Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 8(2000) 1/4
[ Bestand in K10plus ]

Le patrimoine


00-1/4-073
Le patrimoine : histoire, pratiques et perspectives / sous la direction de Jean-Paul Oddos. Avec la collaboration de Pierre Aquilon ... - Paris : Éditions du Cercle de la Librairie, 1997. - 442 S. ; 24 cm. - (Collection bibliothèques). - ISBN 2-7654-0680-4 : FF 250.00
[5040]

Die Beiträge des Sammelbandes sind der Rückbesinnung auf das "historische Erbe" gewidmet, die in den französischen Bibliotheken auf breiter Basis erst vor zwei Jahrzehnten eingesetzt hat. Eine größere Zahl der städtischen Büchereien unseres Nachbarlandes verdankt ihre Gründung bekanntlich der Tatsache, daß die Gemeinden vor fast 200 Jahren einen umfangreichen Bestand an historischen Schriften erhielten - 1803 wurden die zentralen Bücherlager (dépôts littéraires) aufgelöst, in denen die aus den Konfiskationen der Revolutionszeit (aus Kirchen und Klöstern, Hochschulen und Adelshäusern) herrührenden Schriften lagerten. Staatliche Aufseher (inspecteurs) erhielten den Auftrag, die sachgerechte Betreuung des Schriftguts zu überprüfen. Den Gemeinden bedeutete dieses Erbe hingegen mehr Last und Verpflichtung denn Chance zur Profilierung, und so waren in den folgenden Jahrzehnten manche Verluste zu beklagen. Erst in den letzten Jahren ist das Bewußtsein dafür gewachsen, daß den Bibliotheken mit historischen Buchbeständen eine eigenständige Aufgabe zukommt, ähnlich wie den Museen, nämlich die adäquate Bewahrung und Evaluierung dieser historischen Büchersammlungen, womit ihnen zugleich eine neue Rolle in der französischen Kulturlandschaft zuwächst.[1] Nach jüngeren Erhebungen werden in den öffentlichen Büchereien Frankreichs ca. 130.000 Handschriften und rund 4 Millionen Bände aus der Zeit vor 1800 verwahrt, für die wissenschaftlichen Bibliotheken lauten die Vergleichswerte 40.000 und 1 Million.

Die Verfasser der 20 Beiträge, zumeist Bibliothekare und Hochschullehrer, werfen sowohl einen Blick auf die historische Genese der Sammlungen als auch auf die sich daraus ergebenden Aufgaben und Probleme. In den beiden ersten Themenkreisen wird der Prozeß beschrieben, aus dem sich die Gründung der Sammlungen ergab, sowie die frühe Praxis in den diese Aufgabe oft nur zögernd annehmenden Kommunen. Viele Bände gingen im 19. Jahrhundert durch mangelndes Engagement der Gemeinden verloren, und große Verluste sind durch Kriegseinwirkungen und Diebstähle zu verzeichnen.[2] Andererseits hat dank zahlreicher privater Schenkungen ein enormer Reichtum an Schriften den Weg in die Bibliotheken gefunden. Anhand vieler Beispiele werden dem Leser die diversen Quellen vor Augen geführt, aus denen die heutigen Sammlungen entstanden sind. Die städtischen Bibliotheken mit den bedeutendsten historischen Buchbeständen sind 1931 vom Ministerium zu "bibliothèques municipales classées" ernannt und damit aus der Menge ihrer Schwestereinrichtungen herausgehoben worden.

