Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 8(2000) 1/4
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Ausgemerzt!


00-1/4-261
Ausgemerzt! : das "Lexikon der Juden in der Musik" und seine mörderischen Folgen / Eva Weissweiler. Unter Mitarb. von Lilli Weissweiler. - Köln : Dittrich, 1999. - 444 S. ; 21 cm. - Enthält S. 181 - 375 Reprint von: Lexikon der Juden in der Musik, Berlin 1940. - ISBN 3-920862-25-2 : DM 58.00
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Knapp die Hälfte des vorliegenden Bandes (S. 181 - 375) nimmt der Reprint der 1. Aufl. 1940 des Lexikons der Juden in der Musik[1] ein. Auch wenn, wie es im Vorwort zum Original[2] heißt, "Die Reinigung unseres Kultur- und damit auch unseres Musiklebens von allen jüdischen Elementen ... erfolgt (ist)", blieb die Aufgabe, "ein Nachschlagewerk zu schaffen, das trotz der Schwierigkeiten der Materie den Stand unseres Wissens in einwandfreier Form wiedergibt. Die zuverlässigsten Quellen mußten ausfindig gemacht werden, um dem Musiker, dem Musikerzieher, dem Politiker und auch dem Musikfreund jene unbedingte Sicherheit zu geben, die hinsichtlich der Judenfrage gefordert werden muß" (S. 185). "Die Hauptarbeit an dem Werk wurde von Dr. Theo Stengel geleistet" (S. 189), der auf dem Titelblatt als Referent in der Reichsmusikkammer ausgewiesen ist, die treibende Kraft war jedoch (gleichfalls nach dem Titelblatt zitiert) "Dr. habil. Herbert Gerigk, Leiter der Hauptstelle Musik beim Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP." Ihm war es dank guter Beziehungen zu ebendiesem "Beauftragten", Alfred Rosenberg, gelungen, außer der Hauptstelle Musik im Amt Rosenberg auch das sog. 'Kulturpolitische Archiv' zu leiten, das für die "umfassende politische Kontrolle über das gesamte Kulturleben des NS-Staates" (S. 44 - 45) zuständig war und ohne dessen Unbedenklichkeitsbescheinigungen kein Kulturschaffender in der Öffentlichkeit tätig werden konnte. Ihm gingen zahlreiche Musikwissenschaftler zur Hand, unter denen der (zufällig gleichfalls) in diesem Heft von IFB mit seinem Werk über Orlando di Lasso vertretene Wolfgang Boetticher sich besonders hervortat,[3] was nicht hinderte, daß er nach dem Krieg den Lehrstuhl für Musikwissenschaft an der Universität Göttingen übernahm.

Das Lexikon ... beschränkt sich keineswegs auf die großen jüdischen Komponisten der Vergangenheit (Mendelssohn-Bartholdy, Meyerbeer, Offenbach) und der Gegenwart (Schönberg), sondern berücksichtigt auch Interpreten, Verleger und Musikpädagogen, so wenig bedeutend sie auch waren, und ebensowenig auf Deutsche, da es ja galt, die Aufführung der Musik ausländischer jüdischer Komponisten in Deutschland zu verhindern. Wie penibel die Bearbeiter vorgingen, zeigt, daß "selbst bei allgemein als Juden bekannten Personen ... in allen noch nicht einwandfrei urkundlich ausgewiesenen Fällen ein Kreuz als Vorbehaltskennzeichnung eingefügt (wurde)" (S. 187). Mit Hilfe zahlloser "Personalanfragen ... bei Einwohnermelde- und Kirchenämtern" (S. 11) versuchten sie, die "größtmögliche Zuverlässigkeit" (S. 187) zu erreichen, was aber etwa im Fall von George Gershwin nicht gelang, weshalb sein Eintrag mit dem genannten Kreuz markiert ist. Dank der teils von Mitarbeitern der Hauptstelle Musik selbst (darunter insbesondere W. Boetticher), teils von Denunzianten in den besetzten Ländern beigesteuerten Namen vermehrte sich der Anteil von ausländischen Juden von Auflage zu Auflage immer mehr. Von den genannten "Größen", die mit ausführlichen, abwertenden Artikeln[4] vertreten sind, abgesehen, beschränken sich die allermeisten auf Name, Geburts- und ggf. Todesort- und -datum sowie die musikalische Tätigkeit. Daß in zahlreichen Fällen bei Zeitgenossen nur der letzte Wohnort und kein Todesdatum angegeben ist, hängt in vielen Fällen mit den "mörderischen Folgen" des Lexikons ... zusammen, verlieren sich doch die Spuren vieler auf dem Weg in die Deportation oder in den Konzentrationslagern. Die Schicksale von 259 im Lexikon ... enthaltenen Deportationsopfern konnte die Herausgeberin durch Abgleich aller Namen an den Sterbebüchern von Auschwitz und sonstigen nationalen und lokalen Gedenkbüchern für die Opfer der Verfolgung der Juden ermitteln.[5] Ihre Namen und Daten sind auf S. 386 - 419 in alphabetischer Folge zusammengestellt. Ob die für die Deportation und Ermordung Verantwortlichen freilich das Lexikon ... benötigten oder überhaupt benutzten, ist eine andere Frage.

