Medienserver
des BSZ
Baden-Württemberg
Rezension zu

Die Assassinenlegende in der österreichischen Geschichtsdichtung des Mittelalters
von
Leopold Hellmuth

Stand: 19.05.2002
Bibliographische Beschreibung
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Leopold Hellmuth, Die Assassinenlegende in der österreichischen Geschichtsdichtung des Mittelalters. (Archiv für Österreichische Geschichte 134) Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1988. 182 S.

Besprechung erschienen in: Arbitrium 1991 H. 1, S. 41-45

"Die Kinder sind 12 bis 16 Jahre alt, manchmal auch erst neun. Sie werden in mobilen Lagern kaserniert, die etwa 'El Paraíso', das Paradies, heißen. Dort müssen sie sechs Monate bleiben. Sie lernen, blindlings zu gehorchen und erbarmungslos zu töten: mit Machete, Gewehr, Handgranaten und Dynamitladungen. Ihnen wird eingehämmert - in einem Alter, in dem sie für solche Ideen besonders empfänglich sind -, daß sie zu einer Elite zählen, die das Volk, ja, eines Tages die Welt befreien und endgültig den neuen Menschen schaffen sollen." [1] Der effektvolle Beginn einer Reportage über peruanische Guerrilleros gibt für wahr aus, was ebensogut literarisches oder folkloristisches Traditionsgut sein könnte.

Die am Ende des 13. Jahrhunderts entstandene Weltchronik des Wiener Bürgers Jans Enikel enthält zwei eigenartige Nachrichten über _stecher_, die sich Kaiser Friedrich II. für Morde an Fürsten herangezogen haben soll. Er ließ, so Enikel, zweijährige Kinder von allem Licht fernhalten. Sobald sie das Tageslicht erblickten, taten sie alles, was Friedrich von ihnen verlangte. Diese Meuchelmörder führte der Kaiser einmal auch dem österreichischen Herzog Friedrich vor. Dabei stürzte sich einer der Stecher auf ein Wort des Kaisers von einem Turm in den Tod.

Diesem Erzählstoff gelten die sorgfältigen Ausführungen Hellmuths. Der historische Hintergrund ist unschwer auszumachen: Die im 11. Jahrhundert entstandene ismailitische Sekte der Nizariya setzte konsequent wie kaum eine andere Gruppierung das Mittel der Ermordung der prominentesten Vertreter ihrer Feinde ein. Über die Kreuzfahrerstaaten gelangte die Kunde von den "Assassinen" und ihrem Oberhaupt, dem "Alten vom Berge", auch ins Abendland. Diese neuartige politische Erfahrung blieb bis heute im Sprachgebrauch als Relikt präsent, denkt man etwa an die Bedeutung des englischen assassin. Besonders spektakulär war 1192 die Erdolchung des einige Tage zuvor zum König von Jerusalem gewählten Konrad von Montferrat. Das Attentat der Assassinen wurde vom französischen König sofort propagandistisch für eine Kampagne gegen den englischen König Richard Löwenherz ausgemünzt. In der Folgezeit lastete man den assasini weitere politische Morde an, etwa den tödlichen Anschlag auf Herzog Ludwig von Bayern 1231. Die päpstliche Partei ergriff die willkommene Gelegenheit, Kaiser Friedrich II. als angeblichen Anstifter zu diffamieren. Nach Hellmuths Feststellungen ist die Erzählung über Friedrichs Praktiken bei der Gewinnung der Meuchelmörder allerdings als Sondergut Enikels anzusehen.

