Obgleich der New Grove nach wie vor das englischsprachige
Standardlexikon für alle Arten von Benutzern bzw. seit der sechsten
Ausgabe - wenn auch zwangsläufig mit einer gewissen Bevorzugung des
angloamerikanischen Raumes[7] - eine Enzyklopädie internationalen Ranges
zur Musik war und ist, so machte sich inzwischen dennoch eine gewisse
Veraltung bemerkbar, insbesondere bei den Bibliographien allgemein
sowie bei den zeitgenössischen Komponisten, entweder, weil deren
Werkverzeichnisse - leider begnügt sich auch NG II wieder häufig mit
Auswahllisten statt vollständiger Werkübersichten - nicht mehr dem
aktuellen Stand entsprachen oder weil sie 1980 noch gar nicht
berücksichtigt worden waren.
Im folgenden zunächst ein kurzer Vergleich der beiden Ausgaben des New
Grove. Der ursprünglich auf 23 Bände konzipierte NG II[8] enthält in 27
Textbänden (dazu Bd. 28 mit besonderen Listen und Bd. 29 mit den
Registern) über 29.000 wiederum gezeichnete Artikel (dazu zahlreiche
Verweisungen) von über 6000 Mitarbeitern aus 98 Ländern, die von über
60 Herausgebern koordiniert wurden, während es im NG I ca. 22.500
Artikel mit ca. 9000 Verweisungen in 20 Bänden von ca. 2300
Mitarbeitern aus 70 Ländern waren.[9]
Bd. 28 enthält den Nachweis 1. der häufig aus der Ausgabe 1980
übernommenen Abbildungen (die angegebene Zahl von ca. 5000
einschließlich Karten und Notenbeispielen paßt nicht recht zu der von
1980: damals ca. 3000 Notenbeisp. und ca. 4500 sonstige Abbildungen)
von wiederum mäßiger Qualität und 2. der Musikbeispiele, 3. die
Mitarbeiterliste, die leider eine reine Auflistung der Namen ohne
weitere Informationen geschweige denn Angabe der Artikel ist (NG I
nannte wenigstens noch die Wirkungsorte). Es folgen 5. detaillierte,
außer den Kongreßberichten bereits im NG I enthaltene, doch nun
überarbeitete und aufgrund ihres stark erweiterten Umfangs aus dem
Hauptteil ausgelagerte Listen:
A. private Sammlungen (von Musikdrucken und -handschriften,
Musikerbriefen, musiktheoretischen Schriften und Sekundärliteratur)
einschließlich Literaturangaben,[10] gegliedert in Current collections
und Historical collections. Dagegen sind Tonträgersammlungen bei den
Tonträgerarchiven (G.), Instrumentensammlungen im Hauptteil unter
Instruments, Collections of verzeichnet. Nicht aufgeführt sind Archive
von Komponisten mit hauptsächlich eigenen Werken;
B. Kongreßberichte 1860 - 1998, ohne Kongreßberichte zu Akustik,
Musikpsychologie, Musikerziehung und ohne solche zu Kunst, Folklore
und allgemeiner Kultur, wenn sie weniger als fünf Musikbeiträge
enthalten - chronologisch, innerhalb nach Tagungsort. Jährlich
stattfindende Kongresse zu einzelnen Komponisten sind nur aufgeführt,
wenn sie einen individuellen Titel haben;
C. Musiklexika und -enzyklopädien (ohne Kataloge, Adreßbücher,
Sammlungen von Analysen, Repertoireverzeichnisse und Opernführer)
chronologisch, und zwar zunächst die einbändigen und im Anschluß daran
die mehrbändigen Werke unter dem Erscheinungsjahr des ersten Bandes,
innerhalb alphabetisch; jeder Eintrag mit eigener, sich aus dem
Erscheinungsjahr und einer laufenden Nummer zusammensetzenden Sigle,
auf die das sich anschließende alphabetische Namen- und Titelregister
verweist;
D. historische Ausgaben: 1. Single-composer complete editions, 2.
Other collected editions von Komponisten, sofern wenigstens die
Ausgabe des Gesamtwerkes oder einer Gattung eines Komponisten oder
eine vollständige Ausgabe einer gedruckten oder handschriftlichen
Anthologie enthalten ist, 3. Anthologies.
