Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 9(2001) 2
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Das neue Lexikon des Aberglaubens


01-2-393
Das neue Lexikon des Aberglaubens / Walter Gerlach. - Ungekürzte Taschenbuchausg. - München [u.a.] : Piper, 2000. - 284 S. : Ill., 19 cm. - (Serie Piper ; 2796). - ISBN 3-492-22796-1 : DM 16.90
[6375]

Walter Gerlach, Jahrgang 1943, schreibt für die Massenmedien. Er hat Bücher, Aufsätze, Drehbücher für das Fernsehen und Hörspiele verfaßt und Volkskundliches in dem vor zwei Jahren erschienenen Band Narrenzeit aufgegriffen.[1] Das jetzt als Taschenbuch vorgelegte neue Lexikon des Aberglaubens erschien zuerst 1998 als Hardcover-Ausgabe.[2] Der Band enthält ein Vorwort (6 S.), eine Bibliographie (4 S.), ein Register (9 S., 795 Eintragungen) und (hoffentlich richtig gezählt) 212 Artikel, davon 41 mit Illustrationen.

Der Autor weist im Vorwort darauf hin, daß das Lexikon nicht von einem Volkskundler, Theologen oder Psychologen geschrieben worden sei, "sondern von einem Autor und Journalisten, dessen Hauptantrieb die Neugier war auf diese Welt voller hanebüchener, spannender und erstaunlicher Vorgänge," und: "Aberglaube kann dumm machen und dumm halten, diskriminieren und zu krankmachenden Obsessionen führen; er kann ... auch eine Quelle des Trostes sein oder ein Spiel ohne tiefere Bedeutung oder einfach farbiger Lesestoff" (S. 9 - 10). Er hat damit in der Tat den Nagel auf den Kopf getroffen: Für die Beschäftigung mit dem Aberglauben in der Postmoderne ist die Beliebigkeit des Materials und seine funktionale Vieldeutigkeit kennzeichnend. Die von Gerlach genannten Aspekte sollten ehrlicherweise allerdings um einen weiteren bereichert werden: "Unvermeidlicherweise ist das Kokettieren mit dem Aberglauben zum lohnenden Geschäft geworden. Nie zuvor war die Nachfrage nach Wahrsagekarten, Kristallkugeln und Ouija-Brettern, die gleichermaßen den Blick in die Zukunft erleichtern sollten, so groß," läßt sich schon Anfang der siebziger Jahre die Tagespresse vernehmen,[3] die unserem Lexikon bei Erscheinen der Hardcover-Ausgabe Seriosität attestiert und schreibt, es sei "für manche Wortbedeutung oder unbewußte Gestik sehr aufschlußreich ... Auch aktueller Aberglauben wird erörtert - zum Beispiel unter Presley-Kult oder Neo-Nazis."[4]

Und gewiß gehört der Band innerhalb der Okkultschwemme zu den ernsthafteren Produkten, wie ein Blick in das als Auswahl gekennzeichnete Literaturverzeichnis zeigt. Es enthält knapp hundert ausschließlich deutschsprachige Titel, davon über die Hälfte aus den letzten beiden Jahrzehnten. Die kleinere Hälfte der herangezogenen Literatur stammt überwiegend aus der Zeit vor 1914 und umfaßt volkskundliche Materialsammlungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Das inhaltliche Spektrum ist breit; nebeneinander stehen zahlreiche regionale Volkskunden, Parapsychologisches, ein Lexikon der Symbole, populäre Leichtgewichte aus Esoterik und Okkultismus, denen dann unvermutet Entspannt in die Barbarei von Jutta Dithfurth (1996) folgt. Gerlach hat offenbar auch ausgesprochene Preziosen ausgewertet wie beispielsweise Aus der volksmäßigen Überlieferung der Heimat von Amand Baumgarten, (Linz 1862 - 1869), im KVK nicht nachgewiesen und in Hans-Jörg Uthers Katalog der Volkserzählung[5] nur ohne Ort und Jahr als Kleinschrift von 100 Seiten im Besitze der Seminarbibliothek des Instituts für Volkskunde in Freiburg im Breisgau verzeichnet. Doch fehlen die volkskundlichen Grundlagenwerke zum Thema keineswegs. Das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (HdA) ist benutzt, aber durchaus nicht einfach abgeschrieben worden; die Natursagen Oskar Dähnhardts (1907), die Geschichte der Magie von Christoph Daxelmüller (1996), die Vergleichende Volksmedizin von Oskar v. Hovorka und A. Kronfeld (1908 - 1909) werden genannt, schließlich von Jacob Grimm die Deutsche Mythologie sowie die Deutschen Sagen beider Brüder und das Grimmsche Wörterbuch.

