Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 8(2000) 1/4
[ Bestand in K10plus ]

Literatur und Wende


00-1/4-162
Literatur und Wende : Ostdeutsche Autorinnen und Autoren nach 1989 / Julia Kormann. - Wiesbaden : Deutscher Universitäts-Verlag, 1999. - 511 S. ; 21 cm. - (Literaturwissenschaft / Kulturwissenschaft). - Bibliographie S. 397 - 507. - Zugl.: Duisburg, Univ., Diss., 1999 u.d.T.: Kormann, Julia: Abschied und Anfang in der Literatur nach 1989. - ISBN 3-8244-4376-7 : DM 118.00
[5992]

Der Band nimmt die Auswirkungen des Zusammenbruchs der DDR und der Wiedervereinigung auf die Literatur in den Blick: "DDR-Literatur" vor und nach der Wende. Das schließt vieles ein: das schnelle Verschwinden einer Reihe einst offiziell geförderter Propagandaautoren, die Öffnung verschlossener Schubladen durch Schriftsteller, die vor 1989 nicht publizieren konnten, vor allem aber die Erschütterung der Identität bei vielen Literaten, die vor und nach der Wende schriftstellerisch tätig gewesen sind, und ihre Reaktion auf die Wahrnehmung einer veränderten und sich verändernden Realität.

Hat die Wende doch gerade für sie ein "moralisches Drama" bedeutet, über das sie sich auf irgendeine Weise hinwegschreiben mußten, wenn sie nicht verstummen wollten. U.a. wird auch der Literaturstreit um Christa Wolf rekapituliert, der nach der Wende vorgehalten worden war, mit ihrem Werk systemstabilisierend gewirkt zu haben. Das letzte Wort in dieser Frage muß wohl dem distanzierten Urteil künftiger Generationen vorbehalten bleiben, denn zur Zeit sind noch viele Umwertungen in vollem Gange - etwa die Verabschiedung von Hermann Kants Aula, einem Buch, dem man freilich den Mangel jeder ästhetischen Qualität schon bei seinem Erscheinen hätte bescheinigen können, hätte man damals nur (gerade im Westen) gewagt, das literaturkritische Notfallköfferchen ungeniert zu benutzen.

Mit Recht widmet Kormann einen eigenen Abschnitt ihrer Arbeit der DDR-Literatur-Forschung vor und nach der Wiedervereinigung. Was sich auf dieser Meta-Ebene an "Wenden" vollzogen hat, erinnert in seiner Struktur nicht eben selten fatal an die einst in den kommunistischen Parteien geübten Formen der "Selbstkritik", wie sie vor Jahrzehnten schon Wolfgang Leonhard beschrieben hat.

Das Buch von Kormann bleibt, wie das in der Literaturwissenschaft allermeist geschieht, ganz in der Zone des Papierenen, d.h. zwischen Texten - vor allem solchen von Volker Braun, Thomas Rosenlöcher, Kerstin Hensel und Helga Königsdorf -, mögliche, nur jetzt mögliche, empirische Annäherungen ans literarische Leben bietet es nicht. Wer viel Umgang mit an Literatur interessierten jungen Menschen pflegen kann, die in der Endzeit der DDR im mittleren und fortgeschrittenen Schulalter gestanden haben und aus ihrer Erinnerung preisgeben, an welche Autoren sie durch Unterricht und Bibliotheken herangeführt worden sind und welche Bücher sie käuflich haben erwerben können, von welchen anderen, im Westen bekannten DDR-Autoren sie aber erst nach der Wende erfahren haben, kann von ihnen vieles lernen, was (noch) nicht in den Literaturgeschichten steht. Es wäre wohl auch an der Zeit, in empirischen Studien einmal genauer zu untersuchen, welche Schieflage in der internationalen Germanistik eine funktionierende staatliche Literaturpropaganda etwa dadurch erzeugt hat, daß der DDR-Export den amerikanischen Bibliotheken und Germanisten viele Neuerscheinungen geradezu vor die Haustür gestellt hat.

Von hohem Informationswert ist die rund 100 Seiten umfassende Bibliographie, etwa ein Fünftel davon Primärtexte, der Rest Sekundärliteratur - eine wahrhaft tintenklecksende Dekade ist da für künftige Forschung dokumentiert!

Hans-Albrecht Koch


Zurück an den Bildanfang