Carmine Chiellino, der Herausgeber des Bandes, teilt das Los der in dem Buch vorgestellten nicht-deutschen Autoren, die in Deutschland leben und schreiben; ihnen allen sind die mit der Migration verbundenen Probleme gut vertraut, die nicht nur politischer, rechtlicher und sozialer Natur sind, sondern auch poetisch-stilistische Fragen betreffen. Denn diese Literatur von Ausgewanderten bewegt sich immer "Zwischen zwei Ufern" - so der Titel eines Gedichthefts von Franco Biondi aus dem Jahre 1878 -, und sie will dazu auf- und herausfordern, "Jenseits des Horizonts", des eigenen begrenzten eben, zu schauen, wie ein 1885 veröffentlichter Gedichtband von Giuseppe Giambusso benannt ist.
Das vorliegende Handbuch, das sich zum Ziel setzt, die literarische
Produktion der Minderheiten in Deutschland vorzustellen, gründet in
der Überzeugung, daß die Tätigkeit der Ausländer auf diesem Gebiet
- wenn auch von der Kritik kaum wahrgenommen - zur allgemeinen
Entwicklung der neueren Literatur in Deutschland beigetragen hat und
beiträgt, wie Chiellino im Vorwort erklärt: "Interkulturalität ist ein
Angebot, sich von den Zwängen einer zu eng gefaßten monokulturellen
Selbstwahrnehmung zu befreien." Nach einem Allgemeinen Teil über die
Faktoren, welche die Einwanderung verursacht und bedingt haben, ist
der zweite und umfangreichste Abschnitt des Bandes den Vertretern
dieser spezifischen "Literatur" gewidmet. Die Produktion der
verschiedenen "Stimmen", die revue passieren, ist topographisch nach
fünfzehn Minderheiten unterschieden,[1] die jenseits von Europa auch den
türkischen, den latein-amerikanischen, den arabischen, den
schwarzafrikanischen und den asiatischen Kulturraum umfassen.
Verschiedene Autoren, deren Zusammensetzung ein dem Gegenstand
angemessenes kosmopolitisches Kaleidoskop ergibt, bieten jeweils ein
kurzes bio-bibliographisches Porträt der Schriftsteller, das oft auch
um ein kleines Schwarz-Weiß-Photo ergänzt ist. Die Beiträge sind nach
Sprachen gruppiert, innerhalb dieser in alphabetischer Reihenfolge
angeordnet.
Theater, Kabarett, Musik, Film und bildende Kunst machen die dritte
Sektion des Buches aus, die durch eine Reihe von kurzen Essays die
Tätigkeit der Migranten auf diesen Gebieten verfolgen. Methodisch
wechseln die hier angewandten Kriterien von chronologischen zu
geographischen: Die Wirkung der Ausländer im Bereich der Bildenden
Künste wird z.B. sukzessive nach Jahrzehnten analysiert, während ihre
Musikproduktion nach Land oder Region vorgestellt wird.
Im Mittelpunkt des vierten Abschnittes stehen "Interkulturelle
Synergien", die kontrastiv behandelt werden: Äußere und interne
Institutionen und Initiativen werden als Organe einer lebhaften, wenn
auch nicht immer reibungslosen Wechselwirkung beschrieben, die sich
der Fremd- oder Zweitsprache als des primären Instruments der
Kommunikation bedient.
Reich an sachlichen Informationen ist auch der Anhang, der mit über
hundert Seiten ca. ein Fünftel des Bandes einnimmt. Bibliographisch am
ergiebigsten ist hier der dritte Abschnitt, der die Titel der
Primär- und Sekundärliteratur zu den behandelten Autoren enthält.
Anhand des umfangreichen Materials läßt sich in der von Migranten
gelieferten Literatur eine deutliche Entwicklung erkennen: Während
sofort nach dem Krieg die Minderheiten der Schreibenden sich polyphon
ausdrückten, indem manche Autoren die eigene Sprache beibehielten,
andere hingegen sich für das Deutsche als Medium ihrer Kreativität
entschieden, neigt die jüngere Generation der Eingewanderten, die in
Deutschland die Schule besucht und sich sozial assimiliert haben, viel
stärker dazu, das Deutsche als die eigene Muttersprache zu betrachten.
Insgesamt spielt der Grund, der zur Migration geführt hat, immer noch
eine wesentliche Rolle bei einer solchen Entscheidung; aber, egal ob
Gastarbeiter, Asylanten oder Spätaussiedler, haben die schreibenden
Ausländer die Literatur in Deutschland in den letzten fünfzig Jahren
durchaus mitgeprägt, und das Handbuch macht sichtbar, wie weit ihr
Einfluß und ihr Anteil innerhalb des kulturellen Lebens in Deutschland
nach dem Zweiten Weltkrieg reichen.
Gabriella Rovagnati
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