Übrigens läßt sich - zu S. 77 - ein weiterer Beleg für die Wiedergabe von assasinus mit mhd. stecher aus den Fränkisch-bairischen Annalen beibringen, die zuerst als Anhang zur deutschen Version des Martinus Polonus überliefert werden. Die Stelle betrifft die soeben erwähnte Ermordung des Bayernherzogs 1231 und ist aus den Heilsbronner Annalen übersetzt. [2]

Auch nach der Zerschlagung der politischen Macht der Sekte hielten sich Gerüchte über ihre bis dahin unerhörte Mordpraxis. Die Ursache für die rätselhafte Opferbereitschaft erklärten Erzählungen, die sowohl im Orient als auch in Europa verbreitet waren. Hellmuth arbeitet durch den Vergleich der einzelnen Versionen verschiedene Entwicklungsstufen der Überlieferung heraus (S. 87-90). Am Ende dieses Prozesses steht die Vorstellung, daß der Alte vom Berge seine Gefolgsleute mittels eines ungeheuerlichen Betruges zu ihren Taten verleitet habe. In der einen Variante täuscht ein Garten das Paradies vor, in der anderen erfolgt die Manipulation durch Rauschdrogen. Hellmuth vermutet einen orientalischen Ursprung der Erzählung, in der er "eine von den Christen übernommene Schöpfung der sunnitischen Feinde der Nizariya"(S. 92) sieht. Zum gleichen Überlieferungskomplex gehört die Erzählung vom Selbstmord auf Befehl, von der ebenfalls sowohl arabische als auch europäische Darstellungen existieren. Ihr Vorbild war wohl eine Szene des antiken Alexanderromans, in der die Opferbereitschaft der Gefolgsleute als Kriegslist erscheint.

Hellmuth bemüht sich um umfassende Heranziehung sowohl des europäischen als auch des orientalischen Materials zu dem Assassinen-Stoff, zur historischen Wirksamkeit der Sekte und zu den einzelnen Erzählmotiven. Als Nicht-Arabist nimmt man arabische Zitate im Urtext mit Ehrfurcht zur Kenntnis. Störend ist freilich die unübersichtliche Gliederung der Arbeit, und auch etliche allzu hypothetische Versuche, die Genese der Überlieferungen genau festzulegen, hätten dem Leser besser erspart bleiben sollen.

Eine solide Arbeit über ein exotisches Thema also? Gewiß, doch finde ich die methodische Hilflosigkeit enttäuschend, mit der Hellmuth dem Phänomen historischer Traditionsbildung entgegentritt. Dies beginnt bei dem unreflektierten Gebrauch des Begriffs 'Legende' im Titel der Studie - er sollte für das hagiographische Genus reserviert bleiben. Arbeiten aus dem Bereich der volkskundlichen Erzählforschung oder der von historischer Seite betriebenen Erforschung 'historischer Überlieferungen'[3] sind nicht herangezogen worden, und so wirken Hellmuths Ausführungen über Funktionen und Gattungskontext der behandelten Erzählungen etwas zu "handgestrickt". Ist es zuviel verlangt, den Funktionstyp 'Diffamierungsgeschichte' bzw. 'Greuelpropaganda' bei Gelegenheit einer solchen Arbeit einigermaßen präzise zu charakterisieren? Wie der 'Sitz im Leben' verwandter spätmittelalterlicher Erzählungen beschrieben werden kann, hat Frantisek Graus kürzlich an den Beispielen der im 14. Jahrhundert verbreiteten "Ritualmordfabel" und der "Fabel" von der Brunnenvergiftung der Juden 1348/50, beides typische 'Verschwörungstheorien', eindrucksvoll demonstriert [4]. (Gegen den von Graus verwendeten Begriff 'Fabel' gilt freilich der gleiche Vorbehalt wie gegen den Begriff 'Legende', und auch die Begriffe 'Sage' und 'Mythos' sind nicht weniger problematisch.) Gerüchten und Prozessen der Reformationszeit, die angebliche jüdische Ritualmorde zum Gegenstand hatten, ist auch das anregende Buch von R. Po-Chia Hsia gewidmet, dem es - in Anlehnung an die methodischen Überlegungen von David Sabean - um den sozialen Diskurs geht, "a discourse, in which various social voices made use of the ensemble of religious, political, legal, and magical vocabularies to contest and define the nature of social reality".[5]

