die soziale Wirklichkeit der Frauen betreffende Artikel hinzu (z.B. Dienstmagd, Ehe, Erziehung, Familie, Hauswirtschaft, Küche, Mädchenbildung, Nähmaschine und viele andere mehr), so läßt sich ein äußerst umfassendes und zuverlässiges Bild von der Situation der Frauen im 19. Jahrhundert gewinnen. Und so mit jedem anderen Thema auch.
Alte Universallexika sind, das wird im nächsten Abschnitt noch deutlicher, mehr als bloße Datenbanken oder Informationsspeicher in konventioneller Buchform, so wie etwa die neueste, gerade abgeschlossene Brockhaus-Auflage ein solcher Speicher ist (und darum ist es nur konsequent, daß dieser Brockhaus womöglich das letzte in Buchform erschienene Universallexikon deutscher Sprache überhaupt ist). Gleichwohl sind die alten Lexika auch Datenspeicher, nahezu unerschöpfliche Reservoirs historischer Informationen, die in neueren Nachschlagewerken nicht mehr zu finden sind. Eine Stichprobe in einem beliebigen Teil des Alphabets wird das schnell bestätigen. So ergeben sich z.B. bei einer Durchsicht aller mit Af beginnenden Lemmata folgende Vergleichswerte: Zedler[2] enthält 86 Einträge, die es in der neuesten, 19. Brockhaus-Auflage nicht mehr gibt, der Ersch/Gruber[3] immerhin noch 26; in der 4. Auflage des Brockhaus findet sich kein Eintrag, der nicht auch in der 19. nachzuschlagen wäre, die 2. Auflage des Meyer dagegen hat 11, die 1. Auflage des Pierer gar 136 Lemmata, die man im neuesten Brockhaus vergeblich sucht (abgesehen von den zahlreichen Verweisungen). Häufig sind es, vor allem im Zedler und im Pierer, reine Worterklärungen, vielfach aber Sacherklärungen zu Personen, Pflanzen, Tieren, Geographica sowie etwa von termini technici aus dem Bereich des Handwerks.
Vergleicht man zusätzlich die Inhalte der Artikel, die es sowohl in alten wie in neuen Lexika gibt, so wird die Differenz vollends offenbar. Wo im neuen Lexikon zu bestimmten Personen nur mehr fragmentarische Lebensdaten abzurufen sind, bringen ältere spaltenlange Biographien. Wo, wie etwa beim Stichwort Affektion, in der 19. Brockhaus-Auflage nur mehr die Erklärung eines antiquierten Wortes zu finden ist, beschreibt die 4. Auflage auf einer halben Seite ein bestimmtes Betragen, eine Lebensart. Die Liste ließe sich leicht fortschreiben. Auf jeder Seite eines alten Lexikons lassen sich Informationen finden, die das neue nicht mehr kennt. Wer immer historisch interessiert ist oder arbeitet, wäre schlecht beraten, diese einzigartigen, leicht zugänglichen Quellen zu ignorieren. Auch in der Auskunftspraxis der Bibliotheken sind alte Universallexika daher nach wie vor unersetzbar. Zu Recht stehen sie noch immer in den Nachschlagebeständen der Lesesäle, zu Recht ergänzen die Bibliotheken diese Bestände durch Reprints und Mikrofiche-Editionen alter Lexika, wenngleich die Recherche in diesen Reproduktionsformen gewiß kein ästhetisches Vergnügen mehr bereitet.
Vorsicht ist aber geboten! Die Nutzung alter Lexika als Datenbanken für historische Informationen darf nicht leichtsinnig ahistorisch verfahren. Sinn und Nutzen eines allgemeinen Lexikons, Funktion von Information und Informationsvermittlung waren in früheren Jahrhunderten ganz anders disponiert als heute. Es wurden nicht allein andere Informationen über die Textgattung Lexikon vermittelt, es wurden die Informationen auch auf eine andere Art und Weise vermittelt. Wer daher ein Lexikon des 18. oder 19. Jahrhunderts benutzt wie ein ganz neues, versteht nicht, es zu benutzen. Wer in alten Lexika nachschlägt, sollte die historische Form der Wissensvermittlung nicht gänzlich aus den Augen verlieren.
