Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 9(2001) 1
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A dictionary of English folklore


01-1-120
A dictionary of English folklore / Jacqueline Simpson & Steve Roud. - 1. publ. - Oxford : Oxford University Press, 2000. - VII, 411 S. : Ill. ; 24 cm. - ISBN 0-19-210019-X : œ 20.00
[6264]

Die Herausgeber haben einen Namen als Kenner der britischen Folklore. Jacqueline Simpson ist Sekretärin der Folklore Society und an der Leitung der Gesellschaft seit 30 Jahren in verschiedenen Funktionen beteiligt; sie gab zwischen 1979 und 1993 die Zeitschrift Folklore heraus und legte eine Anzahl volkskundlicher Veröffentlichungen vor, von denen die Bibliographie des Lexikons neun Titel aufführt. Steve Roud ist Bibliothekar und war in dieser Eigenschaft ebenfalls für die Folklore Society tätig. Sein Hauptinteresse gilt bibliographischen Arbeiten im volkskundlichen Bereich.

Sie haben ihrem Lexikon einen Folklore-Begriff zugrunde gelegt, der den mitteleuropäischen Volkskundler wegen seiner ausgeprägten Pragmatik und der ausdrücklichen Ablehnung jedes theoretischen Überbaus befremden könnte. Wir sind eher geneigt, die Volkskunde umfassender im Sinne einer nationalen und regionalen Anthropologie zu konstituieren. Simpson und Roud setzen die Einführung des Wortes Folklore für 1848 an, abweichend von der üblichen Festlegung, die die Erfindung W. J. Thoms zuzuschreiben pflegt, dem Gründer der Folklore Society, und zwar für das Jahr 1846.[1] Wo die Unterschiede der Verfasser zur üblichen Auffassung von Folklore im angloamerikanischen Bereich liegen, kann ein Vergleich mit den allgemein akzeptierten Definitionskriterien andeuten, wie sie Jan Harold Brunvand zusammengestellt hat.[2] Einig sind sich beide, daß Phänomene der Folklore "in verschiedenen Varianten vorhanden sind " (Brunvand) bzw. "gewöhnlich an verschiedenen Orten ähnlich, aber nicht identisch auftreten" (Simpson/Roud). Aber dann beginnen schon die Unterschiede: Nach Brunvand ist Folklore "traditionell", nach Simpson/Roud hat sie "ihre Wurzeln in der Vergangenheit, aber nicht sehr weit zurück, und findet ihre Anwendung in der Gegenwart". Eine Rückwärtsprojektion in vorchristliche Zeiten etwa lehnen sie entschieden ab: "The time lag ... is generally over a thousand years, and alternative explanations are often available" (S. VI). Weitere Kriterien: Nach Brunvand tendiert Folklore zur Formelhaftigkeit; Simpson/Roud nennen sie "informal" und "in der Lage, sich durch variable Züge veränderten Umständen anzupassen"; Brunvand nennt die Beteiligten "anonym", Simpson/Roud sprechen von Gruppen, "deren gemeinsame Vorstellungen das Bild der Geschichte, der Darstellung oder des Brauches bestimmen; Folklore wird gemeinsam von den Mitgliedern einer Gruppe geschaffen oder ausgeführt". Diese Gruppe ist im übrigen durchaus Teil der allgemeinen Kultur: "It must be stressed that ... this 'group' is likely to share in mainstream culture and to be diverse in socio-economic status, interests, etc." (S. V) Damit wenden sich die Verfasser unseres Lexikons nachdrücklich gegen jede Art von Unterschicht- oder Bauernvolkskunde und Reliktforschung: "The notion that folklore is found only or chiefly where an uneducated, homogeneous peasantry preserves ancient ways has no relevance to England today, and probably never had" (S. VI).

