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Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 9(2001) 1
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Lexikon der Bräuche und Feste


01-1-118
Lexikon der Bräuche und Feste : 3000 Stichwörter mit Infos, Tipps und Hintergründen / Manfred Becker-Huberti. - Freiburg [u.a.] : Herder, 2000. - 480 S. : Ill. ; 25 cm. - ISBN 3-451-27317-9 : DM 49.80
[6161]

Manfred Becker-Huberti ist Pressesprecher und Leiter des Amtes für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Erzdiözese Köln, promovierter Theologe, Schul- und Hochschullehrer. Sein Name ist mit zahlreichen Veröffentlichungen und Internet-Repräsentationen im katholisch-kirchlichen Bereich verbunden. Der hier anzuzeigende Band, der Anfang 2001 bereits in einer 2., unveränderten Auflage erschienen ist, bildet ein Gegenstück zu dem 1998 ebenfalls im Herder-Verlag erschienenen Titel Feiern - Feste - Jahreszeiten[1] desselben Autors.

"3000 Stichwörter" verspricht der Untertitel, und das stimmt auch: aber mehr als zwei Drittel davon sind Verweisungen, wie die Auszählung ergibt. Dem Trend, das Register eines Lexikons in den Haupttext zu integrieren und mit der riesigen, für den Leser aber unerheblichen Gesamtzahl der Eintragungen zu werben, entzieht sich auch der renommierte Herder-Verlag nicht. Bleiben etwa 800 Artikel mit einer Länge zwischen zwei Zeilen und mehreren Seiten. Das ist der übliche Umfang für ein regionales volkskundliches Lexikon - das hier (IFB 01-1-120) besprochene Dictionary of English folklore von Simpson und Roud umfaßt knapp 1000 Artikel. Die Lektüre des Vorworts und die kursorische Durchsicht des Bandes zeigen, daß Feste und Bräuche in diesem Lexikon vorwiegend unter kirchlichem Blickwinkel gesehen und dargestellt werden. Zielgruppe ist der am kirchlichen Brauchtum im Jahreslauf Interessierte: "Die berufliche Erfahrung und mein langjähriges Interesse an religiösem Brauchtum haben mich veranlaßt, die Fragen und Antworten zu sammeln, zu ergänzen und zu systematisieren, um sie interessierten Menschen zugänglich zu machen, die die Suche nach Antworten noch nicht aufgegeben haben", schreibt Becker-Huberti im Vorwort (S. 5). Religiöses Brauchtum scheint ihm lange Zeit verschollen gewesen zu sein, "weil Aufklärung und wechselnde Ideologien bis zum kritischen 68er-Bewußtsein wie ein breiter Festungsgraben das Symboldenken isolierten." "Inzwischen regen sich wieder Neugier und Interesse. Eine neue Generation ist herangewachsen, die mit ihren Fragen bei den 'Hinterbliebenen' der 68er-Generation sich nicht immer gut bedient fühlt ... Bräuche sind wieder in." (S. 6). Die Zielrichtung des Bandes liegt in der Seelsorge, nicht in der urteilsfreien Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse.

Mit dieser Einschränkung ist ein vorzügliches Kompendium entstanden, das eine Art Volksbuch katholischen Brauchtums darstellt, mit gelegentlichen Seitenblicken in die evangelischen und die nichtkirchlichen Bereiche.

Der Band ist, auch wenn das Material alphabetisch geordnet ist, am Kirchenjahr orientiert; das Handbuch wird denn auch durch einen 22-seitigen Jahreskalender des katholischen Christen beschlossen, in dem die Festtage nach dem römischen Generalkalender und die kirchlichen Eigenfeiern der deutschsprachigen Bistümer zusammengestellt sind.

