Lundt, Bea: Melusine und Merlin im Mittelalter. Entwürfe und Modelle weiblicher Existenz im Beziehungs-Diskurs der Geschlechter. Ein Beitrag zur Historischen Erzählforschung. München: Fink 1991. 376 p.

Beziehungsprobleme, wohin man blickt: Die spezifischen Schwierigkeiten des Fischwesens Melusine mit seinem irdischen Partner liegen auf der Hand (erinnert sei nur an den Film "Die Meerjungfrau"), und auch Merlin, der "Geistmann", kommt bei dem anderen Geschlecht nicht so recht zum Zuge. Weniger salopp formuliert: Frau Lundt geht es um eine psychoanalytisch inspirierte Lektüre literarischer Texte vom 12. bis zum Ende des 16. Jahrhunderts im Hinblick auf die von ihnen erzählerisch gestalteten Modelle und Definitionen der Beziehungen zwischen Mann und Frau. Aus dem Kreis der Texte, die das Schema der "gestörten Mahrtenehe" (F. Panzer) behandeln (cf. AaTh 400, 425), wurden für den ersten Teil ausgewählt: aus dem Hochmittelalter Marie de France "Lanval", Walter Map "De nugis curialium", Gervasius von Tilbury "Otia Imperialia", Konrad von Würzburg "Partonopier und Meliur"; aus dem 14. bis 16. Jahrhundert Egenolf von Staufenberg "Der Ritter von Staufenberg" (cf. jetzt E. Grunewald in: Volksreligion im hohen und späten Mittelalter, 1990, 129-143), Thüring von Ringoltingen "Melusine" (cf. jetzt Ausgabe und Kommentar von J.-D. Müller, Romane des 15. und 16. Jahrhunderts, 1990), Theophrastus Paracelsus "Liber de Nymphis", Johann Fischart "Peter von Staufenberg". Der zweite Teil, "Merlin und die Frauen", befragt vor allem Texte der Artusepik auf ihr Merlinbild: Geoffrey of Monmouth "Historia Regum Britanniae" und "Vita Merlini", Robert von Boron "Merlin" mit einer Fortsetzung, die eine Liebesgeschichte zwischen Merlin und Viviane einführt, sowie weitere französische, englische und deutsche Gestaltungen des Merlin-Themas vom 13. bis 15. Jahrhundert. Die Einbeziehung "märchenhafter" Elemente in die lateinische und volkssprachige Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts wird mit dem Charakter dieser Zeit als "Aufbruchsepoche" erklärt (116), und die Texte werden als Utopien und Experimente mit Beziehungsmustern verstanden, die im Medium der Phantasie auf gesellschaftliche Herausforderungen antworten. Während in den Melusinentexten der Mann in der Begegnung mit einem Wesen aus dem Feenreich "mit den für ihn unheimlichen Dimensionen des weiblichen Geschlechts" konfrontiert wird (118), reflektieren die interpretierten Merlintexte "die schwierige Existenz eines Intellektuellen" (198) in einer sonst eher körperbezogenen Männerkultur und die besonderen Bedingungen seiner Partnerwahl, insbesondere die durch die Verbindung von "Lernen und Lieben" bestimmte Beziehungsutopie.

Dem mutigen und frischen Zugriff dieser Bochumer geschichtswissenschaftlichen Dissertation bei Ferdinand Seibt verzeiht man manche Überinterpretation und eine mitunter sehr romantisch anmutende Diktion. Die Kernaussagen des Buches mögen bessere Kenner psychohistorischer und frauengeschichtlicher Ansätze bewerten - der p. 29 gesuchte Anschluß an die "Historische Erzählforschung" im Umkreis der "Fabula" und der "Enzyklopädie des Märchens", die ja vor allem in volkskundlichen Traditionen wurzelt, fordert jedoch einige grundsätzliche Einwände zu Frau Lundts weitgehender Ausblendung der Erzählforschung literaturwissenschaftlicher Provenienz und der darin geführten Debatte über die Grenzen einer Sozialgeschichte der Literatur heraus.