Es handelt sich zudem um ein Lexikon der Folklore Englands, nicht Großbritanniens. Schottische, walisische, irische Traditionen werden, wenn überhaupt, dann nur am Rande berücksichtigt. Simpson und Roud möchten ein englisches Gegengewicht gegen die reichlich vorhandenen Folklore-Publikationen der genannten ethnischen Gruppen aufstellen und damit den vorhandenen Nachholbedarf verringern: Besonders im keltischen Bereich der Britischen Inseln sei Folklore zur Schaffung einer national identity benutzt worden, auf die die Engländer bisher Verzicht geleistet hätten.

Das Lexikon enthält etwa 1000 Artikel (die auf dem Schutzumschlag angegebene Zahl von über 1250 scheint die Verweisungen mitzuzählen). Sie sind von unterschiedlicher Länge, durchschnittlich etwa eine Spalte umfassend. Ein Drittel davon sind Sachartikel, ein Sechstel betrifft Sitte und Brauch einschließlich des lokalen Brauchtums, Spiele und Volksmedizin. Der Rest verteilt sich auf Personalartikel (der größte Teil), Artikel zu kalendergebundenen Festen, zu Volksglauben, mündlich überlieferter Literatur wie Kinderreimen, schließlich zur literarischen Überlieferung. Außerdem wird auch die englische Geographie mit eigenen Artikeln berücksichtigt, die reale und die fiktive. Die Aufzählung kann den Umfang der Themen nur andeuten.

Die nach Autoren geordnete, nicht untergliederte Bibliographie umfaßt 380 Titel. Ihr Grundbestand sind die bei den Einzelartikeln genannten Schriften; dort genügt daher in der Regel eine Kurzangabe, so daß für den vollständigen Titel die Bibliographie konsultiert werden muß. Allerdings gilt das nicht für alle im Rahmen eines Artikels zitierten Schriften; sehr spezielles Schrifttum ist nur im Hauptteil verzeichnet, dort dann aber in vollständiger Form.

Die älteste in die Bibliographie aufgenommene Druckschrift ist die englische Übersetzung des Hexenhammers durch Montague Summers (1486; allerdings als Reprint von 1989); die jüngsten haben den Vermerk "forthcoming" erhalten, waren bei Redaktionsschluß also noch nicht erschienen. Vor 1850 sind 19 Titel erstmals erschienen, von denen einige den Autoren nur als Reprint vorlagen; im Original wird ein charmanter Titel von 1579 zitiert: A thousand notable things of sundry sortes von Thomas Lupton, enlarged 1660. Den Autoren ist die Freude an antiquarischen Abseitigkeiten offenbar nicht fremd, ein sympathischer Zug, der wissenschaftliche Gründlichkeit nicht ausschließt. Dafür deutet ein Titel wie The natural history of Staffordshire (1686) von Robert Plot auf wissenschaftshistorische Parallelen hin: mit den Landeskunden der Geographen des 16. und 17. Jahrhunderts beginnen auch bei uns die "volkskundlichen" Bestandsaufnahmen.[3] Die für das Lexikon ausgewertete Literatur setzt dann in größerem Umfang um 1850 ein: bis 1900 ein Achtel der verzeichneten Titel, ein weiteres Achtel für die Zeit zwischen 1900 und 1945, zwei Drittel für die Zeit danach, und, wie nicht anders zu erwarten, sämtlich englisch. Im Text werden die älteren Quellen (15. - 17. Jahrhundert) oft besonders hervorgehoben und das älteste englische Zeugnis zitiert.

Die sparsame Bebilderung auf wenigen Tafeln zeigt ältere Brauchtumsillustrationen aus Zeitungen und Zeitschriften. Eine geographische Karte der behandelten Örtlichkeiten könnte das Nachschlagen erleichtern. Volkskundliche Themenkarten, die etwa die Verbreitung eine Brauches leicht überblickbar darstellen, müssen vorerst ein Desiderat bleiben, denn Großbritannien besitzt noch keinen Volkskunde-Atlas.

