Sie haben ihrem Lexikon einen Folklore-Begriff zugrunde gelegt, der
den mitteleuropäischen Volkskundler wegen seiner ausgeprägten
Pragmatik und der ausdrücklichen Ablehnung jedes theoretischen
Überbaus befremden könnte. Wir sind eher geneigt, die Volkskunde
umfassender im Sinne einer nationalen und regionalen Anthropologie zu
konstituieren. Simpson und Roud setzen die Einführung des Wortes
Folklore für 1848 an, abweichend von der üblichen Festlegung, die die
Erfindung W. J. Thoms zuzuschreiben pflegt, dem Gründer der Folklore
Society, und zwar für das Jahr 1846.[1] Wo die Unterschiede der
Verfasser zur üblichen Auffassung von Folklore im angloamerikanischen
Bereich liegen, kann ein Vergleich mit den allgemein akzeptierten
Definitionskriterien andeuten, wie sie Jan Harold Brunvand
zusammengestellt hat.[2] Einig sind sich beide, daß Phänomene der
Folklore "in verschiedenen Varianten vorhanden sind " (Brunvand) bzw.
"gewöhnlich an verschiedenen Orten ähnlich, aber nicht identisch
auftreten" (Simpson/Roud). Aber dann beginnen schon die Unterschiede:
Nach Brunvand ist Folklore "traditionell", nach Simpson/Roud hat sie
"ihre Wurzeln in der Vergangenheit, aber nicht sehr weit zurück, und
findet ihre Anwendung in der Gegenwart". Eine Rückwärtsprojektion in
vorchristliche Zeiten etwa lehnen sie entschieden ab: "The time lag
... is generally over a thousand years, and alternative explanations
are often available" (S. VI). Weitere Kriterien: Nach Brunvand
tendiert Folklore zur Formelhaftigkeit; Simpson/Roud nennen sie
"informal" und "in der Lage, sich durch variable Züge veränderten
Umständen anzupassen"; Brunvand nennt die Beteiligten "anonym",
Simpson/Roud sprechen von Gruppen, "deren gemeinsame Vorstellungen das
Bild der Geschichte, der Darstellung oder des Brauches bestimmen;
Folklore wird gemeinsam von den Mitgliedern einer Gruppe geschaffen
oder ausgeführt". Diese Gruppe ist im übrigen durchaus Teil der
allgemeinen Kultur: "It must be stressed that ... this 'group' is
likely to share in mainstream culture and to be diverse in
socio-economic status, interests, etc." (S. V) Damit wenden sich die
Verfasser unseres Lexikons nachdrücklich gegen jede Art von
Unterschicht- oder Bauernvolkskunde und Reliktforschung: "The notion
that folklore is found only or chiefly where an uneducated,
homogeneous peasantry preserves ancient ways has no relevance to
England today, and probably never had" (S. VI).
Es handelt sich zudem um ein Lexikon der Folklore Englands, nicht
Großbritanniens. Schottische, walisische, irische Traditionen werden,
wenn überhaupt, dann nur am Rande berücksichtigt. Simpson und Roud
möchten ein englisches Gegengewicht gegen die reichlich vorhandenen
Folklore-Publikationen der genannten ethnischen Gruppen aufstellen und
damit den vorhandenen Nachholbedarf verringern: Besonders im
keltischen Bereich der Britischen Inseln sei Folklore zur Schaffung
einer national identity benutzt worden, auf die die Engländer bisher
Verzicht geleistet hätten.
Das Lexikon enthält etwa 1000 Artikel (die auf dem Schutzumschlag
angegebene Zahl von über 1250 scheint die Verweisungen mitzuzählen).
Sie sind von unterschiedlicher Länge, durchschnittlich etwa eine
Spalte umfassend. Ein Drittel davon sind Sachartikel, ein Sechstel
betrifft Sitte und Brauch einschließlich des lokalen Brauchtums,
Spiele und Volksmedizin. Der Rest verteilt sich auf Personalartikel
(der größte Teil), Artikel zu kalendergebundenen Festen, zu
Volksglauben, mündlich überlieferter Literatur wie Kinderreimen,
schließlich zur literarischen Überlieferung. Außerdem wird auch die
englische Geographie mit eigenen Artikeln berücksichtigt, die reale
und die fiktive. Die Aufzählung kann den Umfang der Themen nur
andeuten.
