Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 8(2000) 1/4
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Wörterbuch der philosophischen Begriffe


00-1/4-107
Wörterbuch der philosophischen Begriffe / begr. von Friedrich Kirchner und Carl Micha‰lis. Fortges. von Johannes Hoffmeister. Vollst. neu hrsg. von Arnim Regenbogen und Uwe Meyer. - Hamburg : Meiner, 1998. - X, 895 S. ; 20 cm. - (Philosophische Bibliothek ; 500). - ISBN 3-7873-1325-7 : DM 68.00[1]
[5137]

Die Neubearbeitung des traditionsreichen, nicht unumstrittenen Lexikons bietet "mehr als 4000 Artikel mit Worterklärungen und Erläuterungen zu den zentralen Begriffen der Philosophie und Philosophiegeschichte" (S. VII), enthält also keine Artikel über Personen. Beigegeben ist eine Reihe von Verzeichnissen, die u.a. Bibelstellen und Literatur zur Begriffsgeschichte nachweisen sowie ein Autoren-, Werke- und Sachregister umfassen.

Dem Anspruch nach werden Etymologie, Entwicklung und die am häufigsten gebräuchlichen Bedeutungen der Begriffe beschrieben sowie philosophisch einflußreiche Strömungen, die die Verwendungsweise der Begriffe maßgeblich bestimmt haben. Mit der Betonung des ideen- und begriffsgeschichtlichen Aspekts folgt die Konzeption den Leitideen der Vorgänger Friedrich Kirchner, Carl Micha‰lis und Johannes Hoffmeister. "Es sei daran erinnert, daß das Wörterbuch ursprünglich für den Zweck erarbeitet worden war, die Eigenart der besonderen Begriffe zu erschließen, die in den Textausgaben der Philosophischen Bibliothek vorkamen" (S. VII). Übernommen werden so insbesondere Textteile von Artikeln aus Hoffmeister 1955, aber auch von Micha‰lis 1907, die in Hoffmeister nicht mehr enthalten sind. Zugunsten der formalen Logik und Sprachphilosophie sind, dem gewandelten Philosophieverständnis folgend, Begriffe aus dem Bereich der empirischen Psychologie entfallen.

Auf die Vorgeschichte des Lexikons näher einzugehen, lohnt, weil die Herausgeber mit der Neubearbeitung den Dialog mit markanten Phasen deutscher Philosophie aufnehmen; philosophische Positionen der Jahrhundertwende und der unmittelbaren Nachkriegszeit werden wieder aufgerufen und kritisch bewertet.

Seinen Anfang nahm das langlebige, immer wieder von Neubearbeitungen aktualisierte Unternehmen 1886 mit Kirchners Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe,[2] das von A=A bis Zweikampf noch ohne Register auskam. Kirchner wollte das Werk zwischen den Konversationslexika der Zeit und Krugs encyklopädisch-philosophischem Lexikon[3] plaziert sehen, das als zu weitschweifig und veraltet galt. In rascher Folge kamen bald erweiterte Auflagen auf den Markt (2. Aufl. 1890, 3. Aufl. 1897).

Die erste Neubearbeitung durch Carl Micha‰lis 1903 schien in Teilen dem herrschenden Neukantianismus Rechnung zu tragen. Jedenfalls wurde die 5. Aufl. 1907, wiederum als Neubearbeitung angekündigt, von zeitgenössischen Kritikern, wie Micha‰lis beklagt, rundweg als "Kantlexikon" aufgefaßt (1911, S. VI). Die 6. Aufl. 1911, mittlerweile die dritte Neubearbeitung, konnte u.a. mit Rudolf Eucken renommierte Beiträger aufbieten. Micha‰lis hatte sich inzwischen entschlossen, in der dritten Neubearbeitung "auf den ursprünglichen Text Kirchners keinerlei Rücksicht mehr zu nehmen. Viel dürfte von ihm nicht mehr stehen geblieben sein." Das Lexikon, so bekannte Micha‰lis, war "nicht für den Fachphilosophen bestimmt" (1911, S. V), sondern, wie schon die 5. Aufl., "Den deutschen Studenten" gewidmet.

1938 hielt man die Zeit reif für eine 'vollständige Neubearbeitung' durch Johannes Hoffmeister. Doch verzögerte sich das Erscheinen des Werkes bis 1944, das schon mit der Änderung des Titels in Wörterbuch der philosophischen Begriffe[4] fortan einen umfassenderen Anspruch reklamierte. Die Auflage war nach Kriegseinwirkungen fast vollständig verbrannt und mußte - so die Legende - nach einem einzig erhaltenen Exemplar nachgedruckt werden.