E. Bibliotheken - innerhalb der fünf Großgruppen Europa, Nordamerika,
Lateinamerika und Karibik, Australasien, andere Länder (Israel, Japan,
Südafrika) nach Ländern und Regionen, innerhalb nach Orten, mit
Literaturangaben (nur gedruckte Literatur und Kataloge, für
Online-Kataloge wird auf die leichte Zugänglichkeit über Suchmaschinen
verwiesen; Zeitschriftenkataloge im Artikel Periodicals, Bibliography,
B, 1);
F. Zeitschriften einschließlich Jahrbücher, Almanache und
Jahresberichte von Musikinstitutionen - nach Ländern in den genannten
Großgruppen, innerhalb chronologisch, dann alphabetisch nach Titeln,
mit alphabetischem Titelregister;
G. Archive von Tonträgern und audiovisuellen Medien - nach
Kontinenten, innerhalb nach Ländern, dann nach dem Namen der
Institution, mit Literaturangaben[11] und hier ggf. Internetadressen.
Neu und äußerst begrüßenswert ist ein ausführlicher thematischer Index
'zum Browsen und als Führer' (Bd. 29, S. XI), der anscheinend einer
- gerechtfertigten - starken Nachfrage[12] zu verdanken ist und dem ein
eigener Band (Bd. 29) vorbehalten ist. Allerdings handelt es sich
nicht um ein Register, mit dem sämtliche Textstellen zu einem Thema
oder einer Person ausfindig zu machen wären; dies bleibt leider einer
Volltextrecherche in der nicht jedem zugänglichen Online-Version
vorbehalten. Zusammengestellt durch eine einzige Person, ist er als
'vorläufiger Führer', der 'einen Bruchteil' des NG II erschließt, zu
betrachten (Bd. 29, S. XII). Das Register berücksichtigt: 1. alle
Artikel und deren Teile einschließlich der vollen Wiedergabe der
Einträge alternativer Benennungen und Verweisungen; 2. Begriffe bei
bedeutenden Textstellen, dagegen keine bloßen Erwähnungen; 3.
verwandte Artikel, die auch mehrfach indexiert sein können, sind unter
einem Schlagwort zusammengefaßt: so sind z.B. Klavierbauer (außer
unter dem Personennamen) sowohl nach Ländern geordnet unter piano
makers aufgeführt als auch unter den betreffenden Länder- und
Ortsnamen. Nicht indexiert sind die Werkverzeichnisse und folglich
erscheinen Werktitel nur dann im Register, wenn sie im Text erwähnt
sind. Artikel mit weniger als 1000 Wörtern erfuhren keine
Feinindexierung, da ihre vollständige Durchsicht als zumutbar
erscheint.
Aufgrund ihrer hohen Zahl sind die Namen der folgenden Personengruppen
nicht in das Register selbst aufgenommen worden, sondern in separaten
Listen im Anschluß an das Register verzeichnet: 1. Komponisten der
abendländischen klassischen Musik nach Zeiträumen, innerhalb nach
Nationalität, weibliche Komponisten im Anschluß nochmals zusätzlich
gesondert nach Zeiträumen; weitere Listen finden sich im Hauptregister
unter Lemmata zu speziellen Musikrichtungen, Formen und Gattungen u.
dgl. Umfaßt die Liste für eine Region weniger als eine Seite, so ist
sie zusätzlich im Hauptregister aufgeführt, bei umfangreicheren Listen
wird dort nur verwiesen; 2. Interpreten der Kunstmusik: je separat
Cellisten, Dirigenten, Organisten, Pianisten, Sänger und Violinisten
- nach Zeiträumen -, Listen anderer Instrumentalisten sind in das
Register integriert; 3. Musiktheoretiker und -wissenschaftler,
Dichter, Bühnenschriftsteller und Librettisten der abendländischen
Musik nach Zeiträumen, innerhalb untergliedert in Librettos, lyrics
and plays und History, theory and practice.
