Jack Zipes ist derzeit Professor für Germanistik an der Universität
von Minnesota. Einem längeren Deutschland-Aufenthalt verdankt er sein
Interesse für die europäische Seite der Märchengeschichte. "Author,
scholar, teacher, translator, activist" nennt ihn seine Biographin
Louisa Smith.[1] Von ihm stammen bisher etwa 30 monographische
Veröffentlichungen. Als Übersetzer hat er französische und deutsche
Erzählungen im englischen Sprachraum bekanntgemacht.[2] Sein Interesse
gilt darüberhinaus der Frankfurter Schule, dem Feminismus, dem
deutsch-jüdischen Verhältnis und dem Märchenerzählen für Kinder. Für
das hier angezeigte interdisziplinäre Lexikon ist er der geeignete
Herausgeber.
Neben ihm haben 66 weitere Mitarbeiter zum Text beigetragen, unter
ihnen 13 "contributing editors"; die Artikel sind mit den
Namenskürzeln ihrer Verfasser gezeichnet. Sie stammen mit wenigen
Ausnahmen aus den englischsprechenden Ländern, in erster Linie aus den
USA (etwa zwei Drittel). Von den drei deutschen Mitarbeitern ist
Ulrich Marzolph, Professor für Islamwissenschaft an der Universität
Göttingen, durch Editionen orientalischer Märchen einer weiteren
Öffentlichkeit bekanntgeworden.[3] Unter den in den USA arbeitenden
Beiträgern befinden sich eine Reihe bekannter Germanisten, so der
Volkserzählungsforscher Donald Haase von der Wayne State University,
Herausgeber der Zeitschrift Marvels & tales, und der Sprich- und
Sagwortforscher Wolfgang Mieder, Professor an der University of
Vermont, der in Deutschland durch seine Veröffentlichungen zum
"Antisprichwort" zu einiger Popularität gelangte.[4]
Das Lexikon enthält - bei zweispaltigem Satz - über 800 Artikel mit
einer Länge zwischen zehn Zeilen für zahlreiche Personalartikel und
bis zu zwölf Seiten für Grundsatz- und Länderartikel. Etwa drei
Viertel der Stichwörter beziehen sich auf Personen. Die
Personenartikel behandeln außer literarischen Autoren auch weitere mit
der Überlieferung befaßte Kreise; einen besonderen Raum nehmen dabei
die Illustratoren (133 Artikel) und Komponisten (35 Artikel) ein
- wobei mancher Autor sein eigener Illustrator ist (unter den
genannten
deutschen Autoren gilt das etwa für Struwwelpeter-Heinrich-Hoffmann,
Janosch, Franz von Pocci).
50 Personen- und Sachartikel beschäftigen sich mit Märchensammlern
sowie der Geschichte und Wissenschaftstheorie der Volkserzählung. 35
längere Grundsatzartikel fassen den Forschungsstand nach ausgewählten
Ländern oder zu Sachfragen zusammen; darunter sind methodische
Darstellungen, Artikel über die Beziehungen des Kunstmärchens zur
mündlichen Überlieferung, zur Mythologie, zur Folklore und zur
Narrativik sowie Aufsätze zu besonderen Aspekten wie dem Feminismus,
der Psychologie und der Sozialisation. Märchenfiguren werden in 26
Eintragungen behandelt: die Biographie erfundener Gestalten neben
diejenige historischer Personen zu stellen, hat im
anglo-amerikanischen Bereich Tradition und beginnt sich jetzt auch bei
uns durchzusetzen.[5] Literarische Einzeltexte und bekannte Sammlungen
haben in 41 Fällen einen eigenen Eintrag erhalten. Abgehandelt wird
auch die Beziehung zu literarischen Formen und Genres: dem Aphorismus
und dem Sprichwort, der Fantasy-Literatur, der Science-fiction und
schließlich den Formen des Theaters. Eigene Artikel erhalten das
Ballett (allein acht Personalartikel), die Oper, die Operette, das
Musical, das Drama. Einen breiten Raum nehmen die Massenmedien im
weitesten Sinne ein: Märchen in der Werbung, im Cartoon, im Fernsehen
und Film. Artikel über Märchen auf Postkarten und Briefmarken runden
das Sample ab.
