Der Leser erfährt nichtdestoweniger, was das Lexikon unter 'Symbol'
versteht - eine Gruppe von Zeichen, "die einen Gegensatz enthalten und
den in einer überzeugenden Lösung zu einer Ganzheit vereinen ... Durch
diese Vereinigung der Pole transzendiert die Bedeutung. Allein solche
'unendlich' bedeutungsvollen Zeichen sollten es wert sein, Symbol
genannt zu werden" (S. 5 - 6). Dieser Beschreibung wird man zustimmen
können; aber nicht in allen Artikeln unseres Lexikons läßt sie sich
wiederfinden. Ob Kräuterfrau, Rübezahl oder Teufelsspiegel
("...bewirkt, daß alles, was nichts taugt, vergrößert wird, was aber
gut und schön ist, verschwindet": nach Verena Kast) im Sinne unseres
Lexikons tatsächlich durch die zur Ganzheit vereinte Polarisierung zum
Symbol werden, kann man auf sich beruhen lassen oder muß es dem Autor
glauben, denn der weiß: "Märchen beschreiben die seelische Realität
der Schöpfung und die ist Symbol an sich" (S. 6).[2] Auf dieser
Grundlage enthält das Lexikon auf 125 Seiten 239 knappe Artikel von
Acht bis Zwölf, dazu 64 Verweisungen vom Typ Ahnfrau > Hexe. Unter
stetem Hinweis auf die herangezogene Literatur werden Personal,
Inventar und Attribute des Märchens gedeutet. Elf Lemmata werden als
Fachbegriffe gekennzeichnet, "die allgemeine Erscheinungsformen
subsummieren" (S. 9). Es handelt sich um formale Bezeichnungen wie
Einleitungs- und Schlußphrase, Benennungen wie Rätselprinzessin,
Tierbräutigam und Trickster und zusammenfassende Termini wie
Rätselwettkampf und Suchwanderung; aber auch die wenig bekannte
Bezeichnung Klappfelsen für "eine Felswand, die sich öffnet, um dem
Märchenhelden Einlaß in die jenseitige Welt im 'Bauch des Berges' zu
gewähren", wird als besonderer Terminus herausgehoben (S. 67).
Die Texte wurden in erster Linie Werken der psychoanalytischen
Märchendeutung entnommen (Hedwig von Beit, Verena Kast, Bruno
Bettelheim). Sie sollen, wie Bonin meint, die Vokabeln abgeben, die
die Märchengrammatik und -syntax Max Lüthis[3] ergänzen können (S. 9).
Insgesamt umfaßt das Literaturverzeichnis 21 deutschsprachige Titel
aus den letzten Jahren, überwiegend Literatur aus den Bereichen
Tiefenpsychologie und Lebenshilfe. Die philologische Märchenforschung
ist - neben Lüthi - mit Bolte-Polívkas Anmerkungen zu den Kinder- und
Hausmärchen der Brüder Grimm (1913 - 1932), dem von Lutz Mackensen
herausgegebenen, Torso gebliebenen Handwörterbuch des deutschen
Märchens (1930 - 1940) und Walter Scherfs Märchen-Lexikon[4] vertreten;
daß Bonin die Enzyklopädie des Märchens, den seit 1977 erscheinenden
übergreifenden Nachfolger des veralteten Wörterbuchs von Mackensen,
nicht benutzt hat, ist unverständlich, mag aber seine Erklärung darin
finden, daß dem Autor die philologische Märchenforschung offenbar
unsympathisch ist: "Unter Märchenforschern ist die Deutung von Märchen
und ihren Symbolen ungeliebt. Viel positivistischer Fleiß wird
hingegen aufgewendet, um Märchen zu sammeln, zu katalogisieren, zu
typisieren und die Stammbäume ihrer Varianten zu dokumentieren" (S.
6); oder noch deutlicher: "Die Märchenkatalogisierer sind bloß eitel,
wenn sie über vergaloppierte Interpretationen der Seelenforscher
spotten, denn Stammbäume und Typenkataloge erschließen den Geist der
Märchen nicht besser" (S. 7). Die Aversion mancher Tiefenpsychologen
gegen den katalogisierenden positivistischen Pedanten, dem man im
Höchstfalle seinen - leider ganz nutzlosen - Fleiß positiv anrechnet,
ist so alt wie die Entdeckung des Märchens für therapeutische Zwecke.
Die Volkserzählungsforschung ihrerseits verkraftet es nur schwer, wenn
die von ihr erarbeiteten Abgrenzungen zwischen Mythen, Märchen und
Sagen ignoriert und die Phänomene zugunsten ebendieser Zwecke wieder
durcheinandergewirbelt werden (z.B. Stichwort Adler und Auge); wenn
die in eminenter Fülle vorliegenden Märchentexte auf nur diejenigen
reduziert werden, die das vorgelegte Konzept mittragen können (z.B.
Stichwort Bett); wenn historische Bezüge nicht gesehen werden und
deshalb ein Allgemeines gesetzt wird, wo der Hinweis auf spezielle
Situationen und Abhängigkeiten angebracht wäre (z.B. Stichwort
Bettler). Unser Autor entnimmt seinen Quellen ungeprüft zudem die
abenteuerlichsten Etymologien. Ein Beispiel mag genügen: Der Artikel
Fee zitiert eines der Quellenwerke[5] mit der Behauptung, "das ältere
Fei wirkt auch im Wort ®feiern¯ nach, denn ®Feen erscheinen oft in der
Dreizahl an den drei wichtigsten Stationen und Festen des Lebens.¯"[6]
Mit Hilfe des anlautenden fei... hier eine etymologische Verbindung
konstruieren zu wollen, deutet auf fehlende Sprachkenntnis.[7] Daß Feen
in der Dreizahl auftreten können (wenngleich nicht eben häufiger als
zu siebt oder zu zwölft), bleibt unbestritten, läßt sich aber weder
mit falscher noch mit richtiger Etymologie begründen. Etymologische
Irrungen ähnlicher Art finden sich z.B. auch in den Artikeln König/in
und Hexe. Philologische Pedanten sind nicht unbedingt eitler, gewiß
aber bescheidener als psychologische Generalisten; sie hängen keinen,
sie hätten ihn denn.[8] Den Geist der Märchen allgemein zu erschließen,
scheint ihnen mit den Mitteln und Methoden ihrer Zunft kaum machbar;
wohl aber den Geist einzelner Märchen, wenn die Überlieferung, die
geschichtliche und die gesellschaftliche Situation sowie die
Erzählsituation sich haben klären lassen. Was dabei herauskommen kann,
mag für den Seelenforscher wiederum nicht anwendbar sein, während es
dem Volkskundler keineswegs gleichgültig ist, welche
Assoziationsbereiche der Psychologe den Motiven, Dingen und Gestalten
des Märchens zuordnet - mag das Ergebnis nun als Symbol oder Zeichen
oder unter der Überschrift Bedeutungstiefe wie hier interpretiert
werden.
Willi Höfig
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