Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 8(2000) 1/4
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Österreichische Literatur 1945 - 1998


00-1/4-172
Österreichische Literatur 1945 - 1998 : Überblicke, Einschnitte, Wegmarken / Klaus Zeyringer. - Innsbruck : Haymon-Verlag, 1999. - 640 S. ; 20 cm. - ISBN 3-85218-295-6 : ÖS 498.00, DM 68.00
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Ansatz, Überblick, Segmente, Aufrisse - neuerdings und Ab-bilder lauten die Titel der fünf Hauptabschnitte dieses Buches. Dazu gibt es Unterabschnitte, die durchlaufend numeriert sind. Der fünfte Unterabschnitt ist überschrieben 1945 - 1998: Überblicke: Bestände - Aufnahmen, Wegmarken - Einschnitte, weiter untergliedert in Nachrichten im Zweitakter-System; Konstruktionen, Dekonstruktionen, dann mit proktologischer Lust in dreimal Kehrseite (durchnumeriert und mit blumigen Zusätzen 1: Unter Mördern und Irren, 2: Des Gemeinwesens alte neue Kleider und 3: Facetten hinter den Fassaden), schließlich weiter in Zwischenfrage: Muß es immer Kaviar sein? usw. usf. Irgendwer muß das als aussagekräftig empfunden haben, es ist aber nur so prätentiös-verkrampfte Geistreichelei, wie man sie zuweilen in den Überschriften der Feuilletons findet, wenn der für die Einrichtung der Seite verantwortliche Redakteur einen schlechten Tag hat.

Vieles ist außer jeder Proportion in dieser Literaturgeschichte, die sich trotz der Versicherung des Autors, alles sei über- und ineinandergearbeitet, in der fehlenden Austarierung als Buchbindersynthese zu erkennen gibt. Eine Sammlung von Aufsätzen zu disparaten Aspekten der jüngeren österreichischen Literatur wird durch einen gehörigen Schuß Polemik und flotte, oft allzu flotte Formulierungen noch kein Gesamtabriß. Wo Julian Schutting eben gerade viermal beiläufig in Name-dropping-Listen vorkommt, von Elfriede Jelinek oder Peter Turrini aber jede Instant-Produktion gewürdigt wird, stimmt etwas nicht. Desgleichen, wo Jeannie Ebner als Lyrikerin zwar einmal in einer Aufzählung erscheint, als hochverdiente Redaktorin der Zeitschrift Literatur und Kritik, die sie auch und vor allem gewesen ist, nicht einmal erwähnt wird. Was den sachlichen Informationsgehalt des Buches angeht, ist die Art und Weise, wie die Zeitschrift Literatur und Kritik behandelt wird, durchaus typisch: Als hätte nur Karl-Markus Gauß etwas mit ihr zu tun, dessen Herausgeberschaft mit einer Polemik gegen Rudolf Henz begonnen hatte, den spiritus rector unter den Gründern, wird nicht nur der Name des Mitgründers Paul Kruntorad der Vergessenheit überantwortet, sondern ebenso - und das ist skandalös - mit Kurt Klinger verfahren, der weder als Editor der wichtigsten österreichischen Literaturzeitschrift noch als Dramatiker noch überhaupt als Figur im literarischen Leben auch nur vorkommt, geschweige denn gewürdigt wird.

Überhaupt ist es um die Selektion der Namen eigenartig bestellt: Der einflußreiche Essayist, Dramaturg und Historiker Friedrich Heer, der unter Pseudonym bekanntlich auch Romane schrieb und als liberaler Katholik die Katholiken mit seiner Liberalität und die Liberalen mit seinem Katholizismus verstörte, war einer der ersten Publizisten der Nachkriegszeit, die den bequemen Weg des Selbstverständnisses der Zweiten Republik, Österreich als Opfer des deutschen Nationalsozialismus zu deuten, konsequent verlegt haben. Kein Wunder: Wenn schon Heer, der sich wenigstens Gehör zu verschaffen wußte, mit keinem Wort erwähnt wird, wie sollten dann die leiseren Stimmen den Weg in dieses Buch gefunden haben? Also keine Heidi Pataki, keine Herta Staub. Zwei Beispiele für zahllose.