Die Länderartikel behandeln, durch besonderes Layout innerhalb des
Alphabets im Druck hervorgehoben, Frankreich (13 S.), Nordamerika und
Kanada (12 S.) sowie Großbritannien und Irland (11 S.), Italien (13
S.), Deutschland (12 S.), Spanien (12 S.) und Portugal (2 S.),
schließlich Skandinavien (8 S.) und die slawischen und baltischen
Länder (8 S.)
Besondere Aufmerksamkeit beansprucht die Einleitung des Herausgebers:
Introduction - towards a definition of the literary fairy tale (S. XV
- XXXII). Die Überschrift ist pures Understatement. In einer Tour de
force wird die Geschichte des Kunstmärchens und seiner Verwandten von
Apuleius bis Michael Ende ausgebreitet, einschließlich der
gesellschaftlichen Bedingtheiten und Verzahnungen. Das ist derart
komprimiert, faktenreich und voller Überraschungen, daß es sich an
dieser Stelle kaum referieren läßt. Der Rezensent empfiehlt, den
Aufsatz baldmöglichst zu übersetzen und den Text allgemein zugänglich
zu machen, sei es in der Fabula oder in einem der Sammelbände der
Europäischen Märchengesellschaft. Die - von Zipes hochgelobte
- deutsche Einführung in das Thema von Jens Tismar[6] wird durch eine
Fülle phantasievoller Hypothesen, weiterführender Überlegungen und
zusätzlicher Aspekte ergänzt und kritisch erörtert. Einige Beispiele
seien gestattet. Zipes stellt dar, daß das Kunstmärchen als
literarisches Genre viel mit Sitten- und Zeitkritik, aber zunächst
sehr wenig mit Kinderliteratur zu tun hat (S. XXI); er sucht in den
Märchen der deutschen Romantiker vorrangig die Auseinandersetzung
ihrer Autoren mit der Französischen Revolution und stellt Goethes
Märchen (1795), "bluntly entitled 'The Fairy Tale', as though it were
the fairy tale to end all fairy tales" (S. XXIV), Novalis' das in der
Auseinandersetzung mit diesem Text entstandene Klingsohr's Märchen aus
Heinrich von Ofterdingen (1798) gegenüber, die Apologie der
aufgeklärten Monarchie der Feier der Revolution; er zeigt im einzelnen
die dialektische Beziehung des Märchens zu Massenmedien und
Gesellschaft der Gegenwart auf (S. XXVIII).
Die Bibliographie reicht bis 1997, vereinzelt bis 1998. Sie wurde
unabhängig von den in den Einzelartikeln gemachten bibliographischen
Angaben[7] erstellt, die hier nicht noch einmal erfaßt worden sind, und
ist in vier Gruppen gegliedert: Sekundärliteratur (ca. 800 Titel),
Standardsammlungen (30 Titel), Sonstige Sammlungen (ca. 250 Titel,
fast nur englisch) und Fachzeitschriften (ca. 30, fast ausschließlich
englischsprachige Titel). Gut die Hälfte (55 %) der Gruppe
Sekundärliteratur ist englischsprachig, ein reichliches Viertel (28,5
%) deutschsprachig. Die französische Literatur macht 10,8 % der
angegebenen Titel aus, die sonstige romanische 4 %, die skandinavische
weniger als 1 %, wobei allerdings Übersetzungen nicht besonders
gezählt wurden. Von den angeführten 30 "klassischen Textsammlungen"
sind 17 englischsprachig, sechs französisch, fünf italienisch und zwei
deutsch (verschiedene Editionen der Grimmschen Kinder- und
Hausmärchen).
