Knut Hickethier

Gesamtdeutsche Geschichte des Fernsehkrimis




  • Ingrid Brück u.a.: Der deutsche Fernsehkrimi. Eine Programm- und Produktionsgeschichte von den Anfängen bis heute. Stuttgart: J. B. Metzler 2003. XII, 367 S. 82 s/w Abb. Kartoniert. EUR 39,95.
    ISBN: 3-476-01803-2.


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Von einem mediengeschichtlichen Standpunkt aus betrachtet ist es schon erstaunlich, dass wir die Auseinandersetzung über das fiktionale Erzählen in den audiovisuellen Medien – dort wo wir über größere Produktionsgruppen, also über Genres, sprechen – immer noch vor allem am Beispiel des Kinospielfilms führen. Besonders beim Kriminalfilm ist dies eklatant. Die heutigen Prototypen dieses Genres scheinen – schaut man auf die einschlägige Literatur – fast ausnahmslos der Kinofilmproduktion, und hier auch noch in dominanter Weise der Hollywood-Herstellung, zu entstammen, dabei zeigt ein schneller Blick in den >Krimialltag<, dass das Genre quantitativ von den Fernsehproduktionen in überragender Weise beherrscht wird. Die übergroße Mehrheit des Publikums sieht Kriminalfilme vor allem im Fernsehen und hier besonders die für das Fernsehen direkt hergestellten Filme. Doch es existierte bislang noch keine auch nur als einigermaßen umfassend geltende Übersicht über die Fernsehfilmproduktion in diesem Genre.

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Dieses Defizit wird durch die Arbeit von Brück und anderen beseitigt. Die Autorinnen und der Autor legen eine erste gesamtdeutsche Genregeschichte des Fernsehkrimis vor und dies in einer Form, die als wegweisend gelten kann auch für die Beschäftigung mit anderen Fernsehgenres.

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Kulturelle und politische
Funktionen des Krimi-Genres

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Im einleitenden Kapitel werden zunächst die institutionellen und theoretischen Rahmen abgesteckt. Dies ist ein wenig schematisch, wenn zum Beispiel die Frage nach der politischen Macht nur am Beispiel des DDR-Fernsehens, die Frage nach der kulturellen Bedeutung (»Fernsehen als Kulturgut«, S. 4) nur am bundesdeutschen Fernsehen erörtert wird. Denn natürlich ist der Zusammenhang von Kriminalfilm und Machterhalt eines gesellschaftlichen Status quo auch für die Bundesrepublik zu erörtern, wenn auch in anderer Weise. Umgekehrt gilt die Frage nach dem kulturellen Zusammenhang auch für den Fernsehkrimi der DDR.

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Für diesen Kontext gewinnt die Frage nach der Faszination, die von diesem Genre ausgeht, eine zentrale Bedeutung: Warum sehen wir uns wieder und wieder Filme an, die von so >schlichten und einfachen Genre-Konventionen< bestimmt sind, deren Muster wir längst habitualisiert haben? Was ist die gesellschaftliche Funktion des Krimis mit seiner Durchbrechung der Ordnung und ihrer Wiederherstellung durch die Detektion, durch den Polizeiapparat? Hier wären sicherlich einige tiefer gehende Funktionsüberlegungen nach der Bedeutung des Genres für die gesellschaftliche, medial betriebene Selbstverständigung produktiv gewesen, denn offensichtlich gibt es diese Faszination systemübergreifend in unterschiedlichen modernen Gesellschaften. Der Krimi ist dann wohl auch nicht, wie die Klassiker unter den Theoretikern des Genres gesagt haben, eine funktionale Hervorbringung demokratischer Gesellschaften.

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Genreentwicklungen in den
Mediensystemen der BRD und der DDR

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Drei Hauptkapitel liefern eine konzise Darstellung der Genre-Entwicklungen in beiden deutschen Mediensystemen. Zunächst wenden sich die Autorinnen und der Autor dem Krimi im DDR-Fernsehen zu. Dass diese Entwicklung vor der sehr viel umfangreicheren und früher beginnenden Entwicklung im bundesdeutschen Fernsehen steht, hängt sicherlich mit dem Standort zusammen: Das Buch ist im Rahmen eines DFG-Projekts an der Universität Halle entstanden, so dass der erste Blick auf die Krimiproduktion in der DDR fiel. Dadurch ergibt sich nun das >lesedramaturgische< Problem, dass mehrfach auf den Einfluss des Westfernsehens verwiesen werden muss, wobei von diesem Westfernsehen dem Leser noch nichts bekannt ist. Andererseits ist dann der Übergang zu den Krimis nach 1989 leichter und folgerichtiger, weil ja, von wenigen Ausnahmen abgesehen, das bundesdeutsche System fortbestand und nur Weniges (zum Beispiel »Polizeiruf 110«) aus dem DDR-Fernsehen – und dies auch nur sehr modifiziert – übernahm.