2. Über den Wert von Enzyklopädien und Universallexika als Quellen für die Geschichte der Wissenschaften und ihrer Vermittlung
In dieser Hinsicht sind zunächst nicht die Inhalte von Interesse, sondern ihre formale Organisation und Präsentation innerhalb der Textgattung Universallexikon, die Art und Weise ihrer Vermittlung. Aus den Gattungsbezeichnungen lassen sich bereits erste Rückschlüsse ziehen.
Encyclopaedia, eine von italienischen Humanisten im 15. Jahrhundert vorgenommene neulateinische Umschrift des griechischen enkyklios paideía (Kreis der Bildung), meint in der neuzeitlichen Wissensgeschichte eine Sammlung von innerlich verknüpften Lehrgegenständen, einen kreisartig zusammengehörenden Kanon, später in Bedeutungserweiterung ein Buch, das solches Wissen darbietet. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts haben Bücher, die sich im Titel als Enzyklopädie ausweisen, eine systematische Ordnung, ihr Aufbau und ihre Gliederung orientieren sich an einer von der Sache her gebotenen Logik. Anders seit dem 18. Jahrhundert, das weithin das "enzyklopädische Zeitalter" genannt wird, insofern hier großartige Versuche unternommen werden, das gesamte Menschheitswissen noch einmal in einen Bildungskreis zusammenzubringen. Gerade in diesem sogenannten enzyklopädischen Zeitalter aber geht der enzyklopädische Zusammenschluß des Menschheitswissens zunehmend verloren. Kein Mensch kann sich fortan mit Recht Universalgelehrter nennen und auch die Zusammenarbeit mehrerer Menschen bringt die ungeheure Vielfalt des Wissens nicht wieder in einen kohärenten Weltentwurf zusammen.
Indikator dieser Entwicklung sind ironischerweise gerade jene großen Wissenskompendien, die erstmals nicht mehr in der universalen Gelehrtensprache Latein, sondern in den Nationalsprachen verfaßt sind. Im Titel nennen sie sich häufig Enzyklopädien oder sie werden nachträglich als solche bezeichnet. Von der inneren Ordnung her aber sprengen sie den enzyklopädischen Anspruch. Diese Ordnung nämlich ist vom inhaltlichen, wissenssystematischen Blickwinkel her eine Unordnung höchsten Grades. Es ist eine lexikalische, d.h. eine an der äußeren Form des Wortes (gr. lexis = Wort) orientierte Ordnung. Die ganze Welt des Wissens ist in das formale System von 24 Buchstaben zerschlagen. Die Herausgeber und Verleger wußten warum: Keinem Menschen mehr, auch keinem Gelehrten, war eine systematische Suche fachfremder Gegenstände zuzumuten. Dazu nämlich, "muss einer schon in einer Wissenschaft bewandert seyn, wenn er eine iede Materie an seinem Orte finden will". Da gerade das angesichts des ungeheuren "Wachsthums der Künste und Wissenschaften" nicht mehr vorausgesetzt werden könne, "ist wohl ohne allen Streit die alphabetische Methode dazu die beste, daß man iede Materie ohne Mühe finden kann". So steht es zu lesen in des Philosophen Carl Günther Ludovicis Vorrede zum 19. und 20. Band des Zedler, geschrieben 1739. Innerhalb einer Sprachgemeinschaft ist fortan das Alphabet der einzige Code, der es ermöglicht, die Beantwortung von Sachfragen anhand eines von Vorwissen unabhängigen Schlüssels zu versuchen. Gleichwohl wollte und konnte Ludovici von dem enzyklopädischen Anspruch nicht lassen. In der Vorrede zum 21. Band des Zedler schreibt er: "Allein wir wollen nicht dabey stehn bleiben, daß dieses Werk nur als ein Lexicon könne gebraucht werden. Wir gedencken durch einen oder höchstens zwey Bände, die nach dem völligen Beschluß desselben geliefert werden, ihm den so höchstwichtigen Vorteil zu verschaffen, daß es auch zugleich einen wahrhafftig systematischen Zusammenbegriff oder Cörper aller Künste und Wissenschaften abgeben könne." Nur als ein Lexikon! Die lexikalisch-alphabetische Reihung erscheint zwar als notwendiges, angesichts der Materialfülle unumgängliches formales Ordnungsprinzip der universalen Wissensvermittlung, gleichwohl als ein Manko. Immerhin waren Verleger und Herausgeber 'ehrlich' genug, ihr Werk Lexikon und nicht Enzyklopädie zu nennen. Und schließlich ist es zu dem angekündigten systematischen Register nie mehr gekommen. Als das Werk 1750 mit Band 64 beim Schluß des Alphabets angekommen war, weit umfangreicher, umfassender als je geplant, da war an einen "wahrhafftig systematischen Zusammenbegriff" aller in dem Werk behandelten "Materien" vollends nicht mehr zu denken. Das bis heute größte deutsche Universallexikon indiziert hier einen epochalen Wandel in der Geschichte der Wissenschaften und ihrer Vermittlung, und es scheint, als könnte das Zeitalter mit mehr Recht ein lexikalisches (d.h. ein in inhaltlich unzusammenhängende Teile auseinanderfallendes) denn ein enzyklopädisches geheißen werden.
