Der Autor weist im Vorwort darauf hin, daß das Lexikon nicht von einem
Volkskundler, Theologen oder Psychologen geschrieben worden sei,
"sondern von einem Autor und Journalisten, dessen Hauptantrieb die
Neugier war auf diese Welt voller hanebüchener, spannender und
erstaunlicher Vorgänge," und: "Aberglaube kann dumm machen und dumm
halten, diskriminieren und zu krankmachenden Obsessionen führen; er
kann ... auch eine Quelle des Trostes sein oder ein Spiel ohne tiefere
Bedeutung oder einfach farbiger Lesestoff" (S. 9 - 10). Er hat damit
in der Tat den Nagel auf den Kopf getroffen: Für die Beschäftigung mit
dem Aberglauben in der Postmoderne ist die Beliebigkeit des Materials
und seine funktionale Vieldeutigkeit kennzeichnend. Die von Gerlach
genannten Aspekte sollten ehrlicherweise allerdings um einen weiteren
bereichert werden: "Unvermeidlicherweise ist das Kokettieren mit dem
Aberglauben zum lohnenden Geschäft geworden. Nie zuvor war die
Nachfrage nach Wahrsagekarten, Kristallkugeln und Ouija-Brettern, die
gleichermaßen den Blick in die Zukunft erleichtern sollten, so groß,"
läßt sich schon Anfang der siebziger Jahre die Tagespresse vernehmen,[3]
die unserem Lexikon bei Erscheinen der Hardcover-Ausgabe Seriosität
attestiert und schreibt, es sei "für manche Wortbedeutung oder
unbewußte Gestik sehr aufschlußreich ... Auch aktueller Aberglauben
wird erörtert - zum Beispiel unter Presley-Kult oder Neo-Nazis."[4]
Und gewiß gehört der Band innerhalb der Okkultschwemme zu den
ernsthafteren Produkten, wie ein Blick in das als Auswahl
gekennzeichnete Literaturverzeichnis zeigt. Es enthält knapp hundert
ausschließlich deutschsprachige Titel, davon über die Hälfte aus den
letzten beiden Jahrzehnten. Die kleinere Hälfte der herangezogenen
Literatur stammt überwiegend aus der Zeit vor 1914 und umfaßt
volkskundliche Materialsammlungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
Das inhaltliche Spektrum ist breit; nebeneinander stehen zahlreiche
regionale Volkskunden, Parapsychologisches, ein Lexikon der Symbole,
populäre Leichtgewichte aus Esoterik und Okkultismus, denen dann
unvermutet Entspannt in die Barbarei von Jutta Dithfurth (1996) folgt.
Gerlach hat offenbar auch ausgesprochene Preziosen ausgewertet wie
beispielsweise Aus der volksmäßigen Überlieferung der Heimat von Amand
Baumgarten, (Linz 1862 - 1869), im KVK nicht nachgewiesen und in
Hans-Jörg Uthers Katalog der Volkserzählung[5] nur ohne Ort und Jahr als
Kleinschrift von 100 Seiten im Besitze der Seminarbibliothek des
Instituts für Volkskunde in Freiburg im Breisgau verzeichnet. Doch
fehlen die volkskundlichen Grundlagenwerke zum Thema keineswegs. Das
Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (HdA) ist benutzt, aber
durchaus nicht einfach abgeschrieben worden; die Natursagen Oskar
Dähnhardts (1907), die Geschichte der Magie von Christoph Daxelmüller
(1996), die Vergleichende Volksmedizin von Oskar v. Hovorka und A.
Kronfeld (1908 - 1909) werden genannt, schließlich von Jacob Grimm die
Deutsche Mythologie sowie die Deutschen Sagen beider Brüder und das
Grimmsche Wörterbuch.