Volkskunde ist eine überwiegend komparatistische Wissenschaft. Das von Simpson und Roud ausgebreitete Material legt Vergleiche mit der Folklore anderer Völker nahe. Das Dargestellte wirkt, obschon oft lokalen Ursprungs und recht spezieller Natur, doch niemals exotisch. So spinnen sich zwischen englischen und deutschen Bräuchen, Sitten, Festen, Traditionen zahlreiche, oft unvermutete Fäden. Ein Beispiel mag verdeutlichen, wie derartige Vergleiche über Sprach- und Volksgrenzen hinweg aussehen können. Der Leser kann etwa auf das Stichwort Edenhall, Luck of stoßen und sich, sollte er der älteren Generation angehören, plötzlich in seine Schulzeit versetzt fühlen: "Das Glück von Edenhall", ein (im Lexikon nicht erwähntes) Gedicht von Ludwig Uhland und über viele Jahrzehnte unabdingbarer Bestandteil unserer Lesebücher. Simpson und Roud unterrichten uns, daß es sich um einen in Syrien gefertigten, bemalten und vergoldeten Glasbecher aus der Mitte des 13. Jahrhunderts handelt, der sich jetzt im Victoria and Albert Museum befindet. Er gehörte zum Erbgut der Musgraves of Edenhall in Cumbria, und was das Lexikon von ihm erzählt, ist nicht etwa das, was auch das Uhlandsche Gedicht berichtet, sondern die Vorgeschichte dazu: Die Unterirdischen - Fairies; "Feen" ist hier keine passende Übersetzung - feiern ein Fest an St. Cuthberts Quelle nahe Edenhall. Durch die zudringlichen Bewohner gestört, fliehen sie und lassen den Becher zurück, über den der Letzte noch einen Zauber wirft: "If this cup should break or fall, / Farewell the Luck of Edenhall!". Soweit unser Lexikon. Die Fortsetzung findet sich nun bei Uhland: Wieder ein Fest, jetzt auf Edenhall; "der junge Lord" versucht das Glück seines Hauses durch gewaltsames Anstoßen mit dem Becher der Unterirdischen: "Zum Horte nimmt ein kühn Geschlecht / Sich den zerbrechlichen Kristall; / Er dauert länger schon als recht..." und das Schicksal geht seinen Gang: Der Kelch zerspringt, Edenhall wird erobert und zerstört, der Lord stirbt: "In Splitter fällt der Erdenball / Einst gleich dem Glücke von Edenhall!"[4] - Wir können uns an dieser Stelle nicht auf Motivforschung einlassen. Wie zwei Völker in Literatur und mündlicher Überlieferung dasselbe Thema behandeln und es, einander ergänzend, weiterführen, ist ein spannender Hinweis aus unserem Lexikon, das sich doch keineswegs als komparatistisch, sondern bewußt als regional versteht.