Der dritte und umfangreichste Themenkreis widmet sich den aktuellen Fragen der Bestandserhaltung, den Besonderheiten der Katalogisierung, der Bestandspräsentation und dem Bestandszuwachs. Bei der Bestandserfassung sahen sich die französischen Bibliotheken vor die Aufgabe gestellt, ihr Regelwerk (Normes AFNOR) an die von der IFLA erarbeiteten internationalen Regeln anzupassen, ein sich über zwei Jahrzehnte erstreckender Prozeß, der zudem andere Materialien wie Handschriften, Stiche, Karten, Photos, Noten, Exlibris, usw. einbezog. Aber die in das Projekt investierte Arbeit zeitigt inzwischen Früchte. Dank der Verbundkataloge nimmt man die einst kaum beachteten Büchereien in der französischen Provinz auf nationaler Ebene wahr, ihre Bestände werden vermehrt über den Fernleihverkehr angefordert und bei Ausstellungsplanungen berücksichtigt. Mehr als 500 öffentliche Bibliotheken sind seit den 90er Jahren dank der maschinenlesbaren Erfassung ihrer Altbestandskataloge im Catalogue collectif de France vertreten.

Ein eigenes Kapitel ist Fragen der Benutzung gewidmet. Bekanntlich stellt jede Konsultation des schützenswerten Altbestandes eine potentielle Gefährdung dar, so daß sich eine restriktive Zugangspraxis durchgesetzt hat. Aber zugleich sehen sich die Bibliotheken vor die Aufgabe gestellt, ihre Schätze nicht nur einem Fachpublikum zugänglich zu machen, sondern in zunehmendem Umfang auch einer sich historisch orientierenden Allgemeinheit. Das Interesse an lokal- und regionalgeschichtlichen Themen hat merklich zugenommen, was sich in steigenden Benutzungszahlen niederschlägt, und die Bibliotheken sind aufgefordert, diesem Trend durch Ausstellungen und diverse Veranstaltungen entgegenzukommen, die sich im Zusammenwirken mit bibliophilen, genealogischen und historischen Gesellschaften gestalten lassen. Dazu zählt auch die Aufbereitung des Buch- und Bildmaterials für elektronische Publikationen, sei es CD-ROM oder Internet, um ein breiteres Publikum anzusprechen. Aus diesen Aktivitäten lassen sich publizistische Wirkungen entwickeln, die sicherlich auch potentielle Spender erreichen. Denn angesichts leerer öffentlicher Kassen wird ein aktives Zugehen auf die Sammler für die beste Möglichkeit gehalten, spezielle Kollektionen übereignet zu bekommen, die jeder Bibliothek erst ein spezifisches Profil verleihen.

Im letzten Themenkreis werden Sammlungen mit lokalem Bezug sowie Spezialkollektionen vorgestellt und ihre Besonderheiten hervorgehoben. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind in Frankreich mehr als 500 Spezialbibliotheken neu entstanden. Insgesamt werden auf den Regalen der rund 1100 Spezialbibliotheken ca. 26 Millionen bibliographische Einheiten verwahrt, darunter in großem Umfang historisch bedeutsame Werke. Die französischen Bibliothekare sind aufgefordert, sich dieses wertvollen und reichhaltigen Erbes anzunehmen und es den Fachbenutzern wie dem allgemeinen Publikum auf vielfältige Weise zugänglich zu machen. Dazu bietet diese detailreiche Aufsatzsammlung nicht nur den historischen Bezug, sondern zudem vielfältige Anregungen.

Gernot Gabel


[1]
In diesem Rahmen sind auch zahlreiche Ausstellungen zu sehen, in denen die Bibliotheken ausgewählte Spezialsammlungen vorstellen und damit für eine breitere Öffentlichkeit '(wieder-)entdecken', wie es der Titel einer diesbezüglichen Schriftenreihe ausdrückt:
Collection '(Re)découvertes' / éd. par la Direction du Livre et de la Lecture et la Fédération Française de Coopération entre Bibliothèques. - Paris : Fédération Française de Coopération entre Bibliothèques. - 1 (1992) - . - 20 cm. - Bis Mitte 2000 sind ca. 50 Bände erschienen. [sh] (zurück)
[2]
Die Einleitung zu dem nachstehend besprochenen Titel Deux bibliothèques oratoriennes à la fin du XVIIe siècle liefert in dieser Hinsicht bestes Anschauungsmaterial. (zurück)

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