Unser Autor geht bei der Definition von Aberglaube auf Eduard
Hoffmann-Krayer zurück: "Aberglaube ist der Glaube an die Wirkung und
Wahrnehmung naturgesetzlich unerklärter Kräfte, soweit diese nicht in
der Religionslehre selbst begründet sind."[6] Das hier kursiv gesetzte
selbst fehlt bei Gerlach. Die kleine Auslassung scheint Absicht: Bei
Hoffmann-Krayer verweist die Einschränkung auf die seinerzeit intensiv
geführte terminologische Diskussion über Volksglaube und Aberglaube;
Gerlach zitiert in diesem Zusammenhang hingegen zustimmend den
Theologen Friedrich Wilhelm Haack: "Als Aberglaube bezeichnet nicht
selten der Anhänger des einen Glaubens die Glaubensvorstellungen eines
Andersgläubigen" (S. 12). Damit wird auch die "Religionslehre" der
Beliebigkeit unterworfen. Das Lexikon spiegelt mit dieser Auffassung
die aktuelle Veränderung der Stellung des Aberglaubens im geistigen
Haushalt auch des Gebildeten. Doch nicht die Volkskunde, sondern die
Theologie hat die Entwicklung auf den Punkt gebracht. So berichtet
Reinhard Hempelmann über "neue Religiosität"[7] und führt aus: "Ohne
Übertreibung kann gesagt werden, daß dabei das, was im Zuge
neuzeitlicher Aufklärung als Magie oder Aberglaube bezeichnet wurde,
eine neue Renaissance erfahren hat. Mit dem Schwinden eines bewußt
gestalteten Glaubens breiten sich offensichtlich nicht nur Indifferenz
und religiöse Gleichgültigkeit aus, sondern auch eine archaische
Religiosität, die keine Scheu kennt vor Astrologie, Okkultismus und
Spiritismus und die offen ist für die Aufnahme von Traditionen,
Weltanschauungen und religiösen Praktiken und Ritualen aus
unterschiedlichen Regionen." Erscheinungen des Aberglaubens, für den
Volkskundler in der Regel brauchtümlich verankert oder zur Erklärung
sprachlicher Phänomene, etwa von Sprichwort und Sage herangezogen,
werden nunmehr frei flottierend wahrgenommen und lassen sich zunächst
nicht wieder festnageln. Wolf Krötke beschreibt die "Phänomene von
Ersatzreligiosität, die sich in der irrationalen Hingabe an Trends und
Personen der Unterhaltungsindustrie, des Sports und ganz verschiedener
Jugendkulturen äußern", und sieht in ihnen die "Schattenseiten von
Religion im allgemeinen, nämlich ihrer Sanktionierung von
Aberglauben."[8]
Für unser Lexikon bedeutet diese Situation die Ausweitung des
Materialkanons ins Unermeßliche und das Wegfallen sachlicher
Unterscheidungskriterien, das heißt die Unmöglichkeit eines anderen
als des formalen Ordnungsprinzips, und es handelt sich ja auch um ein
Wörterbuch mit alphabetischer Ordnung. Wo es sinnvoll scheint, nutzt
Gerlach dennoch sachliche Gliederungen, z.B. in den Artikeln
Wochentage und Omen, gute und schlechte. Wenn die Ordnung durch die
geschilderte Schwierigkeit also auch kaum tangiert wird, so gilt das
nicht für die Auswahl der Stichwörter - und nicht für das, was an
Materialien unter dem einzelnen Lemma versammelt wird. Beispiele mögen
die inhaltliche Spannweite andeuten, sie lassen sich vielfach
ergänzen. Einerseits finden sich konventionelle Stichworte:
Abwehrzauber, Bäume, Beruf, Dreizehn, Edelsteine, Hexen, Horoskop,
Omen, Volksmedizin, Wahrsagen, Wochentage. Sodann Begriffe aus dem
Erzählgut: Fliegender Holländer, Frau Holle. Aus dem Okkultismus:
Channeling, Geister, Ufos. Aus der Jugend- und Undergrundkultur:
Neonazis, Presley-Kult, Rockmusik. Aus der Technik: Auto, Computer.
Außereuropäisches: Dschinn, Yeti. Schließlich Stichwörter für sehr
spezielle Sachverhalte, deren Aufnahme eher im Hinblick auf ihre
Kuriosität erfolgt zu sein scheint: Sündenesser, Knabenwunsch.
