Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 8(2000) 1/4
[ Bestand in K10plus ]

Kleines Typenverzeichnis der europäischen Zauber- und


00-1/4-309
Kleines Typenverzeichnis der europäischen Zauber- und Novellenmärchen / Diether Röth. Im Auftrag der Märchenstiftung Walter Kahn. - Baltmannsweiler : Schneider-Verlag Hohengehren, 1998. - 213 S. ; 23 cm. - ISBN 3-89676-099-8 : DM 36.00
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Typenverzeichnisse und Motivindizes sind das Grundwerkzeug der Volkserzählungsforschung. Sie ermöglichen das geographische, aber auch bibliographische Auffinden der für das Textverständnis unerläßlichen Varianten. Sie antworten nicht nur auf historisch-geographische Fragen. Ohne sie kann weder der Völker- noch der Individualpsychologe, nicht der Historiker und nicht der Ethnologe die Masse gedruckter und - umfangreicher - ungedruckter Volkserzählungen aufschlüsseln und nutzen. Regionale Indizes können darüberhinaus in nuce das Repertoire der ihnen zugrundeliegenden Kulturen aufzeigen, bis hin zu den räumlichen Bedingtheiten soziokultureller Vernetzungen. Vergleichende Volkserzählungsforschung und damit vergleichende Märchenforschung kann ohne sie nicht betrieben werden. "A body of folk literature which is not described by an appropriate index, cannot be compared to other bodies of literature. The work of indices is only at its beginnings - the literature of most of the world's cultures is still closed to investigation as it has not been indexed": so die israelische Folkloristin Heda Jason.[1]

Das Verzeichnis der Märchentypen von Antti Aarne,[2] Keimzelle aller Märchenindizes, wurde 1910 veröffentlicht und in der englischen, um ein Vielfaches erweiterten Fassung von Stith Thompson (1928) zur internationalen "Märchenbibel".[3] Eine regionale Fassung für den deutschsprachigen Raum fehlte, sie liegt jetzt vor und läßt kaum Wünsche offen. Röth hat keine Übersetzung des Aarne/Thompson (ATh) geliefert, sondern sich auf das Herzstück des Materials, die Zauber- und Novellenmärchen (ATh 300 - 725 und 850 - 981) beschränkt und alle Randbereiche ausgeklammert. Die rund 200 berücksichtigten Märchen hat er mit beeindruckender Gründlichkeit und bewundernswerter Materialkenntnis durchgearbeitet, die Zuordnung aller Varianten neu bestimmt und gegenüber Thompson teilweise geändert. Professionalität und Sachkenntnis des Herausgebers der seit 1951 erscheinenden Märchenreihe Das Gesicht der Völker sind unverkennbar. - Materialgrundlage bilden etwa 95 Anthologien mit 6000 Texten der europäischen Überlieferung, die in vier deutschsprachigen Märchenreihen publiziert wurden; die Quellentexte sind also praktisch in jeder Bibliothek nachzuschlagen - ein Vorteil, der sich gar nicht überschätzen läßt.[4] Zugrunde liegt damit ein Quellenkorpus, das der professionellen Betrachtung genügt, aber auch demjenigen zugängliches Material an die Hand gibt, dessen Märcheninteresse weniger wissenschaftlich bestimmt ist. Röths Typenverzeichnis ist ein Regionalindex für den europäischen Raum und kann aufgrund seiner Quellen nur das im deutschsprachigen Bereich rezipierte Material umfassen. Der Verfasser erklärt, er wolle berechtigte Kritiken an den Aarne-Thompsonschen Typisierungsprinzipien mit seinem Buch nicht durch einsichtigere Ordnungen oder grundlegende Änderungen ersetzen - die fällige Revision des Grundwerks könne nur durch ein internationales Gremium erfolgen.[5] Er folgt damit den meisten regionalen Verzeichnissen, die, wenn sie das System ATh beibehalten, das Grundwerk für einzelne Kulturen, Völker, geographische Bereiche ergänzen, mit ihm gemeinsam benutzt werden können und überwiegend in der Reihe Folklore Fellows communications (FFC) versammelt sind.

