Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 9(2001) 1

2000 Schallplatten 1979 - 1999


01-1-104
2000 Schallplatten 1979 - 1999 / Diedrich Diederichsen. - Höfen : Hannibal-Verlag, 2000. - XII S., S. 11 - 447 ; 31 cm. - ISBN 3-85445-175-X : DM 45.45. - (Buchverlag Koch, Postfach 24, A-6600 Höfen, FAX 0043 5672 65581)
[6228]

An Diedrich Diederichsen scheiden sich die Geister. Für die einen ist er Deutschlands Poptheoretiker No. 1,[1] für die anderen Guru der Kultur- und Angeberlinken.[2] Immerhin werden bei einer Internet-Suchmaschine[3] weit über tausend Treffer unter seinem Namen angezeigt; das kann wohl nicht jeder von sich nachweisen. Sein Name ist eng verknüpft mit der Geschichte der beiden deutschen Musikzeitschriften Sounds,[4] bei der er von 1979 bis 1983 als Redakteur, und Spex, bei der er von 1985 bis 1991 ebenfalls als Redakteur, von 1988 bis 2000 auch als Herausgeber tätig war. In diesen Eigenschaften hat er neben vielen Fachartikeln[5] und Büchern auch Schallplattenkritiken verfaßt, die er 1989 erstmals in einem Sammelband für den Zeitraum 1979/89 zusammengefaßt hat.[6]

Mit dem hier besprochenen Band liegt nun eine erweiterte Kumulation von Diederichsens Plattenkritiken vor, diesmal von 1979 bis 1999 (lt. Umschlagtext gar bis März 2000), insgesamt über 1000 Kritiken von knapp 2300 Tonträgern. Alle Rezensionen stammen aus Sounds, Spex und Konkret, die man im Spektrum der bundesdeutschen Fachzeitschriften durchaus als links einordnen darf, wenn diese Ordnungskriterien heute noch jemandem etwas sagen sollten. Eingeleitet wird der Band von einem Vorwort 2000 - vom Ende der Musik, an dem alles Musik wird,[7] einem Essay, der sich inhaltlich und stilistisch sicherlich nicht jedem Leser sofort erschließt.[8] Ihm folgt das Vorwort zur Ausgabe 1989: Musik und Dissidenz in den 80er-Jahren - Inhaltsverzeichnis einer Theorie. Danach folgen die Kritiken zuerst aus Sounds von 1979 - 1983, dann aus Spex von 1983 - 1989 und Konkret von 1988 - 1989, sodann aus Spex von 1989 - 2000 und Konkret von 1989 - 1990, alle im Faksimile. Zwischen den einzelnen Kapiteln werden die Kritiken der 80er Jahre aus der Sicht von 1989 und diejenigen der 90er Jahre aus der Sicht von 2000 nochmals neu kommentiert. Es ist sicherlich nicht jedermann vergönnt, seine eigenen Sichtweisen nach 20 Jahren nochmals zu überdenken und zu kommentieren, sieht man vom amtierenden Bundesaußenminister ab, der derzeit seine eigene Vergangenheit öffentlich aufarbeitet und selbst bewertet, wenn auch nicht ganz freiwillig.