Einige Artikel seien beispielhaft herausgegriffen. Das Lexikon beginnt
mit dem Stichwort Aal (etwa eine Druckseite), die wenig
aussagekräftige Illustration (ohne Quellenangabe) gibt eine Zeichnung
davon. Berichtet wird, daß das Tier im Altertum "ein Rätsel und
Gegenstand abergläubischer Spekulationen und Mythen" gewesen sei. Über
diese Mythen erfährt der Leser allerdings nichts. Der Rest der
Darstellung behandelt das Laichverhalten des Aals, der Artikel endet
mit Fragen wie "Warum ist es noch nicht gelungen, einen laichenden Aal
im Atlantik zu fangen?" u.ä. Thema ist die naturwissenschaftliche
Kuriosität, von Aberglaube ist nicht die Rede (S. 11). Das Register im
HdA weist für Aal einen Hauptartikel und neun weitere Fundstellen
nach, das von der Konzeption und vom Umfang her dem Gerlachschen
entsprechende Lexikon des Aberglaubens von Helmut Hiller verzichtet
auf das Stichwort.[9] Auto: Wiederum etwa eine Druckseite, die
Illustration zeigt (ebenfalls ohne Quellenangabe) Sankt Christophorus.
Erwähnt werden: Kosenamen für Autos und Talisman und
Christophorusmedaille im Autoinnenraum;[10] "irrationales Vertrauen in
das favorisierte Modell"; außerdem (unter Berufung auf ein nicht näher
bezeichnetes englisches "Handbuch der okkulten Wissenschaften")
Hinweise auf die Vorbedeutung von Autopannen; sowie die abergläubische
Nutzung alter CDs gegen Radarfallen (nach einem Aufsatz im Stern).[11]
Computer: Der sechszeilige Artikel enthält lediglich ein Zitat aus
Meyers enzyklopädischem Lexikon von 1971, in dem für die
Naturwissenschaften allgemein "das unreflektierte Vertrauen in
unbegrenzte Möglichkeiten" postuliert wird (S. 65). Das ist
enttäuschend. Man hätte unter diesem Stichwort Hinweise auf
abergläubische Vorstellungen zum Thema Computerviren (etwa die
Zerstörung von Hardware) oder die Übertragung von Kettenbriefen auf
das Medium E-Mail erwartet. Die bereits für das Auto bemerkte
Personalisierung der Maschine hat im Verhältnis von Mensch und PC
wesentlich deutlichere Formen angenommen, die eine Untersuchung wert
wären. Ein Desiderat wäre auch die volkskundliche Erforschung der in
manchen Newsgroups des Usenet verbreiteten Vorstellungen, über die wir
noch wenig wissen. Hinzu kommen abergläubische Inhalte, für die das
Netz lediglich das Transportmittel darstellt, von der Sammlung
selbsterlebter Geistergeschichten bis zu nur gegen Passwort
zugänglichen Satanismus-Websites, Hexentreffs, Ufo- und
Okkult-Chatrooms. Weitere Beispiele sind wohl nicht erforderlich.
Der Stoff unseres Lexikons entstammt dem Fundus der volkskundlichen
Literatur, zum Teil auch bereits vorliegenden Lexika, von denen
einiges im Buchhandel noch greifbar ist. Dieses Material wird um
neuere Formen des Aberglaubens ergänzt. Gerlach greift dabei offenbar
auf eigene Ausschnittsammlungen zurück, hat aber nicht immer
nachrecherchiert oder den Zusammenhang mit älteren Formen hergestellt.
Der Fachmann wird dem Band kaum Neues entnehmen können; wer es genauer
wissen will, kommt wegen der fehlenden Zuordnung der Quellen zu den
einzelnen Artikeln nur mühsam oder gar nicht weiter. Die
Illustrationen haben überwiegend bloßen Kuriositätenwert, ihre
Quellenangaben sind oft unzureichend. Für Lehre und Forschung
entbehrlich.
Willi Höfig
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