Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 9(2001) 1
[ Bestand in K10plus ]

Das wissen nur die Götter


01-1-014
Das wissen nur die Götter : deutsche Redensarten aus dem Griechischen / Reinhard Pohlke. Mit 19 Lithographien von Honoré Daumier. - Düsseldorf [u.a.] : Artemis & Winkler, 2000. - 240 S. : Ill. ; 20 cm. - ISBN 3-7608-1964-8 : DM 29.80
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In den letzten Jahren sind etliche Wörterbüpcher antiker oder nur lateinischer Zitate, geflügelter Wörter o.ä. neu erschienen oder wiederaufgelegt worden.[1] Pohlke, laut Waschzettel ein Schulmann der jüngeren Generation,[2] bewegt sich in diesem Rahmen; jedoch legt er den Schwerpunkt auf griechische Quellen und geht auch sonst eigene Wege:

1. Wie er in dem kurzen Vorwort S. 7 - 10 erläutert, will er gerade nicht Zitate bringen, sondern "bildhafte" Redensarten, d.h. Ausdrücke, mit denen etwas anderes gemeint ist als ihr ursprünglicher Sinn (z.B. drakonisch nicht auf den athenischen Gesetzgeber Drakon, sondern auf besonders harte Strafen bezogen). Er teilt diese in drei Gruppen ein: (1) Einzelwörter, d.h. Namen (Adonis, Mentor) oder Sachen (Schwanengesang) oder Zusammensetzungen bzw. Ableitungen (Pyrrhussieg, gigantisch). Diese Gruppe macht etwa zwei Drittel der Stichwörter aus. (2) Sprichwörtliche Redensarten (Auf Rosen gebettet sein; Glück im Unglück). (3) Echte Sprichwörter (Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer; Zeit ist Geld). Zitate möchte er dann aufnehmen, "wenn sie im Deutschen nicht mehr als Zitate empfunden werden und damit zu einem Sprichwort geworden sind" (Liebe macht blind; Das Leben ist ein Puppenspiel), und empfiehlt für sie im übrigen die Zitateverzeichnisse von Bartels[3] und Bayer.[4] Daß diese theoretische Aus- und Eingrenzung in ihrer Realisierung nicht ganz überzeugt, ist unwesentlich.

2. Er bringt relativ wenige (ca. 300) Lemmata, die er umso ausführlicher kommentiert und mit Belegstellen dokumentiert und die auch oft als Aufhänger für weitere Redensarten (z.B. Uriasbrief unter Bellerophonsbrief) dienen. Diese Anlage ist mit dem Buch von Bartels vergleichbar.

3. Einzelne Lemmata sind zusätzlich illustriert durch insgesamt 19 Lithographien von Honoré Daumier aus dem Zyklus Histoire ancienne (1842 - 1843), auf denen griechische Mythen in dem für Daumier typischen, leicht karikierenden und jedenfalls ganz unheroischen Stil dargestellt werden. Zusätzlich zeigt der Einband eine moderne Variante des Bildmotivs "Europa mit dem Stier", die anscheinend den Artikel Hörner aufsetzen illustrieren soll, denn ein Artikel "Europa" fehlt.

Jeder Artikel ist vierteilig aufgebaut. Die Kopfzeile bietet das Lemma fett in Großbuchstaben. Als Teil 2 folgen eine erklärende "Übersetzung", d.h. ein nicht-bildliches Äquivalent, und - vor allem bei Ein-Wort-Lemmata - weitere Redewendungen mit dem Lemma.[5] Unter MUSE werden S. 135 - 136 auf fast einer halben Seite Ausdrücke wie Musentempel, von der Muse geküßt werden, die zehnte Muse aufgeführt und "übersetzt". Daraus ergibt sich ein größerer Informationsreichtum, als die Zahl von ca. 300 Lemmata vermuten läßt.

Der Hauptteil (Teil 3) besteht in einer sorgfältigen Erklärung der urspünglichen griechischen und ggf. lateinischen Bedeutung, der Entstehung des bildlichen Gebrauchs und der Verwendung im Deutschen, meist mit Angabe des frühesten deutschen Belegs gemäß dem Grimmschen Wörterbuch. Der übermäßig klein und eng gedruckte vierte Teil schließlich ist in folgende Rubriken gegliedert, die ohne Absätze aneinandergehängt sind: weiterführende Literaturangaben (hier vor allem Hinweise auf verwandte Nachschlagewerke wie Bartels, Büchmann,[6] Röhrich[7]); Anmerkungen zum Hauptteil (vor allem Stellennachweise);[8] Rezeption des Motivs in der Literatur-, Musik- und Geistesgeschichte (hier meist nur Hinweise auf Standardwerke zur Stoff- und Motivgeschichte, aber auch Notizen wie z.B. unter Medusenhaupt "Popsong: Die Gruppe UB 40 besang 1980 Margaret Thatcher als 'Madam Medusa'" oder unter Titan Erwähnung der amerikanischen Rakete und des Schiffs "Titanic");[9] ausgewählte Textbeispiele aus der Neuzeit; Entsprechungen in anderen modernen Sprachen (hier finden sich sogar niederländische und russische - in kyrillischer Schrift und transskribiert - Äquivalente).