Die nach Autoren geordnete, nicht untergliederte Bibliographie umfaßt
380 Titel. Ihr Grundbestand sind die bei den Einzelartikeln genannten
Schriften; dort genügt daher in der Regel eine Kurzangabe, so daß für
den vollständigen Titel die Bibliographie konsultiert werden muß.
Allerdings gilt das nicht für alle im Rahmen eines Artikels zitierten
Schriften; sehr spezielles Schrifttum ist nur im Hauptteil
verzeichnet, dort dann aber in vollständiger Form.
Die älteste in die Bibliographie aufgenommene Druckschrift ist die
englische Übersetzung des Hexenhammers durch Montague Summers (1486;
allerdings als Reprint von 1989); die jüngsten haben den Vermerk
"forthcoming" erhalten, waren bei Redaktionsschluß also noch nicht
erschienen. Vor 1850 sind 19 Titel erstmals erschienen, von denen
einige den Autoren nur als Reprint vorlagen; im Original wird ein
charmanter Titel von 1579 zitiert: A thousand notable things of sundry
sortes von Thomas Lupton, enlarged 1660. Den Autoren ist die Freude an
antiquarischen Abseitigkeiten offenbar nicht fremd, ein sympathischer
Zug, der wissenschaftliche Gründlichkeit nicht ausschließt. Dafür
deutet ein Titel wie The natural history of Staffordshire (1686) von
Robert Plot auf wissenschaftshistorische Parallelen hin: mit den
Landeskunden der Geographen des 16. und 17. Jahrhunderts beginnen auch
bei uns die "volkskundlichen" Bestandsaufnahmen.[3] Die für das Lexikon
ausgewertete Literatur setzt dann in größerem Umfang um 1850 ein: bis
1900 ein Achtel der verzeichneten Titel, ein weiteres Achtel für die
Zeit zwischen 1900 und 1945, zwei Drittel für die Zeit danach, und,
wie nicht anders zu erwarten, sämtlich englisch. Im Text werden die
älteren Quellen (15. - 17. Jahrhundert) oft besonders hervorgehoben
und das älteste englische Zeugnis zitiert.
Die sparsame Bebilderung auf wenigen Tafeln zeigt ältere
Brauchtumsillustrationen aus Zeitungen und Zeitschriften. Eine
geographische Karte der behandelten Örtlichkeiten könnte das
Nachschlagen erleichtern. Volkskundliche Themenkarten, die etwa die
Verbreitung eine Brauches leicht überblickbar darstellen, müssen
vorerst ein Desiderat bleiben, denn Großbritannien besitzt noch keinen
Volkskunde-Atlas.
Volkskunde ist eine überwiegend komparatistische Wissenschaft. Das von
Simpson und Roud ausgebreitete Material legt Vergleiche mit der
Folklore anderer Völker nahe. Das Dargestellte wirkt, obschon oft
lokalen Ursprungs und recht spezieller Natur, doch niemals exotisch.
So spinnen sich zwischen englischen und deutschen Bräuchen, Sitten,
Festen, Traditionen zahlreiche, oft unvermutete Fäden. Ein Beispiel
mag verdeutlichen, wie derartige Vergleiche über Sprach- und
Volksgrenzen hinweg aussehen können. Der Leser kann etwa auf das
Stichwort Edenhall, Luck of stoßen und sich, sollte er der älteren
Generation angehören, plötzlich in seine Schulzeit versetzt fühlen:
"Das Glück von Edenhall", ein (im Lexikon nicht erwähntes) Gedicht von
Ludwig Uhland und über viele Jahrzehnte unabdingbarer Bestandteil
unserer Lesebücher. Simpson und Roud unterrichten uns, daß es sich um
einen in Syrien gefertigten, bemalten und vergoldeten Glasbecher aus
der Mitte des 13. Jahrhunderts handelt, der sich jetzt im Victoria and
Albert Museum befindet. Er gehörte zum Erbgut der Musgraves of
Edenhall in Cumbria, und was das Lexikon von ihm erzählt, ist nicht
etwa das, was auch das Uhlandsche Gedicht berichtet, sondern die
Vorgeschichte dazu: Die Unterirdischen - Fairies; "Feen" ist hier
keine passende Übersetzung - feiern ein Fest an St. Cuthberts Quelle
nahe Edenhall. Durch die zudringlichen Bewohner gestört, fliehen sie