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In diesen Hauptkapiteln werden nun auch die gesellschaftlichen Funktionen des Kriminalfilms und die auf ihn gerichteten Bedeutungszuweisungen ausführlich behandelt. Hier liegt die große Qualität des Buches, dass es sehr dicht am Genre bleibend gleichwohl die allgemeinen Rahmenbedingungen genau benennt, auch die historischen Abweichungen und Veränderungen präzise angibt. Damit sind die Voraussetzungen für die programmgeschichtlichen Darstellungen gegeben. Die Arbeit liefert knappe und materialdichte Übersichten, die so bislang nirgends vorhanden waren. Im DDR-Kapitel werden Reihen wie »Blaulicht«, »Der Staatsanwalt hat das Wort« und vor allem »Polizeiruf 110« eingebettet in die Gesamtproduktion von Fernsehkrimis. Sie werden in zentralen Folgen mit ihren Themen vorgestellt, die Sujet- und Themenentwicklung wird umrissen. Es werden die Konzepte der Dramaturgen erläutert, die Produktionsumstände geschildert, knapp wird auch über die Resonanz bei den Zuschauern berichtet.

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Aus der Vielfalt der benutzten Materialien entsteht ein dichtes argumentatives Gewebe, die Spezifik des Krimis in der DDR, der von Kriminalität in der DDR erzählte, die es nach der Staatsauffassung gar nicht gab, tritt dabei plastisch hervor. Dass das Genre dann auch für die Erörterung der Ost-West-Problematik benutzt wurde, nach der alles Schlechte aus dem Westen kam, verwundert nicht. Umgekehrt aber gab es auch im West-Kriminalfilm eine Beschäftigung mit der DDR, nur hatte sie einen anderen Charakter als die eines nur ideologischen Gegenparts.

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Der Kriminalfilm im westdeutschen Fernsehen bis zur Einführung der privatrechtlichen Programme wird in ähnlich dichter Weise beschrieben. Nach einer sehr komprimierten, gleichwohl komplexen Darstellung der Rahmenbedingungen werden in Dekadenschritten vor allem die Kriminalfilmserien beschrieben, die von »Der Polizeibericht meldet« über »Stahlnetz« bis zu »Der Kommissar«, »Derrick«, »Der Alte« und »Tatort« reichen. Dabei werden auch andere Subgenres wie der Agentenfilm (»Die fünfte Kolonne«) erwähnt (wobei hier Filmreihen der DDR wie »Das unsichtbare Visier« fehlen) oder das Subgenre des Wirtschaftskrimis (»Schwarz Rot Gold«) behandelt.

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Vermisstenmeldung

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Es bleibt nicht aus, dass sich bei der übergroßen Zahl an Kriminalfilmproduktionen zwangsläufig Beispiele finden lassen, die nicht erwähnt werden. So wäre ein kurzer Abschnitt über die wachsende Zahl von Kriminalfernsehfilmen als Einzelproduktionen denkbar gewesen, dann aber auch ein Abschnitt über die in den sechziger und siebziger Jahren ausgestrahlten amerikanischen und britischen Krimiserien wie zum Beispiel »Mit Schirm, Charme und Melone« und vor allem »Kommissar Maigret«, wobei die letztere Serie in Vielem zum Vorbild für die ZDF-Serie »Der Kommissar« wurde, mithin also einen direkten Einfluss auf die deutsche Krimiproduktion nahm. Das Spiel zwischen den deutschen und den (vor allem) amerikanischen Krimiserien trieb ja in der Bundesrepublik die einheimische Krimiproduktion maßgeblich mit an. Nachahmung der Vorbilder und Ablösung von ihnen bestimmten die ästhetische Entwicklung gerade des westdeutschen Kriminalfilms. Diese starke ästhetische Veränderung in den Erzähl- und Darstellungsweisen wird sichtbar, wenn man die »Durbridge«-Mehrteiler der frühen sechziger Jahre mit den späteren Tatort-Filmen der siebziger Jahre vergleicht.