Das für den internationalen Vergleich gedachte Typenverzeichnis ATh stützte sich zunächst nur auf mittel- und nordeuropäische Texte: die Kinder- und Hausmärchen (KHM) der Brüder Grimm, die dänische Sammlung Svend Grundtvigs, das Material der finnischen Literaturgesellschaft. Aarne empfand die Quellenlage als unbefriedigend; zwei Jahre nach dem "Typenverzeichnis" veröffentlichte er eine Konkordanz seiner Klassifikation zu russischen, sizilianischen und griechischen Sammlungen.[6] Der Vorwurf des Eurozentrismus blieb auch der Thompsonschen Bearbeitung erhalten, obgleich die Quellenbasis wesentlich verbreitert wurde; aber außereuropäische Texte lassen sich oft schwer oder gar nicht nach ATh klassifizieren. So sind etwa die Verzeichnisse der Märchentypen Chinas, der Türkei, Madagaskars und Koreas nach eigenen Systemen angelegt, die sich denn auch der internationalen Vergleichbarkeit weitgehend entziehen und in denen die Gattungsgrenzen des Märchens häufig überschritten werden.[7]

Für die Anlage des deutschsprachigen Typenverzeichnisses stellt dieses Manko eher eine Erleichterung dar, insofern die Aarne-Thompsonsche Ordnung dem Material grundsätzlich entspricht. Neugliederungen an Einzelstellen gegenüber ATh sind trotzdem immer wieder zu finden (ein Beispiel für alle: ATh 400 ff.). Doch liegen die Hauptprobleme in der Strukturanalyse des einzelnen Märchentyps und in der Zuordnung der Varianten, manchmal im Gegensatz zur Quelle und zu vorliegenden Nachweisen des jeweiligen Typs. Die Quellen konnten nicht einfach verzettelt und früher vergebene Systemstellen übernommen werden. "Eine nicht geringe Anzahl von Typbestimmungen" in den Quellen sei "nicht völlig zuverlässig", schreibt Röth vorsichtig. "Für mich ergab sich daher die Notwendigkeit, jede einzelne Variante vor Übernahme in den Katalogtext nochmals (zumindest quer) zu überlesen - bei mehr als 6000 Varianten insgesamt ein etwas mühsames, aber nicht zu umgehendes Unterfangen".[8] Nun sind Märchen keine einfach zu klassifizierenden Texte; sie bestehen aus wechselnden Motivketten, die untereinander je nach Überlieferungslage Verbindungen eingehen und wieder lösen, und wie bei der bibliothekarischen Klassifikation muß die augenfällige Zuschreibung nicht immer die richtige sein. Eine genauere Durchsicht des Bandes ergibt, daß Röth nicht nur seine Quellentexte auf ihre Zuordnung geprüft hat, sondern überhaupt alle erwähnten Varianten (z.B. die Zuordnung von "Blaubart"-Varianten, ATh 312, in Kurt Rankes Schleswig-Holsteinischen Volksmärchen).

Röth hat den Auftrag für sein Buch von der Märchenstiftung Walter Kahn erhalten, einer privaten Einrichtung, der es wesentlich zu danken ist, daß das ernsthafte Interesse an der Volkserzählung in Deutschland nicht auf den Universitätsbereich beschränkt bleibt. Der Märchenboom im psychologischen und esoterischen Bereich und die Vermarktung des Märchens in den Kindermedien gaukeln dem Betrachter auf den ersten Blick ein Bild von blühenden Märchenlandschaften vor, das auf den zweiten kritischer gesehen werden müßte. Röth und seinen Auftraggebern geht es deshalb auch darum, "fachlich ungeschulten Märchenfreunden ein Arbeitsinstrument zu bieten, sich in dem reichen, schier unübersichtlichen Erzählmaterial wenigstens ansatzweise zurechtzufinden".[9] "Wichtig ist, daß jeder, der sich mit einer Märchenfassung beschäftigt, über die Typennummer Zugang zu Varianten findet, die ihm erst eigentlich die Augen öffnen, was das Märchen sagen will. Und wichtig ist auch, daß die Benutzer überhaupt Märchentypen erkennen, da allzuoft Motive mit Typen verwechselt werden und dadurch unzureichende, ja falsche Zuschreibungen erfolgen."[10] Diesem Ziel dient nicht zuletzt das kaum je versagende Schlagwortregister des Bandes, dessen Gebrauchsfähigkeit komplizierter angelegte Registersysteme, für die es in der Märchenliteratur eine Reihe von Beispielen gibt, mühelos aus dem Felde schlägt; Stichwörter aus den Märchentiteln in den Quellen verweisen zusätzlich zu frei gewählten Sachschlagwörtern nicht auf Seitenzahlen, sondern auf die Nummer des Märchentyps. Das gab es bisher im deutschsprachigen Bereich so einfach zugänglich noch nicht und ist auch für Sachkenner eine wesentliche Arbeitserleichterung.