Die alphabetische Anordnung der Artikel (Ä Ö Ü wie A O U) ist bei Ein-Wort-Lemmata unproblematisch, nicht aber bei mehrteiligen Ausdrücken, denn über das für die Sortierung maßgebliche hauptsinntragende Wort kann man manchmal geteilter Meinung sein. So steht Im Trüben fischen unter F, Goldene Worte und Goldenes Zeitalter unter G, aber Goldene Berge versprechen unter B. Das lateinische ex ungue leonem (pingere) erscheint unter K wie Klaue, Pylades als der sprichwörtliche treue Freund unter O wie Orestes. Es gibt keine Verweisungen zum Auffangen solcher Zweifelsfälle (nur Querverweise zwischen Artikeln) und leider auch keinerlei Register!

Über die Auswahl der Lemmata gemäß dem im Vorwort entwickelten theoretischen Konzept kann man bei einem solchen Werk immer verschiedener Meinung sein; z.B. ist nicht ganz einzusehen, warum Glück im Unglück aufgenommen ist, "Der Würfel ist gefallen" aber nicht. Etwa ein Viertel der Lemmata sowie zahlreiche der im zweiten Teil der Artikel aufgeführten Ausdrücke hat Pohlke mit Sternchen als "wenig oder fast nicht mehr in Gebrauch" (S. 10) gekennzeichnet, also wohl vor allem wegen ihres Vorkommens in älterer Literatur berücksichtigt; darunter befinden sich etliche, die den wenigsten Lesern als sprichwörtlich geläufig sein dürften, wie z.B. Thyrsusschwinger, Zo‹lus. Andrerseits werden bekannte Redensarten vorgeführt, von deren griechischem Ursprung die meisten Leser überrascht sein dürften, wie z. B. unter aller Kanone (S. 107), was nicht mit Artillerie, sondern mit dem Kanon zu tun hat.

Die große Stärke des Buches liegt in der instruktiven, genauen, zuverlässigen und verständlichen Kommentierung und Dokumentation der Redensarten. Pohlke möchte dabei offenbar Lesern mit und Lesern ohne Griechisch- und Lateinkenntnisse gerecht werden. Alle antiken Wörter und Zitate werden in Übersetzung und meistens auch im Originaltext gebracht. Die meisten Übersetzungen scheinen von Pohlke selbst zu stammen und sind genau und korrekt.[10] Nur für Homer wird manchmal auf die populäre, aber ungenaue Übersetzung von Voss zurückgegriffen, die Pohlke besser auch weggelassen hätte.[11] Griechische Wörter, Wendungen und Namen werden transskribiert; bei Namen werden ggf. auch die lateinische und die deutsche Form angegeben (z.B. Kerberos/Cerberus/Zerberus). Sehr ausgiebig verwendet der Autor Unterstreichungen zur Angabe der Betonung antiker Wörter sowie des Versakzents bei metrischen Zitaten.[12] Auch die wenigen Zitate aus neueren Fremdsprachen werden, soweit zweckmäßig, zweisprachig gebracht (z.B. Dante S. 91, Anm. 2); dieser Service sollte auch auf Mittelhochdeutsches angewendet werden (S. 41, Anm. 2).

Ausschlaggebend für das positive Gesamturteil ist die hohe Qualität der Erläuterungen zu den Redensarten und der Dokumentation durch die Belegstellen und der daraus resultierende hohe Informationsgehalt. Zwar ist bei den Nachweisen im Kleingedruckten "Vollständigkeit [...] verständlicherweise weder jemals erreichbar noch überhaupt beabsichtigt" (S. 9), doch sind die Belege jedenfalls instruktiv ausgewählt (mit besonderer Berücksichtigung der frühesten). Druckfehler oder ähnliche Versehen muß man sehr lange suchen. Negativ anzumerken sind das Fehlen von selbständigen Verweisungen und von Registern sowie der allzu klein und eng gedruckte und dadurch unübersichtliche vierte Teil der Artikel, wo das Auge z.B. oft Mühe hat, die Anmerkungsnummern zu finden.