Aus literaturwissenschaftlicher Sicht nicht akzeptabel sind etwa die teilweise allzu kräftigen Beurteilungen (etwa p. 328 sq.: voyeuristisches Interesse, morbider Pessimismus), die sich die spätmittelalterlichen Texte gefallen lassen müssen, da sie nicht halten, was die hochmittelalterlichen Versionen versprechen. Wenn Frau Lundts "historisch-bewußtseinsgeschichtliche Forschung" (63) nach Lebensmodellen fragt, so tut sie damit nichts anderes als die neuere literaturwissenschaftliche Forschung (cf. etwa W. Thieß, Fabula 31, 1990, 364). Beispielsweise sieht Anna Mühlherr in Thürings Melusinenroman das "Problem einer menschlich lebbaren Wirklichkeits- und Weltgestaltung" diskutiert (in: Positionen des Romans im späten Mittelalter, 1991, 337). Hingewiesen sei auch auf die weitgehend parallel laufende Auseinandersetzung von Brigitte Schöning mit den Feenerzählungen der deutschen Literatur des Mittelalters aus altgermanistischem Blickwinkel ("Friedrich von Schwaben", 1991, 202-225), wobei ich Schönings ausführliche Kritik am Begriff des "Märchenhaften" (ibid., 165-193) nur unterstreichen kann.

Von den Zugängen zu fiktionalen Werken der behandelten Art, wie sie die Altgermanistik erprobt hat, greife ich nur Walter Haugs Plädoyer zugunsten einer "Stoffgeschichte als literaturwissenschaftliche Teildisziplin" (Strukturen als Schlüssel zur Welt, 1989, 598) heraus, da dies die beunruhigende Frage aufwirft, wie sich die von Frau Lundt untersuchten "Spielräume" phantasierten Verhaltens zu den von Haug und anderen mit strukturalistischem Instrumentarium herausgearbeiteten Bewegungsformen literarischer Schemata verhalten. Pointiert formuliert: Es führt in eine methodische Sackgasse, wenn eine sich unbefangen gebende frauengeschichtliche Lektüre die Literarizität der interpretierten Texte und insbesondere die Gattungsproblematik, etwa den von Müller (l.c., 1035) bei Thüring von Ringoltingen beobachteten Übergang von der "Sage" zum "Roman", nicht hinreichend in Rechnung stellt.

Aus historischer Perspektive soll angemerkt werden, daß die wiederholte Anführung der "Bewußtseinskrise des Spätmittelalters" (z.B. 340) allzu schablonenhaft wirkt, zumal die differenzierten Einsichten von F. Graus (Pest - Geißler - Judenmorde, 1988; cf. Fabula 31, 1990, 339-341) zu dem mit Recht umstrittenen Krisenbegriff nicht berücksichtigt werden.

Zuletzt noch eine Randbemerkung zur Quellenkritik: Aufgabe einer Historischen Erzählforschung müßte es sein, sich verstärkt Rechenschaft darüber abzulegen, von welchen Interessen die Aufzeichnung bzw. Verschriftlichung sogenannter "Volkserzählungen" in vormoderner Zeit geleitet wurden. Für die in der Arbeit behandelten englischen Texte des 12. Jahrhunderts wäre auf die damalige "Sammelwut" nach "legends and marvels" zu verweisen (P. von Moos, Geschichte als Topik, 1988, 136); die Abhandlung des Paracelsus über die Elementargeister gehört in den Kontext humanistischer "Entdeckung" mündlicher Traditionen, der eine zusammenfassende Darstellung verdiente. Eine "Geschichte der mündlichen Überlieferung", für die S. Wiedenhofers Artikel "Tradition" (in: Geschichtliche Grundbegriffe vol. 6, 1990, 607-649) Bausteine erst seit der Zeit der Aufklärung enthält, wäre nicht nur als "Vorgeschichte" des modernen Sagenbegriffs von Nutzen, sondern könnte auch den Stellenwert mündlicher Überlieferungen als Medium der "Erinnerungskultur" bzw. des "sozialen Gedächtnisses" (cf. etwa P. Burke in: Mnemosyne, 1991, 292) abzuschätzen helfen.

Klaus Graf

Druckfassung erschienen in: Fabula 34 (1993), S. 345-347