Unser Autor geht bei der Definition von Aberglaube auf Eduard Hoffmann-Krayer zurück: "Aberglaube ist der Glaube an die Wirkung und Wahrnehmung naturgesetzlich unerklärter Kräfte, soweit diese nicht in der Religionslehre selbst begründet sind."[6] Das hier kursiv gesetzte selbst fehlt bei Gerlach. Die kleine Auslassung scheint Absicht: Bei Hoffmann-Krayer verweist die Einschränkung auf die seinerzeit intensiv geführte terminologische Diskussion über Volksglaube und Aberglaube; Gerlach zitiert in diesem Zusammenhang hingegen zustimmend den Theologen Friedrich Wilhelm Haack: "Als Aberglaube bezeichnet nicht selten der Anhänger des einen Glaubens die Glaubensvorstellungen eines Andersgläubigen" (S. 12). Damit wird auch die "Religionslehre" der Beliebigkeit unterworfen. Das Lexikon spiegelt mit dieser Auffassung die aktuelle Veränderung der Stellung des Aberglaubens im geistigen Haushalt auch des Gebildeten. Doch nicht die Volkskunde, sondern die Theologie hat die Entwicklung auf den Punkt gebracht. So berichtet Reinhard Hempelmann über "neue Religiosität"[7] und führt aus: "Ohne Übertreibung kann gesagt werden, daß dabei das, was im Zuge neuzeitlicher Aufklärung als Magie oder Aberglaube bezeichnet wurde, eine neue Renaissance erfahren hat. Mit dem Schwinden eines bewußt gestalteten Glaubens breiten sich offensichtlich nicht nur Indifferenz und religiöse Gleichgültigkeit aus, sondern auch eine archaische Religiosität, die keine Scheu kennt vor Astrologie, Okkultismus und Spiritismus und die offen ist für die Aufnahme von Traditionen, Weltanschauungen und religiösen Praktiken und Ritualen aus unterschiedlichen Regionen." Erscheinungen des Aberglaubens, für den Volkskundler in der Regel brauchtümlich verankert oder zur Erklärung sprachlicher Phänomene, etwa von Sprichwort und Sage herangezogen, werden nunmehr frei flottierend wahrgenommen und lassen sich zunächst nicht wieder festnageln. Wolf Krötke beschreibt die "Phänomene von Ersatzreligiosität, die sich in der irrationalen Hingabe an Trends und Personen der Unterhaltungsindustrie, des Sports und ganz verschiedener Jugendkulturen äußern", und sieht in ihnen die "Schattenseiten von Religion im allgemeinen, nämlich ihrer Sanktionierung von Aberglauben."[8]

Für unser Lexikon bedeutet diese Situation die Ausweitung des Materialkanons ins Unermeßliche und das Wegfallen sachlicher Unterscheidungskriterien, das heißt die Unmöglichkeit eines anderen als des formalen Ordnungsprinzips, und es handelt sich ja auch um ein Wörterbuch mit alphabetischer Ordnung. Wo es sinnvoll scheint, nutzt Gerlach dennoch sachliche Gliederungen, z.B. in den Artikeln Wochentage und Omen, gute und schlechte. Wenn die Ordnung durch die geschilderte Schwierigkeit also auch kaum tangiert wird, so gilt das nicht für die Auswahl der Stichwörter - und nicht für das, was an Materialien unter dem einzelnen Lemma versammelt wird. Beispiele mögen die inhaltliche Spannweite andeuten, sie lassen sich vielfach ergänzen. Einerseits finden sich konventionelle Stichworte: Abwehrzauber, Bäume, Beruf, Dreizehn, Edelsteine, Hexen, Horoskop, Omen, Volksmedizin, Wahrsagen, Wochentage. Sodann Begriffe aus dem Erzählgut: Fliegender Holländer, Frau Holle. Aus dem Okkultismus: Channeling, Geister, Ufos. Aus der Jugend- und Undergrundkultur: Neonazis, Presley-Kult, Rockmusik. Aus der Technik: Auto, Computer. Außereuropäisches: Dschinn, Yeti. Schließlich Stichwörter für sehr spezielle Sachverhalte, deren Aufnahme eher im Hinblick auf ihre Kuriosität erfolgt zu sein scheint: Sündenesser, Knabenwunsch.