Die lange Einleitung enthält im ersten Kapitel zahlreiche Informationen über Das Amt Musik in Berlin als Kontrollinstanz für die Arisierung des deutschen Musiklebens,[6] so ausführlich über Herbert Gerigk und sein Personal (S. 60 - 79) sowie - für die Leser von IFB besonders interessant - über die Musik in Geschichte und Gegenwart, als dessen "Vater" Gerigk anzusehen ist (S. 48 - 60). Daß die MGG trotz ihres Status als 'kriegswichtiges' Werk damals nicht mehr erscheinen konnte, hängt mit dem Ende des 'Dritten Reiches' zusammen. Der neue, relativ 'unbelastete' Herausgeber, Friedrich Blume, konnte jedoch ab 1949 auf die Texte der schon von Gerigk rekrutierten Mitarbeiter zurückgreifen, die lediglich von den gröbsten Entgleisungen befreit werden mußten. Daß weder im Vorwort zu Lfg. 1 (1949) noch zu Bd. 1 (1951) der MGG dieser Vorgeschichte gedacht, sondern nur erwähnt wird, daß der "Gedanke der Enzyklopädie ... bereits 1943 von dem Bärenreiter-Verlag ... ausgegangen (ist)", verwundert nicht. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit den Quellen des Lexikons ..., enthält Fallbeispiele sowie Informationen über das bereits erwähnte Ausgreifen des Amtes in besetzte Länder. Man möchte wünschen, daß der von der Herausgeberin ins Auge gefaßte "Folgeband mit den Biographien der zu Unrecht vergessenen Emigranten und Verschollenen" (S. 11) zustande kommt.