Das 19. Jahrhundert macht es endgültig offenbar. Noch einmal wird in Deutschland eine allgemeine wissenschaftliche Enzyklopädie in Angriff genommen, die "alle Fächer des menschlichen Wissens und Könnens vollständig umfassen" soll. Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste heißt das Werk, geläufig nach den Erstherausgebern als Ersch/Gruber zitiert. Das ehrgeizige Projekt mußte scheitern. In einem postenzyklopädischen Zeitalter konnte eine universale Enzyklopädie nur Fragment bleiben, selbst wenn sie alphabetisch organisiert war, selbst wenn mit dem Titel Enzyklopädie nur mehr der Umfang und nicht länger die innere Organisation des Wissens gemeint war. 167 Bände sind zwischen 1818 und 1889 erschienen, dann wurde das Werk, dem immer noch große Alphabetteile fehlten, abgebrochen. Mehr als ein Menschenalter ist der zuerst von dem zuletzt erschienenen Band entfernt, und das in einer Zeit, in der sich die Welt und das Wissen von ihr veränderten wie nie zuvor.
Im Bereich der Nachschlagewerke lief die Entwicklung in eine andere,
neue Richtung. Für den wissenschaftlichen Gebrauch wurden fortan
Fachlexika und fachspezifische Handbücher publiziert. Als allgemeines
Nachschlagewerk hingegen etablierte sich in Deutschland ein neuer
Typus Lexikon, das populäre, in riesigen, jeweils aktualisierten
Auflagen verbreitete Konversationslexikon, von dem schon eingangs die
Rede war. Vorläufer der bekannten Konversationslexika von Brockhaus,
Meyer und Pierer war ein kleines, erstmals 1704 erschienenes Lexikon
mit Namen Reales Staats- und Zeitungslexikon,[4] das erste
deutschsprachige Allgemeinlexikon überhaupt. Das in der Regel nach dem
Vorredner als Johann Hübners Lexikon zitierte Werk war außerordentlich
erfolgreich, in 120 Jahren erlebte es 31 Auflagen. Seit der 4., 1709
erschienenen Auflage[5] führte das kleine Werk zusätzlich den
Begriff
Conversationslexikon im Titel. In der Zweckbestimmung dieses Lexikons
- es sollte der Kurzinformation über die in der Zeitungslektüre und im
geselligen Gespräch (der sogenannten Konversation) vorkommenden
Gegenstände dienen - wird ein neues Publikum sichtbar. Nicht die
Gelehrten sind angesprochen, sondern ein sich konstituierendes
gebildetes Bürgertum, das am Tagesgeschehen Anteil nimmt und sich
darüber verständigt. Das Konversationslexikon spiegelt demnach den
durchschnittlichen Kenntnisstand der Zeit, gefiltert für die
Verwertbarkeit in der geselligen Unterhaltung. Ganz ähnlich ist noch
im frühen 19. Jahrhundert das Konversationslexikon aus dem Hause
Brockhaus disponiert. Allgemeines Interesse und populäre Darstellung
waren auch hier die Grundsätze der lexikalischen Wissensvermittlung.
Adressat war der gebildete Laie.