Vergleichbar wäre im deutschen Bereich das Wörterbuch der deutschen Volkskunde von Richard Beitl, das allerdings umfangreicher ist und den gesamten deutschsprachigen Raum behandelt, sich damit nicht, wie Simpson und Roud, auf eine Region beschränkt.[5] Man wird daher nicht so sehr Art und Anzahl der Stichwörter oder ihren Umfang als vielmehr die Art der Betrachtung und die Beleuchtung der Gegenstände nebeneinander stellen können, hier am Beispiel der mittsommerlichen Freudenfeuer: bei Simpson/Roud unter bonfires und midsummer, bei Beitl unter Jahresfeuer und Johannistag. Die historischen Tatbestände sind im wesentlichen dieselben: durch schriftliche Quellen seit dem Mittelalter bezeugt und wahrscheinlich viel weiter zurückreichend; mehrere Phasen obrigkeitlicher Einwirkung mit dem - allerdings nicht erreichten - Ziel, den Brauch abzuschaffen; schließlich Wiederlebung im 19. und 20. Jahrhundert unter behördlichem Wohlwollen und teilweiser Vereinnahmung durch Folkloristik und Tourismus. Zum Sprung durch das Feuer heißt es bei Simpson/Roud: "Young men made a point of leaping through the flames when they had died down somewhat, which some commentators like to see as a ritual purification but is just as likely to be simple male showing off..." (S. 238). Hingegen kommentiert Beitl: "Aus der Höhe des Sprunges wird auf eine gute oder schlechte Ernte geschlossen ... Sehr verbreitet ist die Anschauung, daß eine Liebesverbindung gefestigt wird, wenn Burschen und Mädchen das Feuer gemeinsam überspringen, ohne die Hände loszulassen. Dagegen gilt es als ein ungünstiges Vorzeichen, wenn der Sprung mißlingt..." (S. 413). Der Brauch ist derselbe; aber das deutsche Lexikon bezieht die von den Teilnehmern gegebenen Begründungen in seine Darstellung ein, das englische bleibt bei der pragmatischen Darstellung und schreibt jede psychologische Begründung bis auf die einfachste ("male showing off") den Kommentatoren zu. Dieser Verzicht kennzeichnet die Arbeit insgesamt: "Our intention is to provide a work of reference, not to build theories, of which there have been too many, based on too little evidence. The entries therefore emphasize established dates and facts; speculative interpretations are kept to a minimum" (S. VI).

Innerhalb der selbstgesetzten Einschränkungen gibt das Lexikon einen umfassenden Überblick über Geschichte und Fortleben volkskundlicher Erscheinungen; es ist jedoch kein allgemeines volkskundliches Lexikon.[6] Für die Kenntnis englischer Folklore und zur Bereitstellung englischen Materials für vergleichende Untersuchungen im internationalen Rahmen ist es ein äußerst nützliches Instrument.

Willi Höfig


[1]
In der Zeitschrift Athenaeum vom 22. August 1846. - Vgl. der Artikel Folklore / Hermann Bausinger. // In: Enzyklopädie des Märchens. - Bd. 4 (1984), Sp. 1397 - 1403. - Simpson und Roud nennen das Jahr 1848 lediglich in ihrer Einleitung; der Artikel William John Thoms (S. 355 - 356) enthält das Datum nicht. (zurück)
[2]
The study of American folklore : an introduction / Jan Harold Brunvand. - New York, 1968, S. 4. (zurück)
[3]
Vgl. die umfangreiche Literatur in: Deutsche Volkskunde / Adolf Bach. - Heidelberg, 1960, Paragr. 3 - 4. (zurück)
[4]
Uhlands Werke. - Berlin [u.a.]. - T. 1. Gedichte / hrsg. von Adalbert Silbermann. - 1908, S. 219 - 220. (zurück)
[5]
Wörterbuch der deutschen Volkskunde / begr. von Oswald A. Erich und Richard Beitl. - [Nachdr. der] 3. Aufl. 1974 / neu bearb. von Richard Beitl. Unter Mitarb. von Klaus Beitl. - Stuttgart : Kröner, 1981. - VII, 1005 S. : Ill., Kt. - (Kröners Taschenausgabe ; 127). - 1996 ist ein unveränderter Nachdruck dieser Aufl. erschienen. (zurück)
[6]
Für die vergleichende Behandlung volkskundlicher Phänomene immer noch unentbehrlich ist das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens / hrsg. von Hanns Bächtold-Stäubli ... Mit einem Vorw. von Christoph Daxelmüller. - Unveränderter photomechan. Nachdr. der Ausg. ... 1927 - 1942. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1987. - Bd. 1 - 10 ; 25 cm. - ISBN 3-11-011194-2 : DM 358.00 [0295]. - Rez.: ABUN in ZfBB 34 (1987),6, S. 534 - 541. - Ein erneuter unveränderter Nachdruck ist als 3. Aufl. - 2000. - ISBN 3-11-016860-X : DM 298.00 weiterhin lieferbar. (zurück)

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