Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 9(2001) 2
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Einführung in die Landeskunde Frankreichs


01-2-502
Einführung in die Landeskunde Frankreichs : Wirtschaft, Gesellschaft, Staat, Kultur, Mentalitäten / Hans-Jürgen Lüsebrink. - Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2000. - VI, 202 S. : Kt. ; 19 cm. - (Sammlung Metzler ; 315). - ISBN 3-476-10315-3 : DM 26.80
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Der Autor legt mit seiner bereits für April 1999 angekündigten, aber erst im Oktober 2000 erschienenen Einführung, die "aus der Praxis des universitären Landeskundeunterrichts sowie aus einer ganzen Reihe von Lehrerfortbildungstagungen erwachsen ist" (S. 3 - 4), sowohl umfassende als auch kompakte Informationen zum europäischen und außereuropäischen Territorium, zur Bevölkerung, zu wirtschaftlichen, politischen sowie sozialen Aspekten, aber auch zur Medien- und Kulturlandschaft Frankreichs vor.

Im Hinblick auf das gewachsene Interesse an Landeskunde und Kulturwissenschaft in der Schule sowie im Rahmen des Romanistikstudiums an der Hochschule verfügt diese Einführung über ein besonderes didaktisch-methodisches Konzept: Die Grundkonzeption ist an der interdisziplinär ausgerichteten geschichtswissenschaftlichen Forschungsrichtung der französischen Annales-Schule orientiert (S. 4): Alle Dimensionen der Lebenswelt sollten erforscht werden, um strukturelle Entwicklungen in den Bereichen Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, Kultur und Mentalitäten aufzeigen zu können. Es geht in dieser Landeskunde also nicht darum, breites Faktenwissen vorzuführen, das sich jeder Interessierte mit Hilfe einschlägiger Lexika und Nachschlagewerke erarbeiten kann. In Studien zum Bereich der Landeskunde wird häufig die historische Dimension, ohne die allerdings aktuelle Entwicklungen in Frankreich kaum nachvollzogen werden können, vernachlässigt. In diesem Buch hingegen spielen Aktualität und Geschichtlichkeit (S. 5) eine zentrale Rolle.

Da ein umfassendes Frankreichbild auch auf Aspekte wie Massenkultur und aktuelle audiovisuelle Medien rekurrieren muß, widmet der Autor dem Thema Kultur und Medien vergleichbar viel Raum, etwa den Aspekten Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Strukturelle Entwicklungen in einer Gesellschaft basieren auf kollektiven Wahrnehmungs- und Handlungsmustern, die sich aus den Faktoren Bildung, Sozialisation und religiöse Traditionen ergeben. Diesem Zusammenhang wird in jedem Einzelkapitel Rechnung getragen.

Motivation bei der Beschäftigung mit gleich welchem Thema wird dann erreicht, wenn an die Erfahrungswelt des Lesers (des Schülers, des Studierenden) angeknüpft wird, damit er eigene Positionen reflektieren und evtl. neue Standpunkte beziehen kann. Der komparatistische Ansatz, nämlich ein Vergleich der Grundcharakteristika der französischen Gesellschaft mit denen anderer westlicher Industriegesellschaften (S. 5), ist aus didaktisch-methodischer Sicht positiv hervorzuheben.

Im folgenden sollen einzelne - nicht nur für Studierende und Lehrende - interessante und wichtige, möglicherweise überraschende Informationen über Frankreich in Auswahl zusammengestellt werden, die zur Beschäftigung mit dieser Einführung einladen. Die derzeitige territoriale Gestalt und Ausdehnung Frankreichs - "l'Hexagone" - war im wesentlichen im 17. Jahrhundert erreicht. Diese scheinbare Geschlossenheit weist Heterogenitäten auf, z.B. die übermächtige Position der Hauptstadt: vier Fünftel der französischen Forscher und Wissenschaftler sowie 40 % der Studierenden leben in Paris, drei Viertel aller Großunternehmen haben ihren Sitz in der Hauptstadt - die 100 größten deutschen Unternehmen verteilen sich auf 44 Städte, in Hamburg haben zwölf, in Stuttgart oder München z.B. haben nur je fünf ihren Sitz (S. 9 - 10). Leser erfahren außerdem, daß Frankreich die viertgrößte Wirtschafts- und Industriemacht der Erde ist. Deutschland importierte 1994 Waren im Wert von 67,7 Milliarden DM - allerdings weder Kosmetik, noch Käse oder gar Rotwein, sondern Autos, Flugzeuge, Elektrotechnik, Chemieartikelerzeugnisse und Eisenwaren (S. 25).

Zur Rolle der Frau in Frankreich im Vergleich zum Nachbarland Deutschland führt der Autor aus, daß verheiratete Französinnen sehr viel früher, etwa um 1900, und in größerem Maße als deutsche Frauen berufstätig waren, auch während der Elternphase. Sie rückten in Führungspositionen in Industrie, Verwaltung, Forschung und an Hochschulen auf, "während in Preußen Frauen erst 1908 überhaupt zum Studium zugelassen wurden [...]. An französischen Universitäten waren zu dieser Zeit bereits über 1000 Studentinnen eingeschrieben" (S. 60 - 61). Selbst um 1980 (!) wird Frauenarbeit in Frankreich eher als normal eingeschätzt als in der Bundesrepublik.

Die französische Bereitschaft zu verschiedenen Formen des sozialen Protests ist - wenn auch rückläufig in den letzten Jahren - massiver als die deutsche: Franzosen streiken, demonstrieren und besetzen Häuser sowie Fabriken sehr viel häufiger (S. 72). 1990 stehen neun französische wilde Streiks nur zwei deutschen gegenüber.

Auch die folgende interessante Tatsache mag den Leser überraschen: Die wichtige Bedeutung des Literarischen in der französischen Gesellschaft wird auch durch die überdurchschnittlich hohe Präsenz von Schriftstellern u.a. auf Straßenschildern deutlich. "Unter den 25 am häufigsten auf französischen Straßenschildern präsenten Namen befinden sich nicht weniger als neun nationale Schriftsteller, die somit alle anderen 'Berufsgruppen' [...] deutlich hinter sich lassen" (S. 168).

Der Strukturzusammenhang der hier kurz angerissenen Fakten innerhalb der französischen Geschichte, Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur ist durch die oben erwähnte didaktische Bearbeitung dieser Landeskunde leicht zu erschließen. Der Leser wird am Ende der Lektüre und durch Reflexion über neu erworbenes Landeskundewissen möglicherweise über ein neugeordnetes bzw. strukturiertes Frankreichbild verfügen.

Zur weiteren, selbständigen Beschäftigung mit dem Nachbarland ist die nach Sachgebieten geordnete Bibliographie (S. 180 - 193) sehr hilfreich, eine schnelle Orientierung in diesem Buch wird durch das Sach-(S. 194 - 199) und das Personenregister (S. 200 - 202) erreicht. Die auffallend geringe Zahl an Statistiken und Tabellen, die durch Einbinden der wichtigsten Daten, Zahlen und Fakten in den Text sehr gut kompensiert wird, ermöglicht eine angenehme und - wie oben ausgeführt - spannende Lektüre. Lüsebrinks Einführung in die Landeskunde Frankreichs ist nicht zuletzt deshalb für Frankreichinteressierte sehr zu empfehlen.

Sylvia Thiele


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