In dem Maße nun, in dem das Bürgertum seine wirtschaftliche,
gesellschaftliche und auch seine wissenschaftliche Stellung ausbaute,
in dem Maße, in dem die allgemeine Bildung (oder das, was dafür
gehalten wird) zunahm, gewann das Konversationslexikon an Stoff und
Umfang, bis hin zu den weit über 15.000 Seiten starken Ausgaben am
Ende des 19. Jahrhunderts. Was im 18. Jahrhundert in verschiedene
Lexikontypen auseinanderfiel, in die für die Gelehrten geschriebene
wissenschaftliche Enzyklopädie einerseits und das an ein gebildetes
Laienpublikum gerichtete Konversationslexikon andererseits, kommt in
den Konversationslexika des späten 19. Jahrhunderts zumindest vom
Anspruch her wieder zusammen. Mit ihren historischen Vorläufern haben
die letzteren nur mehr den Namen gemeinsam. Konversationslexikon ist
jetzt eine etablierte Gattungsbezeichnung geworden, die sich von ihrem
soziokulturellen Hintergrund, den bürgerlichen Gesprächszirkeln des
18. und frühen 19. Jahrhunderts, längst entfernt hat. Das späte
Konversationslexikon vereinigt den pädagogischen mit dem
wissenschaftlichen Anspruch, wobei allerdings das Verständnis von
Wissenschaft und von Wissen überhaupt sich gravierend gewandelt hat.
Die Erfolgsgeschichte gerade dieses Lexikontypus ist unverkennbar
Symptom einer veränderten Auffassung des Wissens selbst. Wissen wird
nicht mehr als fest umgrenzter und beständiger, innerlich wohl
organisierter Kanon empfunden, ein wissenssystematischer Anspruch wird
entfernt, nicht mehr erhoben. Ganz im Gegenteil: Wissen wird als etwas
Veränderliches und Fortschreitendes erfahren, und darum bedarf seine
lexikalische Darstellung der permanenten Überarbeitung. Auch die
Werbemethode, die alte Lexika zum Einstampfen in Zahlung nimmt, um ein
neues, aktuelles, mit fortgeschrittenem Wissensstand verkaufen zu
können, ist Merkmal dieser Einstellung. Undenkbar in einem Zeitalter
mit enzyklopädischem Wissensanspruch! Die Welt des Wissens ist
endgültig zersplittert, und die disparaten Teile entwickeln sich nach
eigenen Gesetzen.
Es wäre eine Forschungsaufgabe von großem Reiz solche Entwicklungen en
détail nachzuzeichnen. Zu thematisieren wäre neben dem zunehmenden
Auseinanderfallen des Wissens, der progredierenden Zerschlagung von
Zusammenhängen, die gewandelte Art und Weise, Lexikonartikel zu
verfassen. Auch dieser ganz besondere Lexikonstil ist ein wichtiger
Indikator für den jeweiligen Umgang mit Wissen und seiner Vermittlung.
Im Einzelfall, d.h. im peniblen Nachvollzug bestimmter Artikel und
Themen durch die Lexikongeschichte müßte analysiert werden, was hier
nur grob angedeutet werden kann. Lexikonartikel des 18. und auch des
frühen 19. Jahrhunderts vermitteln ihre Themen auf eine ganz andere
Weise als die späteren, jüngeren. Häufig ist noch die ganz
individuelle Sicht des Artikelschreibers erkennbar. In vielen Fällen,
vor allem in den historischen Artikeln, wird geradezu breit erzählt,
die Artikel sind voller Anschauung, sogar Anekdoten sind hier keine
Seltenheit. Schließlich werden Fakten nicht isoliert dargestellt.
Sach-, Begründungs- und sogar Bewertungszusammenhänge werden
ausgeführt und sind für den Leser nachvollziehbar, auch wenn er sie
nicht teilen mag. Ganz anders in den Lexika neueren Datums. Schon die
zunehmende Professionalisierung der Lexikonherstellung im 19.
