Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 8(2000) 1/4
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Nietzsche und der deutsche Geist


00-1/4-129
Nietzsche und der deutsche Geist / von Richard Frank Krummel. Unter Mitwirkung von Evelyn S. Krummel. - Berlin ; New York : de Gruyter. - 25 cm. - (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung ; ...)
[5103]
Bd. 1. Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum bis zum Todesjahr : ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1867 - 1900. - 2., verb. und erg. Aufl. - 1998. - XLVIII, 737 S. - (... ; 3). - ISBN 3-11-016074-9 : 360.00
Bd. 2. Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum vom Todesjahr bis zum Ende des Ersten Weltkrieges : ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1901 - 1918. - 2., verb. und erg. Aufl. - 1998. - XL, 861 S. - (... ; 9). - ISBN 3-11-016075-7 : DM 398.00
Bd. 3. Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges : ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1919 - 1945. - 1998. - LIII, 931 S. - (... ; 40). - ISBN 3-11-015613-X : DM 428.00

Das hier anzuzeigende Werk ist allein von seinem Umfang her als "monumental" zu bezeichnen. In einer sich über Jahrzehnte erstreckenden Dokumentationsarbeit hat der Amerikaner Richard Frank Krummel die Zeugnisse der Nietzsche-Rezeption im deutschsprachigen Raum in den Jahren 1890 bis 1945 zusammengetragen. Unzweifelhaft gehörte Nietzsche - unter sich verändernden politischen Vorzeichen im Kaiserreich genauso wie in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus - zu den einflußreichsten Denkern dieser Periode. Bereits das quantitative Ausmaß der Spurensuche Krummels wirkt einschüchternd. Auf den insgesamt knapp 2600 Seiten verzeichnet der Bibliograph fast 5700 Dokumente. Dabei wird kein Dokumenttyp von der Verzeichnung ausgenommen. Zeitungsartikel finden sich genauso wie Gedichte und Prosatexte. Ebenso schöpft Krummel aus Tagebüchern, Briefwechseln und Autobiographien, um so ein stellenweise intimes Bild der überaus heterogenen Nietzsche-Rezeption in Deutschland zu zeichnen. Auch wenn Vollständigkeit für jeden Bibliographen eine Schimäre bleiben muß, kommt Krummel diesem Wunschtraum doch sehr nahe.[1]

Die Relation der Seitenzahl zur Zahl der verzeichneten Dokumente gibt bereits einen Hinweis darauf, daß Krummel weit über die bibliographische Beschreibung der Texte hinausgeht. Die Art der Verzeichnung ist durch umfangreiche Annotationen und Abstracts, in denen auch Querverbindungen zwischen den einzelnen Texten hergestellt werden, sowie durch ausführliche Angaben zu den Autoren der Rezeptionszeugnisse charakterisiert. Dies sei an einem Beispiel erläutert. Zu den Protagonisten Krummels, die in allen drei Bänden seiner Bibliographie Erwähnung finden, gehört auch Richard Nikolaus Graf von Coudenhove-Kalergi, der Begründer der Pan-Europa-Bewegung. Insofern sich Coudenhove-Kalergi in seinen Schriften explizit auf Nietzsche beruft, würde man die Verzeichnung dieser Schriften in einer Bibliographie zur Wirkungsgeschichte Nietzsches erwarten. Krummel übertrifft diese Erwartung bei weitem. In Bd. 1 exzerpiert er in einer Fußnote, die sich über eineinhalb Seiten erstreckt, eine autobiographische Schrift von Rudolf Pannwitz aus dem Jahr 1921, in dem dieser u.a. auf den Nietzsche-Bezug der Gedanken Coudenhove-Kalergis eingeht. In Bd. 2 findet sich - eingestreut in die bibliographische Berichterstattung zum Jahr 1910 und ohne eigene Dokumentnummer - ein Zitat aus der Autobiographie Coudenhove-Kalergis, in dem dieser seine Nietzsche-Lektüre im zarten Alter von 15 Jahren erwähnt. In der wiederum sehr ausführlichen Fußnote finden sich neben Angaben zur Vita des Begründers der Pan-Europa-Bewegung auch weitere Zitate aus Werken Coudenhove-Kalergis, in denen Nietzsche erwähnt wird. In Bd. 3 schließlich finden sich drei Erwähnungen des Grafen, die zeigen, wie weit der Horizont ist, den Krummel mit seinem "Schrifttumsverzeichnis" abschreitet. Die erste Stelle findet sich in Krummels Referat von Edgar Julius Jungs Pamphlet Die Herrschaft der Minderwertigen. Von Krummel erfährt der Leser, daß sich bei Jung "die strenge Ablehnung von Coudenhove-Kalergis 'Pan-Europa-Bewegung' und des faschistischen Anarchismus" finde (S. 252). Auf S. 292 wird der Leser informiert, daß Richard Kötzschke in einer Broschüre von 1928 Coudenhove-Kalergi zu den "Anhängern" Nietzsches zählte. In allen diesen Nennungen von Namen und Werken werden ideenpolitische Positionen angedeutet, deren Aufarbeitung Gegenstand eines lesenswerten Aufsatzes sein könnte.