Der Aufbau der Artikel folgt keinem festgelegten Prinzip; kalendarische Tabellen und eine Vielzahl von Abbildungen lockern das zweispaltig gesetzte, großzügige Layout weiter auf.[2] Längere Eintragungen (mehr als fünf Spalten) behandeln die Hauptfeste Weihnachten, Ostern und Pfingsten, wobei zu jedem Hauptartikel eine Fülle von kleineren Zusätzen unter jeweils abgewandelten Lemmata tritt, so daß dem einzelnen Festkreis insgesamt wesentlich mehr Raum zukommt. Die längsten Einzelartikel sind die zu Maria und zu Marienfeste; ausführlich behandelt werden der Karneval - getrennt nach den Stichworten Karneval und Karneval international, wozu noch zahlreiche Zusammensetzungen mit Narren- treten; das Martins- und Nikolausbrauchtum, die Passionszeit. Aber auch die Wochentage und die Monate wie überhaupt Kalendarisches, schließlich einzelne Heilige werden ausführlich dargestellt. Letztere nehmen breiten Raum ein: selbst von der Kirche nicht Anerkannte und Vergessene wie Wilgefortis, die Heilige Kümmernis, erhalten einen eigenen Artikel.[3] Höchst erfreulich ist auch die Behandlung volkskundlicher Phänomene, die bisher anderweitig noch wenig lexikalische Beachtung gefunden haben, etwa der Gartenzwerg, der auf die Figur des Nikolaus zurückgeführt und dessen Würdigung (S. 131 - 132) durch ein vom Autor selbst beigesteuertes Photo[4] bereichert wird. Mit spürbarem Vergnügen hat der Autor auch in einer eigenen Eintragung die Reittiere des heiligen Nikolaus zusammengestellt: Esel, Schimmel, Hirsch und Rentier, letzteres kein Reit-, sondern ein Zugtier für den Schlitten. Acht Rentiere ziehen den Nikolausschlitten nach Clement Clarke Moore (1882); sie haben jedes einen Namen, aber Becker-Huberti nennt sie uns leider nicht (S. 347 - 348). Und neben den Artikeln, die sich mit dem traditionellen Verständnis des Weihnachtsfestes beschäftigen, gibt es die Eintragungen Kommerzialisierung von Weihnachten und alternative Weihnacht, die sich kritisch mit diesen Themen befassen; auch über die Nazi-Weihnacht und die Sozialistische Weihnacht geben die entsprechenden Artikel Auskunft.

Überall wird dabei das Bestreben spürbar, Disparates zusammenzuschließen, Zusammenhänge aufzuzeigen und dabei den Rekurs auf das (katholisch-)christliche Brauchtum nicht aus den Augen zu verlieren. Dabei werden für Bräuche, die längst säkularisiert sind und für den Laien nichts Christliches mehr an sich haben, immer wieder die kirchlichen Wurzeln freigelegt - die manchmal anders aussehen, als die Volksweisheit es sich träumen läßt; wenn uns das Lexikon beispielsweise darauf hinweist, daß die beliebte Kreideaufschrift "C + M + B" über der Haustür nicht, wie brauchtümlich angenommen, "Caspar + Melchior + Balthasar" nach den Heiligen Drei Königen, sondern Christus Mansionem Benedicat auszuschreiben sei ...

Als Beispiel für einen mittleren Artikel sei das Stichwort Muttertag herausgegriffen. Das Lexikon widmet ihm anderthalb Spalten: Der Muttertag ist "jung und säkularen Ursprungs. Seine Erfinderin war Miss Anna Jarvis aus Philadelphia, USA, im Jahr 1907." 1914 in den USA zum offiziellen Feiertag erklärt, breitete er sich ab 1917 über die Schweiz in Europa und seit 1922 in Deutschland aus. Aber der Autor macht Vorbehalte geltend. Der Tag habe "einen Beigeschmack bekommen, weil ihn die Nationalsozialisten in ihr rassistisches Gedankensystem einbauten"; und er verweist auf das im Volksmund sarkastisch "Karnickelkreuz" genannte Mutterkreuz des NS-Staates. Heute werde die Mutter von den Kindern "oft leider nur an diesem Tag" in den Mittelpunkt gerückt. "Blumenhandel-, Süßwaren- und Schmuckindustrie haben diesen Tag entdeckt, um immer neue 'Muttertagsgeschenke' zu kreieren. Von vielen wird dieser Tag deshalb zwiespältig empfunden. Manche ertragen ihn, weil sie Ausstrahlung auf die restlichen 364 Tage des Jahres hoffen." Der säkulare Muttertag habe jedoch einen religiösen Vorläufer, die Feier des Lätare-Sonntags im England Heinrichs III. (1216 - 1239). Er wurde als "mothering sunday" begangen, "an dem der 'Mutter Kirche' für ihre Mutterschaft gedankt wurde. Zu diesem Feiertag der Kirche gehörte es schon damals, daß der leiblichen Mutter an diesem Tag Dank ausgedrückt wurde." Dieser Dank wurde durch den Simnel-Cake,[5] den Semmelbrösel-Kuchen, sichtbar gemacht. Eine neuere englische Bewegung knüpft an diese Tradition an. - Das Lexikon von Beitl (s.u.) widmet dem Stichwort drei Spalten; die dort verzeichnete Literatur fehlt in der Bibliographie bei Becker-Huberti. Beitl nennt nicht nur den englischen Lätare-Brauch, sondern gibt darüber hinaus einen Überblick über verwandtes Brauchtum in Thüringen, den Alpenländern und Frankreich und fährt fort: "Man darf ... die alte Geltung eines Frühlingssippenfestes annehmen, dessen Akzent durch kirchlichen Text und Brauch auf die Mutter fiel" - ein Gesichtspunkt, mit dem sich unser Lexikon nicht befaßt hat. Genaueres über die derzeitige Verbreitung des Muttertags kann Beitl dann anhand der Karten des Atlas der deutschen Volkskunde dartun. Verfolgen wir den Brauch weiter in das oben erwähnte Dictionary of English folklore (S. 247 - 248), so finden sich hier Mother's day und Mothering sunday in getrennten Artikeln, und die Autoren erklären: "It is unlikely that there is a connection between the two customs". Daß das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens,[6] das bei so manchen Zweifelsfragen den Ausschlag geben kann, keine Eintragung zum Muttertag enthält, zeigt zunächst nur, daß keine Volksglaubenselemente damit verbunden sind; und so scheint sein rein säkulares Wesen zumindest ex negativo erschlossen. Die von Becker-Huberti und vor ihm von Beitl angenommene Verbindung zwischen den Lätare-Feiern und dem Muttertag läßt sich, will man den englischen Autoren und dem Handwörterbuch folgen, kaum aufrechterhalten.