Jahrhundert, der wirtschaftliche Zwang zur exakten Kalkulation von
Umfang und Erscheinungszeit, führen dazu, daß die Redaktionen nicht
allein die Lexikoneinträge verwalten, sondern auch strenge Vorgaben
für Umfang, Aufbau und Schreibweise machen. Die Anschaulichkeit,
Farbe, Subjektivität früherer Artikel wird einem durchaus fragwürdigen
Objektivitätsideal geopfert. Mitgeteilt wird nur mehr das, was als
unstrittig gilt, Begründungszusammenhänge gehen in der Regel verloren.
Daß die Artikel dabei zunehmend auf bloße Datenspeicher reduziert
werden, in denen auf wenig Raum die für wichtig befundenen Fakten und
Zahlen zusammengefaßt sind, das wird in Kauf genommen oder gar für
erstrebenswert gehalten. In den Lexika des 20. Jahrhunderts wird diese
Entwicklung dann noch weiter vorangetrieben. Wer keine weitergehenden
Erwartungen an das Lexikon hat, wer eben solche Daten sucht, kann mit
Gewinn nachschlagen. Die Frage allerdings bleibt berechtigt, ob diese
Art der Fragmentierung organisierten Wissens in isolierte
Informationen nicht eine unzulässige Zerschlagung komplexer
Zusammenhänge ist, eine Deformation sowohl der Sprache als auch der
besprochenen Sache.
3. Die Bedeutung der Universallexika als Dokumente der Geschichte von
Buchherstellung und Buchhandel
Bis ins 19. Jahrhundert hinein war der handwerkliche Produktionsprozeß
eines Buches im wesentlichen kein anderer als in den Jahrhunderten
zuvor, seitdem Gutenberg um 1450 den Buchdruck mit beweglichen Lettern
aus Metall erfunden hatte. Im 19. Jahrhundert dann wurde unter dem
Innovationsdruck einer drastisch steigenden Nachfrage nach gedruckten
Texten der gesamte Buchherstellungsprozeß (Papierherstellung,
Schriftguß, Schriftsatz, Buchdruck, Heftung und Einband) mechanisiert
und industrialisiert. Beim Einsatz der technischen Neuerungen in der
Buchproduktion waren die großen Lexikonverlage Brockhaus und
Bibliographisches Institut (Meyer) in Deutschland den anderen
Buchverlagen weit voraus. So waren die Brockhaus'schen bzw.
Meyer'schen Lexika z.B. die ersten auf der König'schen Schnellpresse
und später der Rotationspresse gedruckten Bücher. Und ohne die
deutlich gestiegene Druckleistung wäre der Erfolg dieser Lexika auch
gar nicht möglich gewesen. Noch nie zuvor sind Bücher in so großer
Zahl gedruckt und verkauft worden. 2000 Exemplare verkaufte Brockhaus
von der 1. Auflage seines damals sechsbändigen Lexikons, ein großer
Erfolg. Nur ein gutes Jahrzehnt später, in den Jahren 1819/20, wurde
die fünfte Auflage bereits in 32.000 Exemplaren verkauft, und die
siebzehn, jeweils über 1000 Seiten starken Bände der 14. Auflage
wurden am Ende des 19. Jahrhunderts schließlich weit über 200.000 mal
gedruckt und verkauft. Ähnlich erfolgreich war in der zweiten
Jahrhunderthälfte das Meyer'sche Konversationslexikon. Und wer
Abbildungen der Verlagshäuser beider Verlage in Leipzig sieht, der
bekommt eine vage Vorstellung von den Größenordnungen. Alle an der
Produktion eines Buches beteiligten Werkstätten (mit Ausnahme der
Papierproduktion) waren hier vereinigt, innerhalb der riesigen
Gebäudekomplexe untergebracht in großen Werkhallen, in denen Hunderte
von Menschen Beschäftigung fanden. Nirgendwo sonst in Deutschland
wurden so viele Bücher gedruckt wie in diesen beiden Firmenhäusern,
nirgendwo sonst große und kleine technische Neuerungen im gesamten
Produktionsbereich (einschließlich der technischen Herstellung und des
Druckes von ein- und mehrfarbigen Illustrationen) so schnell zur
Anwendung gebracht. Das Lexikon war, daran kann kein Zweifel bestehen,
der Hauptträger der industriellen Revolution im Bereich des
Buchdrucks.