Viel Platz für Schlafes Bruder von Robert Schneider - zahlreiche Zeugnisse der Medienlenkung, Verkaufszahlen usw. werden ausgebreitet, die raffinierte Technik, wie aus einem "Schmarren" ein Erfolg gemacht wird, aber nicht einmal ansatzweise analysiert -, nur ein paar Absätze dagegen zu den Romanen des ungeliebten Christoph Ransmayr: Und wieder nur die üblichen oberflächlichen Informationen, daß die Letzte Welt auf Ovids Metamorphosen fuße - nein, ein bißchen genauer wäre man schon gern unterrichtet: Denn das Buch fußt auf der deutschen Übersetzung der römischen Dichtung durch Michael von Albrecht (macht doch wohl einen Unterschied, Ransmayr hat es selber deutlich gemacht), geht natürlich auch auf Hans Magnus Enzensbergers Aufforderung an den Autor zurück, das antike Werk für unsere Tage neu zu erzählen, gründet in einer mit üppigen Assoziationen spielenden Phantasie, aber auch und nicht zuletzt in einer langen Tradition der Identitätskrisen österreichischen Erzählens, deren erste "Urkunde", nicht erstes Zeugnis, der berühmte "Chandos"-Brief Hofmannsthals ist.

Kenner der Szenerie wissen zwar, daß die Cliquenwirtschaft zum literarischen Betrieb so gut gehört wie zum akademischen. Aber es gibt doch Grenzen der Scham, die zu überschreiten man sich hüten sollte, um nicht in Verdacht zu geraten, nach dem Muster kaiserzeitlich römischer damnatio memoriae zu verfahren, jener Technik, mit der einst die Namen ideologisch unliebsam gewordener Personen aus den Inschriften getilgt wurden. Das darf die Wissenschaft von der Literatur, zu deren hervorstechenden Merkmalen doch imperiales Gepränge sowieso nicht gehört, sich nicht erlauben. Und eine - immerhin 600 Seiten starke - Geschichte der österreichischen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts darf es sich nicht erlauben, den Namen Wolfgang Kraus einfach zu unterdrücken. Ohne den kürzlich verstorbenen Gründer der Österreichischen Gesellschaft für Literatur und sein Wirken wäre in diese Literatur vieles ganz anders, als es heute tatsächlich ist. Auch die so nachhaltige Auslandspropaganda für die jüngeren Schriftstellergenerationen ist ihm zu verdanken. Das gehört gesagt, belegt und ausgebreitet, egal ob man Kraus als den viele Jahre einflußreichsten Literaturfunktionär nun sympathisch findet oder nicht. (Wann hat man je schon einmal davon gehört, daß ein österreichischer Intellektueller einen anderen intellektuellen Österreicher sympathisch gefunden hätte?)

Weder Sozialgeschichte noch Formengeschichte der Literatur, ist das Buch am ehesten noch als eine Stoff- und Motivgeschichte anzusehen. Kriterienlosigkeit und Zufall walten auch in der sprachlichen Gestaltung des Buches: Was mag ein wohlwollender Leser sich wohl unter Peter Turrinis Gedichten vorstellen, wenn er sie den Theaterarbeiten des Autors wie folgt gegenübergestellt findet: "Sein Schock-Theater hat den Schock und die Welt, die die Bretter bedeuteten, unter den Füßen verloren und an das in jeden Haushalt ausstrahlende Fernsehen abgeben müssen. Die lyrischen Texte aber sind in einem anderen Dekor, nämlich in einem Spannungsbogen zwischen den Persönlichkeitsschichten des Ich und eines Du angesiedelt. Während es für Turrini auf dem Theater schwieriger wird, in Schreckensbildern eine große gesellschaftliche Mechanik abrollen zu lassen, kann er in seinen Gedichten eine kleinere, persönlich grundierte Mechanik bloßlegen" (S. 297). Eine welsche Übersetzerin, die auch einmal ein Textchen von Turrini ins Italienische übertragen hat, fragt sich hilflos, was z.B. die schiefen Bilder aus der Stratigraphie bedeuten: Schichten zwischen Ich und Du, Schichten, die Ich und Du verbinden; oder was nur mit der Unterscheidung zwischen einer abrollenden und einer bloßgelegten Mechanik gemeint sein könnte. Und die Sache mit dem Dekor kann der Autor so ernst auch nicht gemeint haben, teilt er - auf einen Leser mit einem Gedächtnis von höchstens zwei Seiten rechnend? - doch auf S. 300 über Turrinis Gedichte mit, sie kämen "fast ohne Symbol-Dekor, mit sehr wenigen Metaphern" aus. Mag darüber grübeln, wer nichts Gescheiteres zu tun hat.