Klaus Schreiber


[1]
Lexikon der Juden in der Musik : mit einem Titelverzeichnis jüdischer Werke / zsgest. im Auftrag der Reichsleitung der NSDAP auf Grund behördlicher, parteiamtlich geprüfter Unterlagen. Bearb. von Theo Stengel in Verbindung mit Herbert Gerigk. - Berlin : Hahnefeld, 1940. - 9 S., Sp. 11 - 380. - (Veröffentlichungen des Instituts der NSDAP zur Erforschung der Judenfrage ; 2).
Bis 1943 sind noch weitere drei, vermehrte Aufl. nachweisbar; eine fünfte Aufl., für die Korrekturfahnen vorlagen, konnte nicht mehr erscheinen:
[2. Aufl.]. - 1940. - 9 S., Sp. 10 - 393.
[3. Aufl.], 6. - 8. Tsd. - 1941. - 9 S., Sp. 10 - 404.
[4. Aufl.], 12. - 14. Tsd. - 1943. - 9 S., Sp. 11 - 404.
Bei der 4. Aufl. ist der Schluß des Vorworts ab S. 8 verändert. Ob es eine weitere Auflage gab, was der Sprung in der Tausenderzählung von 8 auf 12 nahelegt, konnte der Rez. nicht ermitteln.
Auch wenn die Herausgeberin des Reprints "die heute z.T. nicht mehr greifbaren Kriegsauflagen des 'Lexikons'" (S. 65) erwähnt, wäre es sinnvoll gewesen, die letzte und damit "vollständigste" dieser in der Tat selten gewordenen aber keineswegs verschwundenen Auflagen - die oben aufgeführten waren ohne Probleme im Leihverkehr erhältlich - nachzudrucken. (zurück)
[2]
Bei den folgenden Seitenangaben handelt es sich um die neue zusätzliche Paginierung der vorliegenden Ausgabe. (zurück)
[3]
Er spielte auch eine Rolle "als Beauftragter eines auf Musik spezialisierten Kunstraubkommandos - 'Sonderstab Musik' - seit 1940" (S. 60). Über diesen liegt seit 1996 die englischsprachige Untersuchung eines Holländers vor, die 1998 in deutscher Übersetzung erschien und die wegen der zahlreich zitierten und abgebildeten Dokumente von und über Gerigk, Bötticher u.a. zusätzlich herangezogen werden sollte: Sonderstab Musik : organisierte Plünderungen in Westeuropa 1940 - 45 / Willem de Vries. - Köln : Dittrich, 1998. - 380 S. : Ill. - ISBN 3-920862-18-X : DM 16.80 (Sonderpreis). (zurück)
[4]
Als Beispiel sei aus einem mittellangen Artikel über Curt Goldmann zitiert: "* Berlin 24. 7. 1870 gewissenlos und schnell schreibender Komp. und Bearb. von Musik aller Gattungen. Seine 30 (!!!) Ps. lauten: ... Goldmann begann seine Komponisten-Laufbahn mit Synagogen-Gesängen ..., ging jedoch bald zu der einträglicheren Schlagerfabrikation über ..." (S. 228 - 229). (zurück)
[5]
An der Sorgfalt der Herausgeberin kommen einem Zweifel, wenn man auf S. 412 ihres Nekrologs den Eintrag Paula Salomon prüft: "geb. am 21.12.1897 in Frankenthal (Pfalz), verschollen in Auschwitz; Sängerin, lebte in Berlin, Tiergarten, Alt-Moabit 106. Transport am 17.5.1943". Als pauschale Quellen gibt sie an: Gedenkbuch - Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 - 1945 (1986) [hier Bd. 2, S. 1283] sowie Gedenkbuch Berlins der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus (1995) [hier S. 1103] mit dem Hinweis der Herausgeberin in der Fußnote auf S. 428 "Hier Geburtsdatum: 21.12.1899, Geburtsort Rogasen (Posen)"; dieses Geburtsdatum gibt übrigens auch die erstgenannte Quelle an, doch handelt es sich in beiden Fällen mitnichten um die im Lexikon ... S. 236 - 237 (= S. 303 - 304 des Reprints) aufgeführte "Salomon, Paula, geb. Levi (Ps. Lindberg, Paula), * Frankenthal i. Pfalz 21.12.1897, Sgrn [Sängerin], MLn [Musiklehrerin] - Berlin", da diese dank ihrer Emigration nach Holland 1939 "zusammen mit ihrem Mann ... das Kriegsende im Untergrund (überlebte). Sie blieb in Holland und lebt heute [1992] in Amsterdam". Letzteres Zitat, illustriert mit mehreren Photos aus: Premiere und Progrom : der Jüdische Kulturbund 1933 - 1941 ; Texte und Bilder / E. Geisel ; H. M. Broder. - Berlin : Siedler, 1992, S. 171 - 180. - 1992 erschien ihre Autobiographie: Mein "C'est-la-vie"-Leben : Gespräch über ein langes Leben in einer bewegten Zeit / Paula Salomon-Lindberg. Aufgezeichnet von Christine Fischer-Defoy. - Berlin : Verlag Das Arsenal, 1992. - 171 S. : Ill. - ISBN 3-921810-97-3 : DM 26.80. - Sie verstarb in Amsterdam am 17.04.2000 im Alter von 102 Jahren (Frankfurter Allgemeine. - 00-04-19, S. 52). - Dazu der Kommentar, den Stephen Lehmann, Philadelphia, abgab, dem der Rez. diesen Hinweis verdankt: "Zu Zeiten, in denen die Leugnung des Holocaust wieder modisch wird, müßte man vorsichtiger mit den Fakten umgehen". (zurück)
[6]
Der Leser hätte sich präzise Angaben zu den einschlägigen Behörden, ihren Namen, Funktionen und Leitern gewünscht, zumal die Verfasserin deren Akten, soweit sie erhalten sind, eingesehen hat. (zurück)

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