Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 8(2000) 1/4
[ Bestand in K10plus ]
[ Bestand in K10plus ]

Geschichte der Literatur in Österreich


00-1/4-171
Geschichte der Literatur in Österreich : von den Anfängen bis zur Gegenwart / hrsg. von Herbert Zeman. - Graz/Austria : Akademische Druck- und Verlagsanstalt. - 28 cm
[2590]
Bd. 7. Das 20. Jahrhundert / hrsg. von Herbert Zeman. Mit Beitr. von Walter Zettl ... - 1999. - 779 S. - ISBN 3-201-01687-X : ÖS 860.00, DM 118.00

Wissenschaftlich viel solider als das nachstehend (IFB 00-1/4-172) besprochene Buch von Zeyringer ist das konkurrierende Werk, die von Herbert Zeman herausgegebene Darstellung der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Sechs Autoren haben sich die Arbeit am siebten und letzten Band der geplanten Geschichte der Literatur in Österreich[1] geteilt, um dem "parteilichsten und zerstrittensten aller Jahrhunderten menschenmögliche Gerechtigkeit widerfahren zu lassen" und ideologisch bedingte Urteile zu vermeiden. "Geistes- und sozialgeschichtlich" bestimmt Walter Zettl die ambivalente Dialektik des Deutsch-Österreichischen in der heiklen Zeit zwischen der Ersten und Zweiten Republik und die Ausprägung eines Bewußtseins der österreichischen Sonderstellung, dessen Anfänge schon vor dem Ersten Weltkrieg liegen, das sich aber in der Suche nach einer neuen Identität als Reaktion auf die verhängnisvollen Folgen des Anschlusses an das Hitler-Reich zu einer "austriakischen Renaissance" ausgewachsen hat.

Zettls Text, der die Literatur in den allgemeinen historischen Kontext einzuordnen strebt, ist reich an detaillierten Informationen, die sich aber leider nicht eben selten über weite Strecken in einer bloßen Aufzählung von Namen und Daten erschöpfen. Die klar und einfach gehaltene Sprache vermittelt jedoch insgesamt sehr gut das komplexe und zugleich nüancierte Bild einer Periode, deren Literatur durch multiethnische und ideologische Konflikte ebenso charakterisiert ist wie durch das Schwanken zwischen nostalgischer Erinnerung an die "Welt von gestern" (wie Stefan Zweig die Epoche seiner Jugend in seinem wohl bekanntesten Buch nannte) und Erneuerungsdrang, zwischen krassem Provinzialismus und Universalismus, zwischen unengagierter, spießbürgerlicher Gemütlichkeit und emanzipatorischer Willensanstrengung. Besonders instruktiv sind solche Partien, in denen Zettl sich Ausführlichkeit erlaubt, z.B. zur deutschsprachigen Literatur in den jungen Nationalstaaten, oder zur Poetik einzelner bedeutender Nachkriegsautoren wie Ingeborg Bachmann, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker und der (heute zu Unrecht schon fast wieder vergessenen) Christine Lavant.

In geographischer Gliederung den einzelnen Ländern der Emigration folgend, behandelt Joseph Strelka - nach einer kurzen allgemeinen Einführung in die Problematik - Die Österreichische Exilliteratur seit 1938: eine Unmenge von Namen und Titeln kommen in seinem literarischen Atlas vor, von vielen auch erstrangigen Autoren und Werken erfährt der Leser jedoch fast nichts zur Bedeutung ihrer Schriften. Oft brechen die Auflistungen dort ab, wo es interessant zu werden beginnt: Man freut sich über die Erwähnung des im Grunde auch heute erst noch zu entdeckenden Benno Geiger, erfährt jedoch auch hier nur das gerade noch Bekannte, daß dieser Schriftsteller und Übersetzer als Kunsthändler schon lange in Italien gelebt hatte. Ein wenig irritiert der Beitrag von Strelka durch seine allzu sorglose stilistische Gestaltung. Nur ein Beispiel: "Als Joseph Roth starb, hatte er den Untergang Österreichs und seines geliebten Hotels Foyot durchgemacht, aber wenigstens der Untergang Frankreichs war ihm erspart geblieben. Der Untergang Frankreichs wurde von fast allen Exilanten der Dreißigerjahre als noch weitaus größere Katastrophe empfunden als der Untergang Österreichs und der Tschechoslowakei ..." (S. 251, Hervorhebung durch die Rez.). Paul Celan wird als der "weitaus bedeutendste Lyriker, der Paris als Wohnort wählen sollte", eingeführt, dann wieder der "wohl bedeutendste deutschsprachige Lyriker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts" genannt. Kurz, bei Strelka gilt: "variatio non delectat", und die Anhäufung von Exil-Komposita (Exilhaltung, Exilland, Exilschicksal, Exillyriker u.a.m.) erschwert die Lektüre eines Textes, der in etlichen Passagen ohnehin schon ganz telephonbuchartig anmutet, obwohl er darauf zielt, zu beweisen, wie "gerade durch die Vertreibung in den Werken der Exilautoren eine weltweite Bewußtwerdung österreichischer Kulturtradition bewirkt" (S. 429) worden ist.