Im Vorwort werden die konkurrierenden Lexika, wie Mauthner,[5] als "weitläufiges, geistreich-geschwätziges Machwerk zersetzender Sprachkritik" oder, wie Schmidt,[6] als "billiges Erzeugnis materialistisch-monistischen Geistes" diffamiert (1944, S. III). Hoffmeisters einleitende Bemerkungen (unterzeichnet: "Paris, dem 3. September 1943") sind ein aufschlußreiches Dokument philosophischer Lexikographie aus der Zeit des Nationalsozialismus: "Die bisherigen philosophischen Wörterbücher haben weitgehend den Charakter von Fremdwörterbüchern gehabt; sie haben unter Verkennung der eigensprachlichen Ursprünge des deutschen Denkens die lateinische Tradition verabsolutiert und die großen inhaltsschweren, tiefsinnigen germanischen Begriffe fast vollkommen vernachlässigt. Begriffen wie Heil, Leben, Liebe, Macht, Reich, Schicksal, Schuld, Seele, Welt, Werden, deren Gestalt in prägnanter Weise germanisch-deutsche Art zum Ausdruck bringt, deutschen Bezeichnungen ethischer und religiöser Werte wie Andacht, Demut, Ehre, Ehrfurcht, Freundschaft, Frömmigkeit, Gesinnung, Gewissen, Glaube, Innerlichkeit, Sehnsucht, Treue, in denen sich die innige Verbundenheit der deutschen Philosophie mit dem Leben des Volkes offenbart, endlich auch mehr funktional gebrauchten Begriffen wie Abgrund, rein, - allen diesen germanisch-deutschen Begriffen durch Feststellung ihrer Herkunft und usprünglichen Bedeutung, durch Darlegung ihrer metaphysischen Tiefe und geschichtlichen Wirkung wieder das Heimatrecht in der philosophischen Sprache zu geben, das ihnen gebührt, war ein besonderes Anliegen des Wörterbuchs" (1944, S. V).

Hoffmeisters 2. Neuaufl. 1955 schöpfte, wie schon die Vorlage 1944, aus dem Stichwortreservoir von A ist A bis Zynismus. Die Neubearbeitung war halbherzig ausgefallen und mußte als mißlungen gelten. Grund hierfür ist der Umstand, daß zahlreiche mit der nationalsozialistischen Ideologie unterlegte Artikel mitgeschleppt wurden. Es ist ganz und gar unverständlich und dem Verlag Felix Meiner zum Vorwurf zu machen, daß das Werk 1988 noch einmal unverändert und unkommentiert als Reprint auf den Markt gebracht wurde.

So wird Leistungstyp in den Ausgaben 1944 und 1955/1988 als eine Bezeichnung "für die 'Stileinheit' der rassischen Erscheinung des 'nordischen' Menschen (Psycho-Anthropologie)" geführt. So finden sich durchgängig Einträge zu Rasse, Rassenkunde, -psychologie, -seele; lediglich das Stichwort Rassenbiologie entfällt 1955. Rassenkunde wird 1944 und 1955/1988 definiert als "die Lehre von der Einteilung der Menschen in Rassen nach unterscheidenden Sondermerkmalen (wie Farbe des Haars, der Augen, der Haut, Form des Schädels, des Ohrs, der Nase, des Haars) [...]; zur R. gehört die Frage nach dem Vorkommen auf der Erde, nach der Entstehung, nach der Entwicklungshöhe usw." Der Literaturhinweis 1944 "E. v. Eickstedt: Die rassischen Grundlagen des dt. Volkes (1939)" wird 1955/1988 ersetzt [!] durch: "E. v. Eickstedt: R[assenkunde]. und Rassengeschichte der Menschheit (1934, [2. Aufl.] 1937)".