In den Bänden 1 - 27 stehen jeweils eine Liste der 1. allgemeinen, 2.
der bibliographischen, 3. der diskographischen Abkürzungen, 4. der
Bibliothekssigel sowie 5. ausführliche Benutzungshinweise zur
Verfügung; Bd. 1 enthält darüber hinaus das Vorwort; das Vorwort zur
Ausgabe 1980; die Einführung der Ausgabe 1980 mit den Änderungen der
neuen Ausgabe; 6. das Vorwort zur allerersten Ausgabe 1878.
Nach wie vor verzeichnet der New Grove - anders als die neue MGG und
DEUMM - Personen- und Sachartikel in einem Alphabet. Wie bei
Neuausgaben lexikalischer Werke üblich, wurden Artikel revidiert, neu
verfaßt, neu aufgenommen oder eliminiert. Auch NG II gewichtet damit
- abgesehen vom heutigen Stand der Forschung - gemäß der Bedeutung,
die
heutzutage einer Person oder einer Sache zugemessen wird und ersetzt
somit seine Vorgänger nicht.[13] Von über 9000 eigens für NG II verfaßten
Artikeln sollen fast 6000 neu hinzugekommen sein, obwohl auch diese
Zahl nicht ganz zur Anzahl der Gesamtartikel der beiden Ausgaben
- vgl. oben - paßt. Zahlreiche Biographien großer Komponisten wurden
neu
verfaßt und bestimmte Teilgebiete - besonders frühe Renaissance und
19. Jh. - systematisch revidiert. Die meist sachlich untergliederten
Bibliographien wurden - bedingt u.a. durch das verstärkte Erscheinen
von Kongreßberichten, Festschriften und Fachzeitschriften - stark
erweitert und aktualisiert.
Über die Hälfte der gut 20.000 Personenartikel entfällt wie bisher auf
Komponisten, der Rest auf Interpreten aller Musikrichtungen,
Musikwissenschaftler, Textdichter und Verfasser literarischer
Vorlagen, Mäzene, Drucker, Verleger, Instrumentenbauer und andere an
der Musikwirtschaft beteiligte Personen.
Die ca. 9000 Sachartikel umfassen wie gewohnt alle Teilgebiete der
Musik wie Musikterminologie, musikalische Formen und Gattungen, frühe
Liturgien des östlichen und westlichen Ritus, Musikintrumente, Orte,
Institutionen wie Orchester, Chöre, Gesellschaften, Lehrinstitute
etc., sofern sie nicht unter ihrem Sitz, ggf. mit Verweisung vom Namen
der Institution, abgehandelt werden.
NG II zeichnet sich durch die Expansion in bestimmten Bereichen sowie
die erstmalige Berücksichtigung ganzer Themengebiete aus. So enthält
er vermehrt Artikel über außereuropäische und Volksmusikinstrumente
- was jedoch den New Grove dictionary of musical instruments
keineswegs
ersetzt - und aktuelle Themen wie Dekonstruktivismus, Postmoderne,
Frau und Musik, Musik homosexueller und lesbischer Kreise, Marxismus,
Nationalismus (einschließlich Nationalsozialismus). Bisher
unterrepräsentierte Gebiete sind jetzt angemessener berücksichtigt, so
etwa über 2000 Komponisten des 20. Jahrhunderts aus Ost- und
Zentraleuropa und der früheren Sowjetunion, aus Lateinamerika, Asien
(insbesondere China) und Afrika südlich der Sahara, insgesamt ca. 5000
gegenüber 3000 im NG I - sowie zahlreiche Interpreten auch
nicht-westlicher Kulturen - allein fast 3000 Interpreten des 20.
