Wenn die Neubearbeitung im Textteil lediglich um knapp 100 Seiten zugenommen hat, so war das nur dadurch möglich, daß zugunsten der sehr zahlreichen Neuerscheinungen der letzten fast sieben Jahrzehnte nicht nur ältere Einzeltitel in großer Zahl geopfert wurden, sondern auch ganze Gattungen von Verzeichnissen: Allgemeine Literaturzeitschriften (damals Kap. IX), Allgemeinenzyklopädien (IX) und Biographien (XVI); andere Bereiche wie die Bibliographien der verkleideten Literatur (XV) wurden unter starker Straffung anderen Kapiteln zugeordnet, wie überhaupt die Gliederung in jetzt nur noch sieben nicht mehr gezählte Kapitel (gegenüber sechzehn gezählten Kapiteln) die Struktur des Werkes sinnvoll verändert hat: 1. Geschichte der Bibliographie (ein konziser Überblick auf 46 S. in drei zeitlichen Abschnitten für die Zeit bis zum 16. Jahrhundert, für das 17. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts und für das 20. Jahrhundert); 2. Bibliographien der Bibliographien; 3. Allgemeine internationale Bibliographien unter Einschluß der großen Kataloge, gegliedert nach Publikationsarten); 4. Bibliophile Verzeichnisse; 5. Inkunabelverzeichnisse; 6. Listen guter und schlechter Bücher (d.h. empfehlende bzw. verbietende Listen, mit rund 25 Seiten das kürzeste Kapitel); 7. Allgemeine nationale Bibliographien (mit 400 Seiten das bei weitem umfangreichste) untergliedert nach Kontinenten, innerhalb nach Verzeichnissen für mehrere Länder und solchen für Einzelne Länder im Staatenalphabet. Die Kapitel für besondere Schriftengattungen im Schneider wurden auf Kapitel 3 bzw. 7 bei den Nationalbibliographien verteilt.
Wie im Schneider beginnt Nestler die Kapitel und Abschnitte (z.B. die für die einzelnen Nationalbibliographien) mit z.T. ausführlichen historischen und typologischen Einleitungen unter Zitierung einschlägiger Literatur in Fußnoten. Die Abfolge der Titel in den Abschnitten für die Nationalbibliographien (um das umfangreichste Kapitel herauszugreifen, hier am Abschnitt für Italien vorgeführt) ist logisch und dank Zwischenüberschriften und Marginalien übersichtlich zugleich: Bibliographien der Bibliographien: von den allgemeinen zu den speziellen, Verzeichnisse für mehrere Publikationsarten, beginnend mit den laufenden und chronologisch immer weiter zurückschreitend bis zum 16. Jahrhundert (den Schritt, auch die nationalen Inkunabelverzeichnisse der Nationalbibliographie zuzuschlagen, ist Nestler nicht gegangen), Verzeichnisse für einzelne Publikationsarten (Zeitschriften etc.).
Die Titelaufnahmen sind knapp, aber ausreichend, wenn man auch die Nennung des Verlages vermißt, der doch häufig für ein Programm steht (man denke nur an die zahlreichen, hier natürlich zitierten Bibliographien aus dem Verlag des vorliegenden Bandes); würden sie auf alle Veränderungen bei vielbändigen und laufenden Verzeichnissen eingehen, hätte der Band leicht den doppelten Umfang haben müssen. Störend ist freilich bei den noch laufenden Bibliographien der pauschale Vermerk "ff." nach dem Erscheinungsjahr des ersten Bandes, selbst wenn dann in der Annotation häufig die viel wichtigere Berichtszeit des ersten Bandes genannt ist. Hätte der Verfasser - ungeachtet des beträchtlichen Aufwandes - sich entschlossen, auch das Berichts- und Erscheinungsjahr des letzten Bandes im Augenblick des (nicht genannten) Redaktionsschlusses anzugeben, hätte er bei nicht wenigen Titeln wohl kein "ff." mehr gesetzt, oder zumindest ein Fragezeichen hinzugefügt. Die beschreibenden, z.T. auch wertenden Annotationen sind zumeist gleichfalls knapp, ausführlicher dann, wenn es die Sache erfordert.