Bei sonst großzügiger Illustrierung[7] hat der Autor leider darauf verzichtet, die Verbreitung von Bräuchen durch Karten anschaulich zu machen, sei es aus dem Material des Atlas der deutschen Volkskunde, sei es aus anderer Quelle. So wird etwa zum Stichwort Dreikönigssingen ein Aufsatz von Dietmar Sauermann in der Rheinisch-Westfälischen Zeitschrift für Volkskunde bibliographisch vermerkt, das instruktive Kartenmaterial aber nicht genutzt. Gerade bei Bräuchen bietet sich die kartographische Darstellung als hervorragendes Werkzeug der Visualisierung geradezu an, auch wenn die Ursprungskarten nicht immer Muster der Übersichtlichkeit sein mögen.

Eine deutschsprachige Bibliographie von 423 Titeln und acht gesondert genannten lateinischen Quellenwerken ermöglicht einen Überblick über die ausgewertete Literatur und gibt, wozu der Autor ausdrücklich anregt (S. 6), dem Leser die Möglichkeit zu weiterer Information. Dazu wird dieser allerdings eine Bibliothek aufsuchen müssen, denn die Bibliographie enthält reichlich ältere Titel und nennt zahlreiche Zeitschriftenaufsätze. Die Auswahl des Materials entspricht der besonderen Sichtweise des Bandes. Der Volkskundler wird daher den einen oder anderen vertrauten Titel vermissen.[8] Die sonst bei Lexika dieser Art nicht übliche ausschließliche Zusammenfassung der benutzten Literatur am Ende des Bandes erweist sich allerdings nach Auffassung des Rezensenten als weniger günstig. Bibliographische Hinweise zumindest unter den Hauptartikeln könnten den Wert des Nachschlagewerkes verbessern und seine Benutzung erleichtern.

Der generalisierende Titel täuscht darüber hinweg, daß unsere Gesellschaft nicht mehr einheitlich durch überliefertes Brauchtum bestimmt wird, sondern einerseits hochsäkularisiert ist, andererseits mit Minderheiten aus Kulturkreisen lebt, die keine Tradition mit dem katholischen Kirchenjahr verbindet. Ihre Feste und Bräuche finden hier keinen Platz. Der Einwand trifft weniger den Autor als vielmehr eine gesellschaftliche Situation, in der das Volk längst zur Bevölkerung geworden ist und durch Sitte und Brauch postulierte Gemeinsamkeiten der Beliebigkeit und der Mode verfallen sind: das von Becker-Huberti seinem Buch im Vorwort vorangestellte Dictum "Bräuche sind wieder in" (S. 6) mag denn auch deshalb nicht überall den positiven Klang haben, den der Autor ihm gibt.