Das Lexikon trägt dazu bei, der lange Zeit von ethnologischen und
soziologischen Gesichtspunkten bestimmten Märchenforschung die
literarische, historische und nicht zuletzt kulturgeschichtliche
Relevanz ihres Gegenstandes in Erinnerung zu rufen. Daß in einer
Schriftkultur wie der unsrigen die mündliche Überlieferung sekundäre
Bedeutung hat und die überlieferten Märchen deshalb nicht sinnvoll
untersucht werden können, ohne daß man sich auf die Gesamtheit
kultureller Erscheinungen stützt, und das heißt: in hohem Maße auf
literarische Quellen; dieser von Zipes in seiner Einleitung entfaltete
Satz schließt im deutschsprachigen Bereich an Forscher wie Albert
Wesselski an, aber auch an den jüngst verstorbenen Rudolf Schenda, der
das verzwickte Miteinander mündlicher und schriftlicher Überlieferung
für uns durchsichtiger gemacht hat.[8] Die frühen Jahrgänge der
Zeitschrift für Volkskunde (seit 1891) sind voll von Aufsätzen, welche
die gegenseitigen Abhängigkeiten von Typen und Motiven literarisch
überlieferter Erzählungen demonstrieren.[9]
Die reiche Bebilderung des Bandes ist informativ und vergnüglich, wenn
auch abhängig von der manchmal mäßigen Wiedergabequalität der
Vorlagen. Die Bilder kleben nicht in Briefmarkengröße am Rande,
sondern sind überwiegend ganzseitig und lassen sich damit wirklich
beurteilen. Von George Cruikshank (gest. 1878) bis zu einem
Porträtfoto des armen E.T. (1982) lassen sich da manche Entdeckungen
machen.
Die Autoren des Oxford companion to fairy tales (OCFT) haben, wie
nicht anders zu erwarten, das Jahrhundertwerk der Enzyklopädie des
Märchens[10] (EM) genutzt, auch wenn das nicht auf jeder Seite gesagt
wird. Man vergleiche etwa den Artikel Musäus in beiden Werken. Der
Artikel im OCFT ist etwa ein Drittel so umfangreich wie der in der EM
und beschränkt die im übrigen übereinstimmenden Literaturangaben auf
das Wichtigste. In der Beurteilung von Musäus' Bedeutung für die
Mit- und Nachwelt und in der Darstellung seiner stilistischen
Eigentümlichkeiten sind sich die Autoren Ruth B. Bottigheimer (OCFT)
und Harlinda Lox (EM) jedoch einig. Kernstück beider Artikel ist eine
umfangreiche Liste, in der die literarischen Quellen von Musäus'
Volksmärchen der Deutschen aufgeschlüsselt werden und bei der beide
Autoren sich auf dieselbe Arbeit von Manfred Grätz (1988) stützen.
Unzweifelhaft sind beide Artikel durchaus selbständige Arbeiten; wer
über Musäus schreibt, wird nicht umhin können, dieselbe
Grundlagenliteratur wie sein Vorgänger zu benutzen. Daß darüber hinaus
in beiden Fällen dieselben Aspekte bei der Betrachtung des
Gegenstandes hervorgehoben werden, möchte man auf die unvermeidliche
Vorbildwirkung der EM zurückführen, zumal für Prof. Bottigheimer, die
auch zu den Mitarbeitern der EM gehört, Deutsch keine Sprachbarriere
darstellt.[11]
Anders fällt der Vergleich der Artikel Alice in wonderland (Marie
Louise Ennis, OCFT) sowie Alice in Wonderland, film versions (Terry
Staples, OCFT) gegenüber Alice im Wunderland (Hartmut Breitkreuz, EM)
aus. Während die EM nur den Zeichenfilm Walt Disneys (1951) beiläufig
erwähnt, nennt der OCFT sechs Filme zwischen 1933 und 1985 und stellt
sie in Kurzreferaten vor. Auch sonst finden sich kaum Ähnlichkeiten.
Der Artikel in der EM bietet eine Nacherzählung des Carrollschen
Werkes und wendet sich dann stilistischen Fragen zu, etwa der
Benutzung und Parodierung geläufiger Kinderreime; der OCFT kann auf
die Inhaltsangabe verzichten, stellt Geschichte, Wirkung und
Ausbreitung des Textes in den Mittelpunkt und behandelt schließlich
sein Nachleben in den Medien, Illustrationen und Parodien. Die
Literaturangaben sind denn auch jeweils andere.