Die abendländischen Assassinen-Erzählungen des 13. Jahrhunderts waren als Exempla, deren mögliche Lehre die Warnung vor inhumanen Herrschaftspraktiken ist, Bestandteile des politischen Diskurses ihrer Zeit. Da mündliche, schichtenübergreifende Weitergabe anzunehmen ist, wird man sie dem 'öffentlichen Diskurs' zurechnen dürfen - diese Kategorie soll die fragwürdige Rede von der 'volkstümlichen' Verbreitung (z.B. S. 91: "im Volk zirkulierende Spekulationen") ersetzen. Geschichten als Kampfmitteln kommen die Kategorien 'Aktualität' und 'Parteilichkeit' zu - ihr Tempus ist die Gegenwart, ihr Medium die sogenannte 'öffentliche Meinung'[6]. Verliert die Auseinandersetzung, die sie entstehen ließ oder in Gebrauch nahm, ihre aktuelle Bedeutung, so bleiben sie gleichwohl als Traditionsgut ('Erzählstoff' bzw. 'Erzählmotive') erhalten. Sie kehren damit gleichsam in jenes Exempelreservoir zurück, dem sie entweder entnommen worden sind oder das, versteht man es als Matrix wertorientierter Deutungen der sozialen Realität, Bedingung der Möglichkeit ihrer 'Erfindung' war. Natürlich gibt es auch Geschichten, die aktuell sind, aber nicht parteilich, d.h. für oder gegen eine Partei erzählt werden. Anspielungen in der Trobadordichtung funktionalisieren den Assassinen-Stoff als Exemplum für unerschütterliche Treue (S. 72-74), ohne daß eine positive oder negative Wertung der Assassinen ablesbar wäre.

Der Zeitenabstand läßt die Geschichten, seien es Fakten oder Fiktionen, 'historisch' werden - ihr Tempus ist nun die Vergangenheit. Sie können über Datierungen oder datierbare Personen im historiographischen Diskurs oder anderen gelehrten Diskursen verankert werden. Historische Exempel können auch wieder in den öffentlichen Diskurs zurückkehren: als 'historische Argumente', mit der aktuelle Ansprüche begründet oder zurückgewiesen werden.

Hellmuth geht es um die "Transformation historischer Ereignisse und Gerüchte in historische und pseudohistorische Erzählungen"(S. 10). Enikels Geschichten über Friedrich II. ohne räumliche und zeitliche Einbettung, die sich nicht nachprüfen lassen, nennt er "biographische Anekdoten"(S. 14). An anderer Stelle spricht er davon, Friedrich II. sei "in breiten Kreisen der Bevölkerung schon früh zu einer mythischen Gestalt"(S. 162) geworden. Dem Gebrauch des - nicht sonderlich klaren - Begriffs 'Mythisierung' in der volkskundlichen Erzählforschung liegt die Beobachtung zugrunde, daß Historisches mittels 'zeitloser', allgegenwärtiger, archetypischer Erzählmotive oder Schemata gedeutet wird. Auch Hsia spricht davon, daß Ritualmordvorstellungen nach dem Ende der Prozesse aus der Sphäre des "functional" in die "nebulous region of myth" übergegangen seien[7]. Analog dazu blieb die Hexenlehre auch nach dem Ende der Hexenprozesse in Glaubensvorstellungen und 'Hexensagen' gegenwärtig.

Der öffentliche Diskurs wird somit hintergründig von Erzählgut gespeist, das sich als Deutungsvorgabe in den "Dienst historischer Erfahrung"[8] stellen läßt und das zugleich ständig Zuwachs an historischen oder 'enthistorisierten' Geschichten aus mündlicher, literarischer oder gelehrter Überlieferung erhält.

