Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 9(2001) 1
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Interkulturelle Literatur in Deutschland


01-1-051
Interkulturelle Literatur in Deutschland : ein Handbuch / hrsg. von Carmine Chiellino. - Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2000. - X, 536 S. : Ill. ; 24 cm. - ISBN 3-476-01618-8 : 98.00
[6143]

"Sich die Fremde nehmen": In diesem Titel einer Gedichtsammlung von Gino/Carmine Chiellino aus dem Jahre 1992 - halb ein Sprachspiel, halb eine Provokation - steckt das ganze Dilemma, unter dem jeder Autor leidet, der zwischen zwei Kulturen lebt und sich entscheiden muß, "entweder durch Zweisprachigkeit die paritätische Begegnung der Kulturen in einer dialogischen Sprache zu fördern oder aber Themen jenseits der eigenen Lebenssituation aufzugreifen und so auf die Solidarität mit der Minderheit zu verzichten." Jede Form von Interkulturalität ist nämlich eine Bereicherung und zugleich ein Verlust und löst durch ihre Ambivalenz eine Art von Schizophrenie aus, die als sprachlichen Ausdruck sehr differenziert Form annehmen kann, gar bis sie in der Kunst sublimiert und überwunden wird: Dann verwandelt sich das Unbehagen in Literatur.

Carmine Chiellino, der Herausgeber des Bandes, teilt das Los der in dem Buch vorgestellten nicht-deutschen Autoren, die in Deutschland leben und schreiben; ihnen allen sind die mit der Migration verbundenen Probleme gut vertraut, die nicht nur politischer, rechtlicher und sozialer Natur sind, sondern auch poetisch-stilistische Fragen betreffen. Denn diese Literatur von Ausgewanderten bewegt sich immer "Zwischen zwei Ufern" - so der Titel eines Gedichthefts von Franco Biondi aus dem Jahre 1878 -, und sie will dazu auf- und herausfordern, "Jenseits des Horizonts", des eigenen begrenzten eben, zu schauen, wie ein 1885 veröffentlichter Gedichtband von Giuseppe Giambusso benannt ist.

Das vorliegende Handbuch, das sich zum Ziel setzt, die literarische Produktion der Minderheiten in Deutschland vorzustellen, gründet in der Überzeugung, daß die Tätigkeit der Ausländer auf diesem Gebiet - wenn auch von der Kritik kaum wahrgenommen - zur allgemeinen Entwicklung der neueren Literatur in Deutschland beigetragen hat und beiträgt, wie Chiellino im Vorwort erklärt: "Interkulturalität ist ein Angebot, sich von den Zwängen einer zu eng gefaßten monokulturellen Selbstwahrnehmung zu befreien." Nach einem Allgemeinen Teil über die Faktoren, welche die Einwanderung verursacht und bedingt haben, ist der zweite und umfangreichste Abschnitt des Bandes den Vertretern dieser spezifischen "Literatur" gewidmet. Die Produktion der verschiedenen "Stimmen", die revue passieren, ist topographisch nach fünfzehn Minderheiten unterschieden,[1] die jenseits von Europa auch den türkischen, den latein-amerikanischen, den arabischen, den schwarzafrikanischen und den asiatischen Kulturraum umfassen.

Verschiedene Autoren, deren Zusammensetzung ein dem Gegenstand angemessenes kosmopolitisches Kaleidoskop ergibt, bieten jeweils ein kurzes bio-bibliographisches Porträt der Schriftsteller, das oft auch um ein kleines Schwarz-Weiß-Photo ergänzt ist. Die Beiträge sind nach Sprachen gruppiert, innerhalb dieser in alphabetischer Reihenfolge angeordnet.

Theater, Kabarett, Musik, Film und bildende Kunst machen die dritte Sektion des Buches aus, die durch eine Reihe von kurzen Essays die Tätigkeit der Migranten auf diesen Gebieten verfolgen. Methodisch wechseln die hier angewandten Kriterien von chronologischen zu geographischen: Die Wirkung der Ausländer im Bereich der Bildenden Künste wird z.B. sukzessive nach Jahrzehnten analysiert, während ihre Musikproduktion nach Land oder Region vorgestellt wird.

Im Mittelpunkt des vierten Abschnittes stehen "Interkulturelle Synergien", die kontrastiv behandelt werden: Äußere und interne Institutionen und Initiativen werden als Organe einer lebhaften, wenn auch nicht immer reibungslosen Wechselwirkung beschrieben, die sich der Fremd- oder Zweitsprache als des primären Instruments der Kommunikation bedient.

Reich an sachlichen Informationen ist auch der Anhang, der mit über hundert Seiten ca. ein Fünftel des Bandes einnimmt. Bibliographisch am ergiebigsten ist hier der dritte Abschnitt, der die Titel der Primär- und Sekundärliteratur zu den behandelten Autoren enthält.

Anhand des umfangreichen Materials läßt sich in der von Migranten gelieferten Literatur eine deutliche Entwicklung erkennen: Während sofort nach dem Krieg die Minderheiten der Schreibenden sich polyphon ausdrückten, indem manche Autoren die eigene Sprache beibehielten, andere hingegen sich für das Deutsche als Medium ihrer Kreativität entschieden, neigt die jüngere Generation der Eingewanderten, die in Deutschland die Schule besucht und sich sozial assimiliert haben, viel stärker dazu, das Deutsche als die eigene Muttersprache zu betrachten. Insgesamt spielt der Grund, der zur Migration geführt hat, immer noch eine wesentliche Rolle bei einer solchen Entscheidung; aber, egal ob Gastarbeiter, Asylanten oder Spätaussiedler, haben die schreibenden Ausländer die Literatur in Deutschland in den letzten fünfzig Jahren durchaus mitgeprägt, und das Handbuch macht sichtbar, wie weit ihr Einfluß und ihr Anteil innerhalb des kulturellen Lebens in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg reichen.

Gabriella Rovagnati


[1]
Vgl. das in anderem Zusammenhang separat vorgestellte Kapitel über die Literatur der Rußlanddeutschen / Annelore Engel-Braunschmidt. //In: Interkulturelle Literatur in Deutschland : ein Handbuch / hrsg. von Carmine Chiellino. - Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2000, S. 153 - 176 : Ill. und 471 - 480. - ISBN 3-476-01618-8 : DM 98.00 [6144]. - Rez.: IFB 00-1/4-161. (zurück)

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