Dafür, daß beide Lexika sich in weiten Bereichen überschneiden, bedarf
keines Nachweises. Aber sie ergänzen sich auch. Im OCFT stehen die
Verfilmung und die Mediennutzung von Märchen und verwandten Stoffen
ausdrücklich im Mittelpunkt des Interesses (allein 48 Filmartikel), in
der EM werden sie außerhalb der eigentlichen Medien-Artikel nur mehr
oder weniger beiläufig erwähnt.[12] Der OCFT hat zudem gegenüber der EM
den Vorzug, in unzähligen kurzen Personalartikeln Auskunft über die
Beziehung von Literaten, Musikern, Choreographen, Verlegern usw. zum
Märchen im weitesten Sinne zu geben. Über die Relevanz dieser
Eintragungen mögen die Meinungen hin und wieder geteilt sein: Nicht
jeder wird auf den Einfall geraten, daß Robert Musil (S. 330) oder
Gertrude Stein (S. 497 - 498) hier zu finden sind. Und wie Paul
Hindemiths Oper Cardillac zum Thema in Beziehung zu setzen ist, kann
der Leser nur schwer nachvollziehen, auch wenn ausdrücklich auf E.T.A.
Hoffmann als Quelle verwiesen wird (S. 236); die Verfilmung (durch
Edgar Reitz 1969) wird ausnahmsweise nicht erwähnt.[13]
Gerade wegen der gebotenen Überfülle wird man manches vermissen. Etwa
bei Sammlern der deutschsprachigen Volkserzählung: Ignaz und Joseph
Zingerle haben ihren eigenen Artikel, Arthur und Albert Schott,
Wilhelm Wisser, Richard Wossidlo fehlen. Oder in einzelnen
Personenartikeln: Wilhelm Busch wird als Illustrator und wegen seiner
Bildergeschichten gewürdigt, seine Märchensammlung aber wird nicht
erwähnt (Ut ôler Welt. - München, 1910). Einerseits wird die nur noch
Spezialisten bekannte Erzählung Das Tröpfchen von Kurd Lasswitz (1908)
aufgeführt, andererseits fehlt die thematisch ähnliche, aber bei
weitem sprachmächtigere Parallele Alfred Momberts Das Eis (1904). Bei
der Aufmerksamkeit, die der OCFT den Illustratoren widmet, überrascht
das Fehlen eines Artikels über Grandville. Ähnliches gilt auch für die
Bibliographie: Von der Berliner Literaturwissenschaftlerin Waltraud
Woeller sind zwei Titel von 1955 und 1965 genannt, nicht aber ihr
präzis in den Rahmen des OCFT passendes, opulent illustriertes Buch
über die Märchenillustration.[14] Daß ein Standardwerk wie die
Kinderbuch-Bibliographie von Wegehaupt in der Bibliographie ebenfalls
nicht auftaucht, ist wohl nicht nur für den mitteleuropäischen Leser
enttäuschend.[15] Derlei Ungereimtheiten beschränken sich nicht auf
Artikel über den deutschsprachigen Bereich: Der amerikanische,
international renommierte Folklorist Alan Dundes muß sich im Artikel
Olrik (S. 360) den Vornamen Allen gefallen lassen (in der
Bibliographie steht er dann richtig).
Der neuartige, mit keinem vorhandenen Märchenlexikon vergleichbare
thematische Zuschnitt des Werkes, die Vielzahl seiner internationalen
Mitarbeiter und die große Anzahl der Eintragungen machen Fehler dieser
Art verständlich. Um sie zu vermeiden, bedürfte es eines umfangreichen
Redaktionsstabs, wie ihn etwa die Enzyklopädie des Märchens besitzt.
Ein einzelner Herausgeber gerät da leicht an die Grenzen seiner
Belastbarkeit. Dessenungeachtet hat der Verlag mit dem Oxford
companion to fairy tales ein vorzügliches Werk vorgelegt, das die
Geschichte und die Medienbearbeitungen des europäischen und
nordamerikanischen Kunstmärchens erstmalig in der Vielfalt ihrer
Verästelungen lexikalisch sichtbar macht. Es ergänzt auch größere
Lexika und ist ihnen, wie ausgeführt, in manchen Bereichen überlegen.
Willi Höfig
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