Gerade durch die Art der Verzeichnung läßt das "Schrifttumsverzeichnis" Krummels die Grenzen einer herkömmlichen Bibliographie weit hinter sich. Der Bibliograph (fast möchte man vom "Autor" sprechen) hat sich bemüht, im Zusammentragen der faktenhaften Bruchstücke zugleich eine Geschichte der Wirkung Nietzsches in Deutschland zu schreiben. Diesem Bemühen liegt eine in der historistischen Tradition der Geisteswissenschaften begründete Verwechslung zwischen den res gestae und der narratio rerum gestarum zugrunde. Die Sammlung der Fakten ist auf der Ebene der "geschehenen Geschichte" angesiedelt. Um zur "erzählten Geschichte" zu werden, muß die Verknappung einerseits und die Interpretation andererseits hinzutreten. Auch vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß das "Werk" Krummels wirklich die Arbeit eines Bibliographen und nicht die eines Historiographen ist. Als Materialverzeichnis ist das große Panoptikum der Nietzsche-Lob- und Schimpflieder, das Krummel entrollt, für jeden, der sich mit der Nietzsche-Rezeption in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus mit der Kulturgeschichte dieser Epoche beschäftigt, unverzichtbar. Als Bibliographie kann sie nichts anderes sein als ein - wenn auch gigantischer - Steinbruch, der von der historischen Forschung benutzt wird, um Geschichte neu zu deuten.

Auch unter bibliographischen Kriterien bleibt im Verzeichnis Krummels die eine oder andere Frage offen. Entscheidend für den Gebrauchswert einer Bibliographie ist (neben der Vollständigkeit und Genauigkeit der Verzeichnung) die Erschließung der verzeichneten Dokumente. Hier gibt es mit der systematischen Gliederung und der registermäßigen Erschließung zwei Möglichkeiten, die einen schnellen Zugriff auf die gesuchten bibliographischen Informationen ermöglichen. Die erste Möglichkeit wird von Krummel, der seine Daten in den drei vorliegenden Bänden in einer chronologischen Reihenfolge anbietet, nicht genutzt. Und leider beschränkt sich auch die registermäßige Erschließung auf das Allernötigste. Allen drei Bänden ist ein zweigeteiltes Namenverzeichnis beigefügt. Der erste Teil verzeichnet die Literatur in jedem Band unter dem Gesichtspunkt "... und Nietzsche", der zweite Teil unter dem Gesichtspunkt "Nietzsche und ...".[2] Der erste Teil des Registers hat damit die Funktion eines Autorenverzeichnisses, der zweite Teil weist Literatur nach, die Nietzsches Beziehungen zu einzelnen Denkern und Zeitgenossen zum Gegenstand hat. Die Erläuterungen zu den Registern sind unzureichend. Ein wenig ratlos steht der (Erst-)Benutzer vor dem Ziffernsalat, den ihm insbesondere der erste Registerteil anbietet. Erst durch ein Trial-und-Error-Verfahren findet man heraus, daß die 'normalen' Ziffern auf Seitenzahlen hinweisen, auf denen die entsprechenden Personen als behandelte Personen vorkommen. Die in Klammern aufgeführten Ziffern, die sich nicht auf die Seitenzahlen, sondern auf die Dokumentnummern in der Bibliographie beziehen, führen den Benutzer zu den Dokumenten, die die betreffende Person zum Autor haben. Bedauerlicherweise ist man nicht auf die Idee gekommen, die separaten Register der drei Bände zusammenzuführen und dem Benutzer so eine Suche über den gesamten "Datenbestand" zu ermöglichen. Allein unter Nietzsche, Therese Elisabeth Alexandra findet man in den drei Bänden ca. 750 Nachweise.[3] Davon beziehen sich knapp 80 auf eigene Texte der Philosophen-Schwester.