Wo Zeyringer aber einmal verständlich schreibt, wie etwa an folgender Stelle - ein bißchen zur Sache, ein bißchen zur Forschung, nur nichts Genaues -, da gerät der Text peinlich trivial, etwa so: "In österreichischer Literatur des 19. Jahrhunderts und des Fin de siècle sind französische Einflüsse zahlreich und vielfältig: Das Französische bei Raimund und Nestroy wurde 1967 von Felix Kreissler analysiert, ähnliche Studien gibt es zu Schnitzler, Hofmannsthal, Rilke, Karl Kraus, Stefan Zweig u.a.; und daß sich österreichische Literatur besonders stark auf die französische, auf Symbolismus und Surrealismus bezieht [...], hat z.B. Walter Weiss ausgeführt" (S. 554). Wer hätte das nur gedacht? Aber warum ist dieses Stückchen narrativer Bibliographie so unterschiedlich präzise: Weil variatio delectat? Oder etwa doch, weil dem Verfasser der Kreissler gerade eingefallen war, zu den anderen Namen der Zettelkasten im Kopf aber nur vage Angaben enthielt und bei Weiss dummerweise der Titel der Arbeit dem Gedächtnis entfallen war? Man könnte dergleichen, wenn's mit dem Gedächtnis hapert und wenn man seine Leser ernst nimmt, ja auch nachschlagen, ehe man die Tinte fließen läßt, aber solche Mühe ist inzwischen als Sekundärtugend in Verruf geraten.

Niemandem, auch einem Historiker der österreichischen Literatur nicht, ist es verwehrt, dem prominenten Beispiel des Wiener Dichters Hofmannsthal zu folgen und ein Buch der Freunde zu veranstalten - nur möge man es dann doch bitte eben auch gleich so nennen. Dann verstände ja auch der den österreichischen Interna etwas Fernerstehende sofort, warum in der Bibliographie konsequent die konkurrierenden Arbeiten aus dem Umkreis eines nicht befreundeten Lehrstuhls überhaupt nicht zitiert werden, auch nicht Werner M. Bauers Darstellung der neuesten österreichischen Literatur.[1]

Als Informationsmittel ist der Band von Zeyringer, kaum erschienen, durch den 7. Band zum 20. Jahrhundert in der von Herbert Zeman herausgegebenen Geschichte der Literatur in Österreich (s.o. IFB 00-1/4-171) in schwerste Bedrängnis geraten. Eine Neuauflage des merkwürdig schnell vergriffenen Bandes von Zeyringer, dem einige Tageszeitungen auffällig eiliges Lob gezollt haben, ist angekündigt. Zurechtzurücken gäbe es da sehr viel. Man wird bald sehen.

Gabriella Rovagnati


[1]
Literaturgeschichte Österreichs : von den Anfängen im Mittelalter bis zur Gegenwart / Herbert Zeman (Hg.). Unter Mitwirkung von Werner M. Bauer ... - Graz : Akademische Druck- und Verlagsanstalt, 1996. - 604 S. ; 22 cm. - ISBN 3-201-01650-0 : ÖS 504.00, DM 68.00 [4051]. - Rez.: IFB 97-1/2-129. - Der Beitrag von Bauer auf S. 511 - 563. (zurück)

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