Bernd Bader


[1]
Vgl. zuletzt IFB 00-1/4-046. (zurück)
[2]
Für Hinweise, Kommentare usw. gibt er seine E-mail-Adresse an: reinhard@pohlke.de (zurück)
[3] Veni, vidi, vici : geflügelte Worte aus dem Griechischen und Lateinischen / ausgew. und erl. von Klaus Bartels. - 9. Aufl. - Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1992. - 216 S. ; 19 cm. - Früher im Artemis-Verlag, Zürich und München. - ISBN 3-534-11920-7 : DM 29.80, DM 24.00 (für Mitglieder) [2797]. - Rez.: IFB 95-4-551. (zurück)
[4]
Expressis verbis : lateinische Zitate für alle Lebenslagen / Karl Bayer. - 2., verb. Aufl. - Düsseldorf ; Zürich : Artemis & Winkler, 1998. - 702 S. ; 25 cm. - ISBN 3-7608-1128-0 : DM 49.80 [5318]. - Rez.: IFB 99-1/4-051.
Weit geeigneter für diesen Zweck ist jedoch Bayers anderes Zitate-Buch:
Nota bene! : das lateinische Zitatenlexikon / von Karl Bayer. - 3., erw. und überarb. Aufl. - Düsseldorf ; Zürich : Artemis & Winkler, 1999. - 676 S. ; 25 cm. - ISBN 3-7608-1161-2 : DM 98.00 [5522]. - Rez.: IFB 99-1/4-049.
Allerdings ist dieses (auch bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt, für deren Mitglieder erhältliches) Wörterbuch von Bayer gleichfalls nicht sonderlich empfehlenswert, wie man in der genannten Rezension nachlesen kann. (zurück)
[5]
Als Beispiel (S. 123):
LORBEEREN ERNTEN. Gerühmt werden, Erfolg haben (auch: L. pflücken); Lorbeer: Ruhm, Ehrung; Vorschußlorbeeren bekommen: noch vor einer Leistung gelobt werden [...]; sich auf seinen Lorbeeren ausruhen / auf seinen Lorbeeren eingeschlafen sein: nach großen Leistungen bequem werden" usw.
Konsequent wäre es deshalb gewesen, den Artikel nur mit LORBEER zu überschreiben. (zurück)
[6]
Geflügelte Worte : der klassische Zitatenschatz / gesammelt und erläutert von Georg Büchmann. Fortges. von Walter Robert-tornow ... - 40. Aufl. / neu bearb. von Winfried Hofmann. - Frankfurt/M. ; Berlin : Ullstein, 1995. - IX, 613 S. ; 23 cm. - ISBN 3-550-06829-8 : DM 39.80 [1951]. - Rez.: IFB 95-4-548. (zurück)
[7]
Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten / Lutz Röhrich. - [Neuausg.]. - Freiburg [u.a.] : Herder. - 25 cm. - ISBN 3-451-22080-6 (Gesamtwerk) [1476]. - Bd. 1 (1991) - 3 (1992). - Rez.: IFB 94-1-035. - Inzwischen auch in einer mehrmals wieder aufgelegten Taschbuchausgabe erhältlich:
Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten / Lutz Röhrich. - Taschenbuchausg. - Freiburg [u.a.] : Herder, 1994. - Bd. 1 - 5 ; 19 cm. - (Herder-Spektrum ; 4400). - Originalausg. 1991 - 1992 u.d.T.: Röhrich, Lutz: Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. - ISBN 3-451-4400-5 : DM 128.00 [2897]. - Rez.: IFB 95-4-531. (zurück)
[8]
Die folgenden Rubriken begegnen nicht immer und sind z.T. in den Hauptteil integriert. (zurück)
[9]
Diese Rubrik könnte besonders reizvoll ausgebaut werden; ein kleines Beispiel: die zwei Hochhäuser "Kastor und Pollux" in Frankfurt am Main. (zurück)
[10]
Der Rezensent hat nur einen Fehler gefunden, in dem Terenz-Zitat S. 38, Anm. 3. (zurück)
[11]
Manchmal jedoch erscheint die Voss'sche Formulierung sogar als Lemma, so bei Rufer im Streit und Schwerhinwandelndes Hornvieh; im ersten Fall hat Pohlke dankenswerterweise die korrekte Übersetzung hinzugefügt, im zweiten nicht. (zurück)
[12]
Übertrieben sind jedoch die Betonungsstriche bei deutschen Wörtern in Lemmata, z.B. geflügelte, Gehege, Gelegenheit, gigantisch (S. 63 - 66), ja sogar Gold gegen Bronze S. 69. (zurück)

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