Sehr hilfreich ist die Liste der Kürzel, unter denen die Zeitschriften aufgeführt werden. Gerne würde man etwas darüber erfahren, ob eine Aufnahme in diese Liste bedeutet, daß der Bibliograph die betreffende Zeitschrift vollständig ausgewertet hat oder ob es sich bei den nachgewiesenen Aufsätzen möglicherweise nur um Zufallsfunde handelt. Mit solchen Auskünften ist Krummel leider allzu geizig. Aufgrund der Dichtigkeit der Abdeckung ist davon auszugehen, daß die meisten Zeitungen und Zeitschriften tatsächlich vollständig ausgewertet wurden. Auch hier sind bereits die Zahlen aussagekräftig: Allein für den Zeitraum 1867 - 1900 verzeichnet die Liste 415 Titel.

Erwähnt sei schließlich, daß Krummel in seiner Bibliographie auch die Primärliteratur berücksichtigt. Hier wurde durch die (Spezial-)Bibliographie von William H. Schaberg aus dem Jahr 1995 ein neuer Maßstab gesetzt.[4] Eigene Akzente setzt Krummel hier beim Nachweis von Erstveröffentlichungen. Mit Hilfe eines Verzeichnisses der Fundstellen zur Veröffentlichungsgeschichte der Werke, Briefe, usw. können die Nachweise der Primärliteratur vergleichsweise leicht aus den Datenbergen hervorgezogen werden. Dies läßt sich am Beispiel Ecce homo demonstrieren. In Bd. 1 findet sich auf S. 194 der aufschlußreiche Hinweis, daß erste Auszüge aus dieser Selbstbiographie des Philosophen bereits 1890 von Michael Georg Conrad in der Zeitschrift Die Gesellschaft veröffentlicht wurden. Elisabeth Förster-Nietzsche bediente sich des Manuskripts ab 1897 u.a. in ihrer Biographie des Bruders (S. 424) sowie in Zeitschriften-Aufsätzen (S. 477 und 546).

Trotz aller Eigenwilligkeiten ist und bleibt das "Schrifttumsverzeichnis" Krummels auf unabsehbare Zeit ein unverzichtbares Instrument der Nietzsche-Forschung und auch der allgemeinen Kulturgeschichtsschreibung für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seit dem Erscheinen des ersten Bandes im Jahr 1974 hat sie sich einen festen Platz im allgemeinen Informationsbestand jeder größeren wissenschaftlichen Bibliothek erobert. Ihre Bedeutung hat sie durch Bd. 3 sowie durch die Umarbeitung der ersten beiden Bände eindrücklich unterstrichen.

Frank Simon-Ritz


[1]
Der Rezensent kann das auch deswegen beurteilen, weil er von 1995 bis 1999 an der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek für das Projekt Weimarer Nietzsche-Bibliographie verantwortlich war (vgl. IFB 97-3/4-419). Bd. 1 dieses Projekts wurde in Weimar der Öffentlichkeit am 25.08.2000 zu Nietzsches hundertstem Todestag vorgestellt: Weimarer Nietzsche-Bibliographie : (WNB) / Stiftung Weimarer Klassik, Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek. Bearb. von Susanne Jung ... - Stuttgart ; Weimar : Metzler. - 24 cm. - (Personalbibliographien zur neueren deutschen Literatur ; 4). - ISBN 3-476-01651-X (Gesamtwerk) [6141]. - Bd. 1. Primärliteratur 1867 - 1998. - 2000. - XVI, 517 S. - ISBN 3-476-01646-3 : DM 268.00. - Vgl. die vorstehende Rez. in IFB 00-1/4-128. [sh] (zurück)
[2]
In Bd. 3 sind hier auf S. [877] die Bezeichnungen der beiden Register vertauscht worden. (zurück)
[3]
Allerdings findet man unter Förster-Nietzsche, Elisabeth nicht einmal eine Verweisung. (zurück)
[4]
The Nietzsche canon : a publication history and bibliography / William H. Schaberg. - Chicago ; London : University of Chicago Press, 1995 [1996]. - XVI, 281 S. : Ill. ; 24 cm. - ISBN 0-226-73575-3 : $ 36.50, œ 29.95 [3491]. - Rez.: IFB 96-4-439. (zurück)

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