Das Register der Titel kennt Eintragungen unter Verfassern und
Herausgebern (nicht aber unter Urhebern), Sachtiteln (nur bei
Sachtitelwerken) und Zitiertiteln und erschließt auch die Annotationen
und die Textteile, das der Schlagwörter enthält außer den eigentlichen
Sachschlagwörtern und den Ländernamen der Gliederung auch "die in den
Textpassagen enthaltenen ... Namen von Personen, Datenbanken,
Körperschaften, Verlagen, Städten, dazu auch einzelne Schriften und
Verzeichnisse mit exemplarischer bzw. historischer Bedeutung."[2]
Ein Grund, weshalb die Suche nach einem Rezensenten für diesen Band
ohne Erfolg blieb, war u.a. das Argument, man wollte sich nicht mit
einem der Vergangenheit zugewandten Werk auseinandersetzen, in dem die
bibliographischen Datenbanken zwar nicht völlig fehlten, doch ganz
offensichtlich eher schicklichkeitshalber erwähnt würden. Letzteres
trifft zweifelsohne zu und man merkt bereits an den Formulierungen,
daß dieses Gebiet dem Autor viel weniger vertraut ist, als die Welt
der gedruckten Bibliographien. Das kann allerdings kein Grund sein,
dieses Werk nicht als das zu würdigen, was es ist: als
Bestandsaufnahme der traditionellen, d.h. gedruckten Bibliographie an
der Schwelle einer neuen, durch die Zugriffsmöglichkeit auf digitale
Datenspeicher im Internet geprägten Epoche.
Freilich sind die Auswirkungen dieser Entwicklung auf die Ausstattung
der bibliographischen Informationsapparate ebensowenig überschaubar,
wie die Folgen für die Ausbildung[3] des bibliothekarischen Nachwuchses
in Studiengängen, in denen das Wort Bibliothek und Bibliographie nach
Möglichkeit vermieden wird. Es könnte sich auch erweisen, daß es
entgegen der Überzeugung des Autors, "daß eine zusammenfassende,
bewertende Darstellung der modernen theoretischen Ansätze [der
Bibliographie] zu wünschen wäre", er die Rechnung ohne die Nutzer
macht, die davon profitieren sollten. Braucht man beispielsweise noch
das detaillierte Wissen um die Anlage des gedruckten Katalogs der
British Library, wenn dieser heute im Internet zugänglich ist? Soll
man dessen erste gedruckte Ausgabe soz. als Monument der
Bibliotheks- und Bibliographiegeschichte auf Dauer archivieren, wo er
doch in
der Benutzung längst von der Saur'schen Kumulation abgelöst wurde, die
jetzt gleichfalls durch das genannte Internet-Angebot obsolet ist? Der
Rezensent würde sich, wenn er allein bestimmen könnte, sicherlich
dafür entscheiden, beide gedruckten Werke aufzubewahren. Aber soll er
auch noch das neueste, gerade angekündigte Fünfjahresverzeichnis der
DNB für die Berichtszeit 19../.. trotz seines exorbitanten Preises für
seine Bibliothek erwerben? Der Beantwortung dieser Frage ist man
spätestens dann enthoben, wenn eine Nationalbibliographie gar nicht
mehr in gedruckter Form erscheint, nicht einmal in der Grundstufe, die
man als Fachreferent zu Erwerbungszwecken benötigt: "A partir de 2001,
la Bibliothèque Nationale de France a décidé de faire paraître la
Bibliographie nationale française sous forme électronique sur son site
Internet (www.bnf.fr) pour remplacer la version sur papier. L'accès à
cette publication sera libre et gratuit." Man wird sehen, ob man die
Neuzugänge in systematischer Form so angeboten bekommt, wie man es zur
Titelauswahl benötigt: der Rezensent hat da ebenso seine Zweifel, wie
beim Blick auf die allbekannte Instabilität der Datenbank der BNF. Bei
Fachbibliographien, bei denen sich die Entscheidung zwischen
gedruckter und digitaler Form noch häufiger stellt, wird man dagegen
kaum mehr für die gedruckte Version plädieren können, auch wenn man
für die digitale Version, die aber eben den Vorzug der Recherche über
viele Berichtsjahre besitzt, zu hohen Preisen dauernd neu zur Kasse
gebeten wird. Das sind einige willkürlich herausgegriffene Beispiele
dafür, daß wir heute wohl in der Tat einem Bruch in der Präsentation
bibliographischer Information beiwohnen. Dafür, daß die alte Zeit der
gedruckten Bibliographien, die keineswegs immer eine "gute" war und
die noch länger durchaus Gegenwart hat, nicht völlig aus dem vom
Bildschirm begrenzten Blickfeld verschwindet, leistet der Nestler gute
Dienste.
Klaus Schreiber
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