und lassen den Becher zurück, über den der Letzte noch einen Zauber
wirft: "If this cup should break or fall, / Farewell the Luck of
Edenhall!". Soweit unser Lexikon. Die Fortsetzung findet sich nun bei
Uhland: Wieder ein Fest, jetzt auf Edenhall; "der junge Lord" versucht
das Glück seines Hauses durch gewaltsames Anstoßen mit dem Becher der
Unterirdischen: "Zum Horte nimmt ein kühn Geschlecht / Sich den
zerbrechlichen Kristall; / Er dauert länger schon als recht..." und
das Schicksal geht seinen Gang: Der Kelch zerspringt, Edenhall wird
erobert und zerstört, der Lord stirbt: "In Splitter fällt der
Erdenball / Einst gleich dem Glücke von Edenhall!"[4] - Wir können uns
an dieser Stelle nicht auf Motivforschung einlassen. Wie zwei Völker
in Literatur und mündlicher Überlieferung dasselbe Thema behandeln und
es, einander ergänzend, weiterführen, ist ein spannender Hinweis aus
unserem Lexikon, das sich doch keineswegs als komparatistisch, sondern
bewußt als regional versteht.
Vergleichbar wäre im deutschen Bereich das Wörterbuch der deutschen
Volkskunde von Richard Beitl, das allerdings umfangreicher ist und den
gesamten deutschsprachigen Raum behandelt, sich damit nicht, wie
Simpson und Roud, auf eine Region beschränkt.[5] Man wird daher nicht so
sehr Art und Anzahl der Stichwörter oder ihren Umfang als vielmehr die
Art der Betrachtung und die Beleuchtung der Gegenstände nebeneinander
stellen können, hier am Beispiel der mittsommerlichen Freudenfeuer:
bei Simpson/Roud unter bonfires und midsummer, bei Beitl unter
Jahresfeuer und Johannistag. Die historischen Tatbestände sind im
wesentlichen dieselben: durch schriftliche Quellen seit dem
Mittelalter bezeugt und wahrscheinlich viel weiter zurückreichend;
mehrere Phasen obrigkeitlicher Einwirkung mit dem - allerdings nicht
erreichten - Ziel, den Brauch abzuschaffen; schließlich Wiederlebung
im 19. und 20. Jahrhundert unter behördlichem Wohlwollen und
teilweiser Vereinnahmung durch Folkloristik und Tourismus. Zum Sprung
durch das Feuer heißt es bei Simpson/Roud: "Young men made a point of
leaping through the flames when they had died down somewhat, which
some commentators like to see as a ritual purification but is just as
likely to be simple male showing off..." (S. 238). Hingegen
kommentiert Beitl: "Aus der Höhe des Sprunges wird auf eine gute oder
schlechte Ernte geschlossen ... Sehr verbreitet ist die Anschauung,
daß eine Liebesverbindung gefestigt wird, wenn Burschen und Mädchen
das Feuer gemeinsam überspringen, ohne die Hände loszulassen. Dagegen
gilt es als ein ungünstiges Vorzeichen, wenn der Sprung mißlingt..."
(S. 413). Der Brauch ist derselbe; aber das deutsche Lexikon bezieht
die von den Teilnehmern gegebenen Begründungen in seine Darstellung
ein, das englische bleibt bei der pragmatischen Darstellung und
schreibt jede psychologische Begründung bis auf die einfachste ("male
showing off") den Kommentatoren zu. Dieser Verzicht kennzeichnet die
Arbeit insgesamt: "Our intention is to provide a work of reference,
not to build theories, of which there have been too many, based on too
little evidence. The entries therefore emphasize established dates and
facts; speculative interpretations are kept to a minimum" (S. VI).
Innerhalb der selbstgesetzten Einschränkungen gibt das Lexikon einen
umfassenden Überblick über Geschichte und Fortleben volkskundlicher
Erscheinungen; es ist jedoch kein allgemeines volkskundliches
Lexikon.[6] Für die Kenntnis englischer Folklore und zur Bereitstellung
englischen Materials für vergleichende Untersuchungen im
internationalen Rahmen ist es ein äußerst nützliches Instrument.
Willi Höfig
Zurück an den Bildanfang