Einige Artikel seien beispielhaft herausgegriffen. Das Lexikon beginnt mit dem Stichwort Aal (etwa eine Druckseite), die wenig aussagekräftige Illustration (ohne Quellenangabe) gibt eine Zeichnung davon. Berichtet wird, daß das Tier im Altertum "ein Rätsel und Gegenstand abergläubischer Spekulationen und Mythen" gewesen sei. Über diese Mythen erfährt der Leser allerdings nichts. Der Rest der Darstellung behandelt das Laichverhalten des Aals, der Artikel endet mit Fragen wie "Warum ist es noch nicht gelungen, einen laichenden Aal im Atlantik zu fangen?" u.ä. Thema ist die naturwissenschaftliche Kuriosität, von Aberglaube ist nicht die Rede (S. 11). Das Register im HdA weist für Aal einen Hauptartikel und neun weitere Fundstellen nach, das von der Konzeption und vom Umfang her dem Gerlachschen entsprechende Lexikon des Aberglaubens von Helmut Hiller verzichtet auf das Stichwort.[9] Auto: Wiederum etwa eine Druckseite, die Illustration zeigt (ebenfalls ohne Quellenangabe) Sankt Christophorus. Erwähnt werden: Kosenamen für Autos und Talisman und Christophorusmedaille im Autoinnenraum;[10] "irrationales Vertrauen in das favorisierte Modell"; außerdem (unter Berufung auf ein nicht näher bezeichnetes englisches "Handbuch der okkulten Wissenschaften") Hinweise auf die Vorbedeutung von Autopannen; sowie die abergläubische Nutzung alter CDs gegen Radarfallen (nach einem Aufsatz im Stern).[11] Computer: Der sechszeilige Artikel enthält lediglich ein Zitat aus Meyers enzyklopädischem Lexikon von 1971, in dem für die Naturwissenschaften allgemein "das unreflektierte Vertrauen in unbegrenzte Möglichkeiten" postuliert wird (S. 65). Das ist enttäuschend. Man hätte unter diesem Stichwort Hinweise auf abergläubische Vorstellungen zum Thema Computerviren (etwa die Zerstörung von Hardware) oder die Übertragung von Kettenbriefen auf das Medium E-Mail erwartet. Die bereits für das Auto bemerkte Personalisierung der Maschine hat im Verhältnis von Mensch und PC wesentlich deutlichere Formen angenommen, die eine Untersuchung wert wären. Ein Desiderat wäre auch die volkskundliche Erforschung der in manchen Newsgroups des Usenet verbreiteten Vorstellungen, über die wir noch wenig wissen. Hinzu kommen abergläubische Inhalte, für die das Netz lediglich das Transportmittel darstellt, von der Sammlung selbsterlebter Geistergeschichten bis zu nur gegen Passwort zugänglichen Satanismus-Websites, Hexentreffs, Ufo- und Okkult-Chatrooms. Weitere Beispiele sind wohl nicht erforderlich.

Der Stoff unseres Lexikons entstammt dem Fundus der volkskundlichen Literatur, zum Teil auch bereits vorliegenden Lexika, von denen einiges im Buchhandel noch greifbar ist. Dieses Material wird um neuere Formen des Aberglaubens ergänzt. Gerlach greift dabei offenbar auf eigene Ausschnittsammlungen zurück, hat aber nicht immer nachrecherchiert oder den Zusammenhang mit älteren Formen hergestellt. Der Fachmann wird dem Band kaum Neues entnehmen können; wer es genauer wissen will, kommt wegen der fehlenden Zuordnung der Quellen zu den einzelnen Artikeln nur mühsam oder gar nicht weiter. Die Illustrationen haben überwiegend bloßen Kuriositätenwert, ihre Quellenangaben sind oft unzureichend. Für Lehre und Forschung entbehrlich.

Willi Höfig


[1]
Narrenzeit : Geschichten und Bilder von argen Schelmen, seltsamen Käuzen und buntscheckigem Volk / hrsg. von Walter Gerlach. - Frankfurt am Main : Insel-Verlag, 1999. - (Insel-Taschenbuch ; 2274). (zurück)
[2]
Frankfurt am Main, 1998. Die Originalausgabe ist lt. KNÖ (März 2001) noch lieferbar: ISBN 3-8218-0469-6 : DM 39.90.
Das Markenzeichen des Eichborn-Verlags, die Fliege, befindet sich als im übrigen keineswegs verständnisfördernde Illustration auf S. 92. (zurück)
[3]
Das Kokettieren mit dem Aberglauben / A. O. Yorck. // In: Der Tagesspiegel. - Berlin. - 1970-07-26. (zurück)
[4]
Lesereisen durch Mythenwelten / Ulrich Karger. // In: Der Tagesspiegel. - Berlin. - 1998-05-23. (zurück)
[5]
Katalog der Volkserzählung : Spezialbestände des Seminars für Volkskunde und der Enzyklopädie des Märchens, Göttingen, des Instituts für europäische Ethnologie, Marburg, und des Instituts für Volkskunde, Freiburg im Breisgau / zsgest. von Hans-Jörg Uther unter Mitarbeit von Elisabeth Fritzsching ... - München [u.a.] : Saur, 1987. - Bd. 1 - 2. (zurück)
[6]
Im Artikel Aberglaube (S. 12) zitiert nach Eduard Hoffmann-Krayers Artikel Aberglaube in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 1 (1927), Sp. 66. (zurück)
[7] Heilung durch den Geist als Thema neuer Religiosität / Reinhard Hempelmann. // In: Materialdienst / Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen. - 62 (1999),3, S. 66. (zurück)
[8]
Religion und Weltanschauung im postsozialistischen Kontext / Wolf Krötke. // In: Materialdienst / Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen. - 63 (2000),11, S. 383. (zurück)
[9]
Lexikon des Aberglaubens / Helmut Hiller. - München : Süddeutscher Verlag, 1986. - 319 S. (zurück)
[10]
Beides nach Hiller, Art. Autofahrer, S. 19. (zurück)
[11]
Die Angaben aus dem "englischen Handbuch" gehen auf das HdA zurück: Artikel Automobil von Hans Bächtold-Stäubli (Bd. 1 Sp. 739 - 740), der sich auf den Jg. 1927 der Basler Nationalzeitung bezog, die ihrerseits das mysteriöse englische Quellenwerk nicht näher bezeichnet hatte. (zurück)

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