Und ähnlich innovativ wirkte das Konversationslexikon im Bereich des
Buchhandels. Bücher mußten nicht allein in kurz vordem noch ganz
unvorstellbaren Mengen hergestellt, sie sollten auch in eben diesen
Mengen verkauft werden. Auf dem normalen Weg, d.h. über den
bestehenden Sortimentsbuchhandel, war das ganz und gar unmöglich. In
Meyers großem Conversations-Lexikon kann man in dem 1843 erschienenen
Artikel Buchhandel das Nötige dazu lesen: "In kaum 350 Städten hat
sich der Buchhandel angesiedelt, die übrigen drittehalbtausend Städte
der deutschen Bundesstaaten ... gehen leer aus. Will der Buchhandel
Bildung und Geschmack befördern, will er der Kultur und der
Geistesfreiheit neue Bahnen ebnen, ... so müssen die Grenzen des
Buchhandels erweitert werden." Geboten war der Aufbau einer ganz neuen
Vertriebsorganisation, durch die auch ein bis dahin buchhandelsfernes
Publikum erreicht und für den Kauf von Lexika interessiert werden
konnte. Vor allem Joseph Meyer sowie später sein Sohn Hermann Julius
Meyer arbeiteten unermüdlich am Auf- und Ausbau solcher
Vertriebsformen, die von Verlagen wie Brockhaus bald kopiert wurden.
Zunächst war es der Kolportage- bzw. Reisebuchhandel, den Meyer in
großem Stil organisierte. Die sogenannten Kolporteure (Vertreter)
arbeiteten zumeist im Namen und für Rechnung bestimmter Firmen.
Während sie anfangs ihre Lieferungen noch an der Haustür verkauften
(Bücherhausiererei), suchten sie später nur mehr Bestellungen auf,
d.h. sie verpflichteten Interessenten zur Subskription auf ein
Lexikon. Die Lieferung und das Inkasso übernahmen dann Boten. Der Weg
über den Kolportagehandel erklärt auch, warum der Verlag seine Lexika
nicht in Bänden, sondern in Teillieferungen auf den Markt brachte. Die
Einzellieferung brachte zwar nur einen kleinen Gewinn, sie erwies sich
aber gegenüber dem ganzen Band bzw. dem Gesamtwerk als der
erfolgreichere "Türdrücker", wie es im Fachjargon heißt. Zudem führte
sie zu einem schnelleren Rückfluß der investierten Gelder, bei
kapitalintensiven Werken wie Universallexika kein geringzuschätzendes
Argument. Wer gleichwohl ganze Bände erwerben wollte, konnte auch das
über den Reisebuchhandel tun. Sehr förderlich für dieses Geschäft war
das Aufkommen des serienmäßig gefertigten festen Verlagseinbandes in
den 1850er Jahren. Der Verkauf ganzer Bände oder sogar des
Gesamtwerkes wurde dem Reisebuchhändler außerdem dadurch erleichtert,
daß er vom Bibliographischen Institut (als einem der ersten Verlage
überhaupt) ermächtigt war, Lexika gegen Ratenzahlung zu verkaufen.
Als andere neue Vertriebsform etablierte sich in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts der Versandbuchhandel. Voraussetzung hierfür war
die Verdichtung des Eisenbahnnetzes, was zur rapiden Senkung der
Warentransportkosten bei gleichzeitig beschleunigter Beförderung
führte. Die niedrigen Portokosten, auch für Drucksachen und Briefe,
machten es lohnend, Interessenten in buchhandelsfernen Gegenden
anzuschreiben, Bücher per Post zu offerieren und zu liefern. Die
Schreibkräfte des Meyer'schen Verlages hatten Adreßbücher zu
exzerpieren und riesige Adreßkarteien aufzubauen, geordnet nach
verschiedenen Käuferschichten. Mit Hunderttausenden von Werbeschreiben
und Prospekten wurde dann für eine neue Lexikonauflage geworden.
Daneben schaltete der Verlag Anzeigenserien in regionalen und
überegionalen Zeitungen und überschwemmte das Land mit Plakaten. Die
Konkurrenz staunte angesichts solch groß angelegter Werbekampagnen, es
schien ganz unbegreiflich, welch riesige Summen Geldes der Verlag
Bibliographisches Institut in die Werbung investierte. Der Erfolg hat
ihm recht gegeben.
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