Im folgenden Kapitel des umfangreichen Bandes beschäftigt sich Ernst Fischer mit einem klarer konturierten "Feld", und zwar mit den "im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts" in Österreich geborenen und wirkenden Autoren. Nach einem einführenden Überblick, der die verschiedenen Aspekte des Literaturbetriebs (literarische Zentren, Schriftstellervereinigungen, Verlagswesen, Zeitschriften und Literaturpreise) beschreibt, verfährt Fischer im zweiten Teil seines Beitrags nach Gattungen und entwirft in einer Reihe von Medaillons zu ausgewählten Autoren, in denen neben einem kurzen biographischen Profil die Spezifika der Schreibweisen umrissen sind, ein breites Panorama von Lyrik, Prosa und Theater der Gegenwart. Individuell Gefärbtes wird souverän auf einen allgemeinen Kontext bezogen, zu dem - Nachklang der seit dem Fin-de-siècle auch als Attitüde kultivierten Sprachskepsis - die anhaltende Auseinandersetzung der österreichischen Schriftsteller mit den Möglichkeiten und den Grenzen des verbalen Ausdrucks gehört, die seit den fünfziger Jahren sowohl zu erneuerten Formen der Anlehnung an die Tradition als auch zu vielfältigen avantgardistischen Erscheinungen geführt hat, auch zur Umwertung herkömmlicher Begriffe, wie desjenigen des "Heimatdichters", aus dem die Konnotation des Ornamentalen geschwunden ist, schließlich zu einem paroxystischen Experimentieren mit dem dichterischen Wort, das als Sprachzertrümmerung eine rein ästhetische oder politische Funktion annehmen kann.

Ungewöhnlich zwar für eine wissenschaftliche Literaturgeschichte, aber durch die Mischung von Authentizität und Subjektivität von eigenem Reiz, wie Wolfgang Kraus - in seiner Funktion des Leiters der "Österreichischen Gesellschaft für Literatur" selbst einer der Hauptakteure - in einem langen, informativen Essay das literarische Leben in Österreich von 1945 bis zur Gegenwart in geradezu autobiographischer Perspektive schildert: von den Anfängen im Theater über die frühen Zeitschriften und die Gruppenbildungen bis zu den Besonderheiten staatseigener Verlage und der Spannung zwischen "Kleinstaat und Internationalität".

In einem nicht auf das 20. Jahrhundert beschränkten, sondern alle Epochen berücksichtigenden Beitrag reflektiert Zeman noch einmal den Begriff einer Literatur Österreichs und umreißt die besonderen Aufgaben und Ziele der ihr zugewandten Geschichtsschreibung.

Die Benutzung des Bandes zur bibliographischen Information ist leider dadurch eingeschränkt, daß alle Titelnachweise nur im Anmerkungsapparat dokumentiert sind.

Gabriella Rovagnati


[1]
Die Bände erscheinen nicht der Reihe nach. Auf den Bd. 1. Die Literatur des Früh- und Hochmittelalters in den Bistümern Passau, Salzburg, Brixen und Trient von den Anfängen bis zum Jahre 1273 / von Fritz Peter Knapp. - 1994. - 666 S. - ISBN 3-201-01611-X : ÖS 565.00, DM 87.00. - Rez.: IFB 96-1-033 folgte 1999 außer dem vorliegenden Band noch Bd. 2, Halbbd. 1, der vorstehend (IFB 00-1/4-170) besprochen wird. (zurück)

Zurück an den Bildanfang