Der Funktion als Exemplum ist die Kategorie 'Unterhaltung' an die Seite zu stellen, die freilich methodisch schlüssig schwierig zu bestimmen ist und die nicht gegen die lehrhafte Tendenz ausgespielt werden darf. Immerhin liefert die Gattungsperspektive Anhaltspunkte. Nicht zufällig wird der Assassinen-Stoff in den Cento Novelle Antiche (S. 105) sowie in einem arabischen Romanfragment (S. 41-45) aufgenommen.

Durch den Gebrauch zu Unterhaltungszwecken werden Geschichten nur zeitweise 'entschärft'. Unterstellt man, daß die eingangs zitierte Reportage keiner Greuelpropaganda aufgesessen ist, so vermag sie auf beklemmende Weise klarzumachen, daß Traditionsgut nicht nur jederzeit der Aktualität zurückgegeben, sondern sogar zur Maxime (un)menschlicher Praxis gemacht werden kann.

Hellmuth betont zurecht die "Vitalität und Adaptionsfähigkeit"(S. 164) des Assassinenstoffs. Sein Buch läßt jedoch deutlich erkennen, daß es, soweit ich sehe, an einem verbindlichen und griffigen methodischen Instrumentarium fehlt, das die von unterschiedlichen Disziplinen (Literaturwissenschaft, Historie, Volkskunde usw.) mit unterschiedlichen Konzepten ('Stoffgeschichte', 'Sage'[9], 'Heldensage', 'Legende', 'Geschichtsbewußtsein', 'Oralität' usw.) mehr oder weniger voneinander abgeschottet erzielten Ergebnisse zur Beschreibung der Redaktions- und Funktionsgeschichte von 'Erzählstoffen' oder 'Traditionen' integrieren könnte.

 

1. DER SPIEGEL 32/1989, S. 117.

2. Text z.B. bei Georg Leidinger, Ein Bruchstück einer unbekannten deutschen Chronik des vierzehnten Jahrhunderts. In: Albert Brackmann (Hg.), Papsttum und Kaisertum. München 1926, S. 591-594, hier S. 593; zu der von Leidinger nicht identifizierten Quelle vgl. vorläufig Paul Joachimsohn, Die humanistische Geschichtsschreibung in Deutschland. H. I: Die Anfänge. Sigismund Meisterlin. Bonn 1895, S. 6.

3. Vgl. Rez., Thesen zur Verabschiedung des Begriffs der 'historischen Sage'. In: Fabula 29 (1988), S. 21-47 mit weiteren Nachweisen.

4. Frantisek Graus, Pest-Geißler-Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 86) Göttingen 21988, S. 282-334.

5. R. Po-Chia Hsia, The Myth of Ritual Murder. Jews and Magic in Reformation Germany. New York and London 1988, S. 26. Zur Skizze einer Diskursgeschichte vgl. Rez., Exemplarische Geschichten. (Forschungen zur Geschichte der Älteren Deutschen Literatur 7) München 1987, S. 16-24.

6. Vgl. dazu die bei Rez. (wie Anm. 3), S. 36 herangezogenen Studien von Ernst Schubert und Martin Bauer.

7. Hsia (wie Anm. 5), S. 208.

8. Walter Haug, Andreas Heuslers Heldensagenmodell: Prämissen, Kritik und Gegenentwurf. In: Zeitschrift für Deutsches Altertum und Deutsche Literatur 104 (1975), S. 273-292, hier S. 292.

9. Für das Konzept 'Sage' plädierten jüngst z.B.: Rudolf Schenda (Hg.), Sagenerzähler und Sagensammler der Schweiz. Studien zur Produktion volkstümlicher Geschichte und Geschichten vom 16. bis zum frühen 20. Jahrhundert. Bern und Stuttgart 1988 (vgl. dazu kritisch meinen Besprechungsaufsatz "Sagensammler vor dem 18. Jahrhundert? Anmerkungen zum Sagenbegriff". In: Beiträge zur Volkskunde in Baden-Württemberg, erscheint 1990) und Hilkert Weddige, Heldensage und Stammessage (Hermaea 61) Tübingen 1989, S. 158f.

Klaus Graf