Jahrhunderts. Breitere Darstellung - im Rahmen eines allgemeinen
Musiklexikons, was Speziallexika dennoch unverzichtbar macht[14]
- erfährt nun auch der Bereich der Popularmusik (Jazz, Rock, Pop,
sonstige Popular- und leichte Unterhaltungsmusik) mit 700 neuen
Artikeln zu Komponisten und Interpreten und vielen Sachartikeln zu
Pop- und Rockmusikarten und -stilen, Film, Theater, Technik und
Institutionen.
Daß sich bei einem Werk dieser Größenordnung gewisse Unstimmigkeiten
nicht vermeiden lassen, liegt auf der Hand. Die Peinlichkeit, daß im
Werkverzeichnis des Artikels Strawinsky die solistische Vokalmusik
sowie die Kammermusik vergessen wurden und die Wagner-Bibliographie
bis auf einen neuen Titel von 1994 (im Abschnitt Analysis and
criticism) lediglich die Titel aus dem NG I reproduziert, hat den
Verlag veranlaßt, den Käufern beide Bände in einem korrigierten
Reprint (mit eingeschobenen Seiten) nachzuliefern, was für Mitte Juni
2001 versprochen wird.[15] Teilweise fehlen in den Bibliographien
wichtige neuere Nachschlagewerke.[16] Sonstige Versehen halten sich in
vertretbaren Grenzen. Auch Korrekturen von Fehlern im NG I sind zu
verzeichnen.[17]
Der Vorteil der mit Startschwierigkeiten belasteten Internet-Version[18]
besteht zum einen in der Möglichkeit der leichten Aktualisierung (ein
erstes Update ist für April 2001 in Aussicht gestellt), weshalb
Zitieren mit Tagesdatum empfehlenswert ist: vierteljährliche
Ergänzungen der Werklisten, Bibliographien, Links zu verwandten
Seiten, weitere Links zu internationalen Musikseiten; in jährlichen
Updates sollen neu verfaßte Artikel und revidiertes Material zur Musik
des 20. und 21. Jahrhunderts sowie die Überarbeitung jeweils eines
Themenbereiches zur Verfügung gestellt werden. Im Laufe des Jahres
2001 sollen darüber hinaus diskographische Angaben ergänzt und im
Oktober 2001 soll die 2. Ausgabe des New Grove dictionary of Jazz in
die Datenbank eingespielt werden. Einen weiteren Vorteil stellen die
erweiterten Suchmöglichkeiten dar: Suche über eine Suchmaschine,
spezialisierte Suche, Browsen, dreidimensionale Abbildungen von
Musikinstrumenten, Hör- statt Notenbeispiele.
Dennoch bleibt die Printausgabe unverzichtbar, denn abgesehen davon,
daß wohl niemand seitenlange Artikel am Bildschirm lesen wird, sind
die mit der Nutzung der Internet-Version verbundenen Kosten zu
bedenken, die primär der Verbesserung der Wertschöpfungs-Kette des
Verlages dienen.
Ob der Wirbel gerechtfertigt ist, der sich insgesamt zum NG II in der
Mailing-Liste der Music Library Association entfachte, sei
dahingestellt, zumal die Herausgeber wie früher um die Meldung von
Fehlern bitten.[19] Daß die kollektive Fehlersuche sicherlich in der
Dienstzeit stattfindet, läßt evtl. Rückschlüsse auf die Auslastung der
Korrespondenten zu. Jedenfalls ist durch die weltweite Vernetzung eine
wesentlich raschere und einfachere Kommunikation möglich, die dazu
öffentlich stattfindet und deren Folgen sich auch die Verlage stellen
müssen. Daß es sich dabei wohl (vorläufig) um ein spezifisch
amerikanisches Phänomen handelt, ist nicht zu übersehen, hat man
dergleichen doch bei der noch im Erscheinen begriffenen neuen MGG
nicht erlebt, was auch daran liegen mag, daß die in diesem Fall
geforderten Mitglieder der deutschen Sektion der AIBM geduldiger das
akzeptieren, was ihnen der Verlag vorsetzt.
Martina Rommel
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