Unabhängig von inhaltlichen Betrachtungen ist ein formales Problem, das nicht nur dem Rezensenten, sondern auch dem Benutzer des Werkes Kopfzerbrechen macht. Gemeint ist der Umgang mit Verweisungen. Der Text macht in hohem Maße Gebrauch von ihnen, die Seiten des Buches sind übersät mit Angaben wie Donstag, gumpiger -> Fastnachtszeit oder Nubbel -> Fastnachtsanfang. Aber leider ist der Leser, der die betreffende Stelle aufschlägt, oft keinen Schritt weitergekommen; manchmal findet er eine flüchtige Erwähnung, die keinen Aufschluß gibt, manchmal wird er lediglich auf eine neue Verweisung geführt, manchmal trifft er auf ganze Bündel von Verweisungen, ohne daß er je eine Sacherklärung erreichte. Die stringente Verweisungsstruktur ist, vielleicht unter Vertrauen auf ein überfordertes EDV-System, fast völlig abhanden gekommen. Das sollte bei einer weiteren Auflage, die dem so lesenswerten Band sehr zu wünschen ist, unbedingt korrigiert werden.

"Das Herz macht den Kritiker, nicht die Nase" (Max Müller[9]). Die bei der Durchsicht des Bandes aufgefallenen Unebenheiten sollen und können nicht verdecken, daß wir es hier mit einem höchst nützlichen, professionellen und gescheiten Wörterbuch zu tun haben - wenn auch nicht in erster Linie mit einem volkskundlichen. Es wird den Bestand überall dort bereichern, wo praktisch-theologische Fragen und kirchliche Themen in Lehre und Forschung eine Rolle spielen.

Willi Höfig


[1]
Feiern - Feste - Jahreszeiten : lebendige Bräuche im ganzen Jahr ; Geschichte und Geschichten, Lieder und Legenden / Manfred Becker-Huberti. - Freiburg [u.a.] : Herder, 1998. - 480 S. : Ill. - ISBN 3-451-26035-2 : (vergriffen). (zurück)
[2]
Wobei dieselben Bilder manchmal doppelt verwendet werden, so auf S. 259 und 364: einmal als "Narr und Narrenmutter aus Stuttgart", einmal weniger detailliert als "Narren mit Schellen". (zurück)
[3]
Zu dieser von den Brüdern Grimm zunächst in den Kinder- und Hausmärchen, dann in den Deutschen Sagen dokumentierten Gestalt vgl. zusammenfassend Johannes Bolte und Georg Polívka in ihren Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. - Neudruck. - Hildesheim. - 1963. - Bd. 3, S. 241 ff. (zurück)
[4]
Ob die Tatsache, daß der abgebildete Gartenzwerg auf Bd. 1 des Lexikons für Theologie und Kirche steht, als Schleichwerbung des Verlages zu verstehen ist, bleibe dahingestellt. [sh] (zurück)
[5]
Nicht Simmel-Cake, wie Becker-Huberti (S. 274) schreibt. (zurück)
[6]
Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens / hrsg. von Hanns Bächtold-Stäubli ... Mit einem Vorw. von Christoph Daxelmüller. - Unveränderter photomechan. Nachdr. der Ausg. ... 1927 - 1942. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1987. - Bd. 1 - 10 ; 25 cm. - ISBN 3-11-011194-2 : DM 358.00 [0295]. - Rez.: ABUN in ZfBB 34 (1987),6, S. 534 - 541. (zurück)
[7]
Die Reproduktionsqualität ist allenfalls als mäßig zu bezeichnen, und die Bildlegenden von extrem blasser Schrift. [sh] (zurück)
[8]
So fehlt etwa das brauchtümlich ergiebige Wörterbuch der deutschen Volkskunde / begr. von Oswald A. Erich und Richard Beitl. - [Nachdr. der] 3. Aufl. 1974 / neu bearb. von Richard Beitl. Unter Mitarb. von Klaus Beitl. - Stuttgart : Kröner, 1981. - VII, 1005 S. : Ill., Kt. - (Kröners Taschenausgabe ; 127). - 1996 ist ein unveränderter Nachdruck dieser Aufl. erschienen. - Richard Beitl galt den NS-Behörden als "ultramontan" und hat seinen Schülern, zu denen der Rezensent gehört, gelegentlich von den Schwierigkeiten berichtet, die diese Einschätzung ihm in den dreißiger Jahren bereitete. (zurück)
[9]
An entlegener Stelle, im Vorwort zu den Gedichten seines Vaters Wilhelm Müller, Leipzig, 1868. - (Bibliothek der deutschen Nationalliteratur), S. XII. (zurück)

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