Zum Stichwort Rasse heißt es in den Ausgaben 1944 und 1955/1988: "Doch wird der Begriff der R. auf den Menschen nicht nur für eine erste Einteilung (etwa weiße R., Mongolen, Neger, Indianer usw.) gebraucht, sondern auch für feinere Unterschiede und Unterteilungen, die in der Tierwelt nur als Unterrassen und Spielarten verzeichnet würden (Psycho-Anthropologie)." Diese Passage wird nun in der Neubearbeitung 1998 folgendermaßen aufgenommen und kritisch gewendet: "Wie weit der Begriff der R. im Hinblick auch auf den Menschen angewendet sollte, also nicht nur für eine erste Einteilung nach Hautfarben (weiße, gelbe, schwarze, rote), sondern auch für die Benennung feinerer Unterschiede und Unterteilungen gebraucht werden kann, ist umstritten (s. Rassismus)." Leider wird im Vorwort 1998 diese Form der internen Auseinandersetzung mit dem Vorgänger nicht explizit gemacht. Es ist daher fraglich, ob Hoffmeister der Sache nach die Folie für Artikel diesen Inhalts abgeben kann. Zwar wird darauf hingewiesen, daß Hoffmeister 1955/1988 erstmals Beiträge zur Theorie- und Ideengeschichte des demokratischen Rechtsstaates enthält (1998, S. VIII); doch läßt sich an Einträgen wie Auslese zeigen, daß hiermit weniger die Vermittlung sachhaltiger Information als Adaptionsleistungen im konzeptuellen Bereich demonstriert werden: "Im Gemeinschafts- und Berufsleben bedeutet A. die Förderung der körperlich, charakterlich und geistig 'Besten', eine der wichtigsten und schwierigsten Aufgaben in einer Demokratie."

Das philosophische Wörterbuch aus dem Hause Meiner hätte eine kritische Aufarbeitung verdient. Stattdessen wird es als ein Unternehmen mit ideen- und begriffsgeschichtlicher Orientierung wiederbelebt ("vollständig neu herausgegeben"), das die Arbeit der Herausgeber großenteils jedoch auf die Beseitigung ideologischer Barrieren festlegt. Ein modernes Nachschlagewerk zu kreieren, das mit den aktuellen Handwörterbüchern angloamerikanischer Provenienz konkurrieren kann, gelingt so nicht. Als Beispiel soll der Eintrag Umweltethik dienen, in dem die Vernachlässigung zeitgemäßer Problemanalyse deutlich wird. Es heißt dort beinahe schon naiv: "[...] Die weitreichenden und z.T. irreversiblen Folgen, die menschliches Handeln für die Umwelt haben kann, scheinen es dabei in jedem Fall nötig zu machen, auch die Interessen künftiger Generationen mit zu berücksichtigen. Ein typisches Beispiel dafür ist die Nutzung von Atomenergie, deren Abfallprodukte jahrtausendlang gefährlich strahlen." Erwartet werden hier entweder präzisere Informationen oder eine argumentative Auseinandersetzung, die den aktuellen Diskussionsstand[7] reflektiert.

Jürgen Weber


[1]
Lizenzausg. für die Mitglieder der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt: Best.-Nr. B14255-1 : DM 49.80. (zurück)
[2]
Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe / Friedrich Kirchner. - Heidelberg : Weiss, 1886. - 500 S. - (Philosophische Bibliothek ; 94). (zurück)
[3]
Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften nebst ihrer Literatur und Geschichte / nach dem heutigen Standpuncte der Wissenschaft bearb. und hrsg. von Wilhelm Traugott Krug. - 2., verb. u. verm. Aufl. - Leipzig : Brockhaus. - 1 (1832) - 5 (1838). (zurück)
[4]
Wörterbuch der philosophischen Begriffe / begr. von Friedrich Kirchner und Carl Micha‰lis. - Vollst. neu bearb. / hrsg. von Johannes Hoffmeister. - Leipzig : Meiner, 1944. - (Philosophische Bibliothek ; 225). (zurück)
[5]
Wörterbuch der Philosophie : neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache / Fritz Mauthner. - 2., verm. Aufl. - Leipzig : Meiner. - 1 (1923) - 3 (1924). (zurück)
[6]
Philosophisches Wörterbuch / Heinrich Schmidt. - 9. neubearb. und erw. Aufl. - Leipzig : Kröner, 1934. - (Kröners Taschenausgabe ; 13). (zurück)
[7]
Als Gegenbeispiel siehe den instruktiven Artikel environmental ethics in: The Oxford companion to philosophy / ed. by Ted Honderich. - Oxford [u.a.] : Oxford University Press, 1995. - XVIII, 1009 S. ; 24 cm. - ISBN 0-19-866132-0 : œ 25.00 [2983]. - Rez.: IFB 96-2/3-184. (zurück)

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