Die Zeitschrift Spex wurde bewußt als Gegenpunkt zur industriellen Musikproduktion gesetzt und veröffentlichte lange Zeit keine von Plattenfirmen bezahlten Promotionsartikel, galt dadurch aber auch als elitär. Man darf sich deshalb nicht wundern, keine Rezensionen von bekannten Popmusikern zu finden, die Massenware anbieten. Dennoch begleitet Diederichsen die Produkte von Musikern und Gruppen, die auch dem breiten Publikum bekannt sind, wie David Bowie, den Talking Heads und David Byrne, Bob Dylan, Kevin Rowland And Dexy's Midnight Runners, Madonna, Iggy Pop, Curtis Mayfield sowie den Rolling Stones über mehrere Jahrzehnte hindurch kritisch wohlwollend. Mit dem Jazz hat Diederichsen seine Probleme: gut kommen bei ihm weg Musiker wie Charles Mingus, Ornette Coleman, Sun Ra, Winton Marsalis, Caspar und Peter Brötzmann oder Thelonious Monk. Andere trifft seine vernichtende Kritik : Stan Getz bezeichnet er in einer launigen Rezension einer Labelserie[9] als mittelmäßigen Kitsch-Saxophonisten, Gil Evans mache "Vögelchenmusik", Wes Montgomery "reaktionäre Unterhaltungsmusik", Jimmy Smith produziere Orgelsoße, Oscar Peterson sei für ihn ein Quälgeist und von Ella Fitzgerald habe er noch nie etwas gehalten. Dagegen bewundert er Miles Davis einmal als Sänger und ein anderes Mal durch sein "Hightech-Geklapper". Jazzkritiker kann er nicht leiden. Michael Naura bezeichnet er als Kröte und Joachim-Ernst Berendt[10] würde "in spiritueller Lächerlichkeit" wegdämmern. Aber auch andere, die eher wohlwollend betrachtet werden, bekommen verbal ihr Fett weg: Sonny Sherrock, den er sehr schätzt, würde herumgenialisieren, Van Morrison produziere Gedudel: "Diese Platte muss zum Arzt".

Der Band vermittelt trotz solcher Verbalkonstruktionen einen kenntnisreichen Überblick über die Underground-Schallplattenproduktion der letzten zwanzig Jahre; als Diskographie ist das Werk allerdings nicht geeignet und auch nicht gedacht. Es werden lediglich Hauptinterpret, Titel der Platte und Label genannt, keine Mitinterpreten, kein genaues Erscheinungsdatum oder gar Bezugsquellen. Es dürfte nicht ganz einfach sein, die eine oder andere Platte im Handel aufzutreiben. Nützlich ist das fast 20-seitige Register des Bandes, da in ihm auch Namen von Musikern enthalten sind, die nicht mit einer eigenen Rezension bedacht wurden. Damit kommt der Rezensionsband einem Nachschlagewerk für die letzten zwanzig Jahre Popmusik etwas näher.

Bernhard Hefele


[1]
www.gretchenverlag.de/Rezensionen/diederichsen.html (zurück)
[2]
www.arte-tv.com/tracks/20001110/dtext/spex.htm (zurück)
[3]
www.google.de (zurück)
[4]
Fortgeführt u.d.T. Musikexpress/Sounds; später wurde "Sounds" auch dort fallengelassen. (zurück)
[5]
U.a. publiziert der Autor auch im Spiegel. (zurück)
[6]
1.500 Schallplatten 1979-1989 / Diedrich Diederichsen. - Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1989. - ISBN 3-462-02005-6. (zurück)
[7]
So der Text des Inhaltsverzeichnisses. Der Essay hat auf S. I die Überschrift Vor dem Ende der Musik, an dem alles Musik wird. (zurück)
[8]
Leseprobe: "Ob die intellektuellen Rock-Überlebenden, die die historischen Minimalismen wieder entdeckten, oder die verschiedenen Sub-Techno-Stämme, die sich ihre unterschiedlichen Programme eines digitalen Neo-Minimalismus jenseits des Tanzflächen-Funktionalismus ausdachten, ob die antipatriarchalen Ästhetiken, die mit dem Minimalismus die Hoffnung verbanden, das alte expressive Musikersubjekt und seine repressiven Effekte zu verbannen, oder ob all diejenigen, die lieber von einer musikalischen Gestaltungsidee statt von einer persönlichen Obsession ausgehen wollten, sie alle konnten sich auf Musik ohne Worte ... und ... ohne beabsichtigte Referenz, ohne Außenbezug einigen - auf Musik, die Innenräume schuf, statt von Aufbrüchen zu schwärmen" (S. XI). (zurück)
[9]
Der Jazz. Fragmente einer Novelle (S. 124). (zurück)
[10]
Im Register fälschlicherweise unter Behrendt. (zurück)

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