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Auch der Zusammenhang der Fernsehkrimi-Produktion Ende der sechziger und in den siebziger Jahre mit dem Entstehen einer neuen Genreautoren-Generation (Werremeier, Rodrian, -ky u. a. im Kontext des >Neuen deutschen Kriminalromans<) hätte eine kurze Würdigung verdient, ohne dass dies den Rahmen des Kapitels gesprengt hätte. Trotz solcher noch denkbaren Erweiterungen der Darstellung zeichnen die Autoren des Bandes eine sehr detailreiche Einwicklung des Genres, in der vor allem die Hauptreihen und -serien ein deutliches Profil erhalten und prägnant hervortreten.

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Das duale System nach 1990

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Ein gesondertes Kapitel widmet sich dem Fernsehkrimi im >Dualen Rundfunksystem< und kann hier zum einen die Zusammenführung der ost- und westdeutschen Kriminalfilmproduktion und zum anderen das Aufkommen der ersten selbst produzierten Serien der privatrechtlichen Anbieter darstellen. Ausgehend von den öffentlich-rechtlichen Serien wie »Eurocops« und »Peter Strohm«, wird die Integration des »Polizeiruf 110« in das ARD-System sowie das Entstehen der MDR-Tatorte beschrieben, dann aber auch die Serien »Wolfs Revier« (Sat.1) und »Kommissar Rex« (Sat.1) als Anfang der deutschen Krimiserienproduktion im kommerziellen Fernsehen dargestellt. Hier hätte ein kleiner Blick auf die TV-Movie-Produktion von RTL mit den teilweise prämierten Kriminalfilmen (zum Beispiel »Der Sandmann«) den Bericht ergänzt.

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Ein abschließendes Kapitel beschreibt die Fernsehgegenwart der neunziger und frühen 2000er Jahre, stellt hier stärker Strukturprobleme der Produktion, der Finanzierung und des Vertriebs heraus und geht besonders auf die Trailerproduktion für die Kriminalfilme ein. Die gesellschaftlichen Funktionen des Krimis werden hier in großen Strichen skizziert und mit zahlreichen Verweisen auf aktuelle Produktionen ergänzt. Damit schließt die Darstellung der »Programm- und Produktionsgeschichte«, wie sich die Arbeit selbst im Untertitel nennt, und deren Vorzüge vor allem in der detailreichen Beschreibung liegen, die immer dicht an den dargestellten Serien bleibt. Die dabei erreichte hohe Anschaulichkeit ist gerade in einem Feld, das vielen Lesern heute vor allem in den älteren Beispielen nicht mehr vor Augen ist, nicht selbstverständlich und muss deshalb als ein deutlicher Vorzug der Arbeit gewertet werden.

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Für eine zweite Auflage empfiehlt es sich, einige kleinere Fehler zu beseitigen, die gleichwohl gerade den Hamburger Krimifan schmerzen, zum Beispiel wenn die erste Tatortfolge mit Trimmel (»Taxi nach Leipzig«, 29.11.1970) dem WDR und nicht, wie es richtig ist, dem NDR zugeschrieben wird (S. 163). Doch solche Hinweise sollen nicht den Wert der Leistung mindern, die die Autoren erbracht haben. Dieses Buch kann Vorbild sein für die Darstellung anderer Programmsparten und -genres.


Prof. Dr. Knut Hickethier
Universität Hamburg
Institut für Germanistik II
Von-Melle-Park 6
DE - 20146 Hamburg

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Ins Netz gestellt am 08.07.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Joachim Linder. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber.

Empfohlene Zitierweise:

Knut Hickethier: Gesamtdeutsche Geschichte des Fernsehkrimis. (Rezension über: Ingrid Brück u.a.: Der deutsche Fernsehkrimi. Eine Programm- und Produktionsgeschichte von den Anfängen bis heute. Stuttgart: J. B. Metzler 2003.)
In: IASLonline [08.07.2004]
URL: <http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/Hickethier3476018032_802.html>
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