Unser Autor hat auch ein Problem der Lösung nähergebracht, das im Zusammenhang mit dem Vorwurf des Eurozentrismus steht und dessen Lösung in der Enzyklopädie des Märchens (EM) ebensowenig befriedigt wie in Walter Scherfs Märchenlexikon.[11] Gemeint ist die Bezeichnung einzelner Märchentypen. Der Rezensent hat in der gerade zitierten Rezension der Hoffnung Ausdruck gegeben, Röths Typenkatalog werde zur normierten Ansetzung von Typenbezeichnungen führen; der Verfasser hat sich in der Tat nicht der oft problematischen Namengebung Scherfs angeschlossen, sondern die wohlbekannten KHM-Benennungen wieder aufgegriffen (es gibt wieder Hänsel und Gretel statt Die Kinder bei der Mästhexe, Rotkäppchen statt Das Mädchen und der Freßdämon im Hause der Großmutter und Schneewittchen statt Die von der Stiefmutter verfolgte Tochter findet Zuflucht bei einer Bande junger Männer). Der deutschsprachige Regionalkatalog darf sich, könnte man sagen, auch die überlieferten Bezeichnungen leisten - daß es gute Gründe gibt, in einzelnen Fällen davon abzuweichen, sei unbestritten, und so kann man sich mit der Jungfrau im Turm (gemäß EM als Übersetzung von The maiden in the tower bei ATh) schließlich befreunden (bei Scherf: Das Petersilienmädchen und die Dämoninnen). Wo eine geänderte Typeneinteilung zusätzliche oder geänderte Benennungen nötig macht, fällt die Rücksicht auf, mit der sie dem überlieferten Sprachgebaren eingepaßt werden. Soweit die Titel nicht die überlieferten deutschen sind, entsprechen sie in der Regel den Ansetzungen der EM oder werden bei Waldemar Liungman (Die schwedischen Volksmärchen, 1961) gefunden (z.B. ATh 852: EM - Lügenwette, Redekampf mit der Prinzessin; Röth und Liungman - Das ist eine Lüge).

Ein Nachschlagewerk erster Güte. Wie er früher ohne dieses ausgekommen ist, weiß auch der Rezensent nicht.

Willi Höfig


[1]
Auf dem 8. Kongress der International Society for Folk Narrative Research (ISFNR) Bergen 1984 (Zitat nach Konferenzpapier). (zurück)
[2]
Verzeichnis der Märchentypen / Antti Aarne. Mit Hülfe von Fachgenossen ausgearb. - Helsinki, 1910. - (Folklore Fellows communications ; 3). - Aktuelle Fassung: The types of the folktale / transl. and enlarged by Stith Thompson. - Helsinki, 1961. - (Folklore Fellows communications ; 184). - 2. print 1964. (zurück)
[3] Zum deutschsprachigen Märchenkatalog / Diether Röth. // In: Märchenspiegel. - 6 (1995),4, S. 25. (zurück)
[4]
Es handelt sich um die Bände mit europäischen Texten aus der Reihe Das Gesicht der Völker (Verlag Röth, Kassel, später Regensburg); die Nachkriegsbände der Märchen der Weltliteratur (Diederichs, Düsseldorf, Köln, später München); die Märchenbände aus dem Insel-Verlag (Leipzig), die teilweise als Lizenzausgaben im Drei-Lilien-Verlag, Wiesbaden erschienen und keinen Reihentitel tragen; schließlich die Reihe Volksmärchen des Akademie-Verlags, Berlin. (zurück)
[5]
Arbeitsbericht deutschsprachiges Typenverzeichnis / Diether Röth. // In: Märchenspiegel. - 8 (1997), Nov., S. 106 - 107. (zurück)
[6]
Übersicht der mit dem Verzeichnis der Märchentypen in den Sammlungen Grimms, Grundtvigs, Afanasjews, Gonzenbachs und Hahns übereinstimmenden Märchen / Antti Aarne. - Helsinki, 1912. - (Folklore Fellows communications ; 10). - 2. Aufl. 1967. (zurück)
[7]
Einzelheiten und bibliographische Nachweise in: Aarnes Typenkatalog muß revidiert werden - aber wie? / Jan-Öjvind Swahn. // In: Märchenspiegel. - 7 (1996),Febr., S. 22 - 23. (zurück)
[8]
Briefliche Mitt. von Dr. Diether Röth, Kassel, vom 4.12.1995. (zurück)
[9]
Vgl. Anm. 5. - Röth hat einen Teil seiner Änderungen gegenüber den Typzuschreibungen in den Quellen dokumentiert in: Berichtigte Märchentypisierungen / Dieter Röth. // In: Märchenspiegel. - 10 (1999), Aug., S. 82 - 83. (zurück)
[10]
Vgl. Anm. 3. (zurück)
[11]
Das Märchenlexikon / Walter Scherf. - München : Beck, 1995. - Bd. 1 - 2. ; 23 cm. - ISBN 3-406-39911-8 : DM 148.00 [3150]. - Rez.: IFB 96-1-071. (zurück)

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