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(Sach-)Literatur im Kontext einer
mittelalterlichen Kulturlandschaft

  • Ralf G. Päsler: Deutschsprachige Sachliteratur im Preußenland bis 1500. Untersuchungen zu ihrer Überlieferung. (Aus Archiven, Bibliotheken und Museen Mittel- und Osteuropas 2) Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2003. 452 S. 2 Abb. Gebunden. EUR (D) 44,90.
    ISBN: 3-412-15502-0.
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Preußische Literaturgeschichte
als Desiderat

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Die Geschichte der Ausbildung moderner Regionen führt oft weit bis ins Mittelalter zurück, selbst wenn die gewaltsamen Veränderungen des 20. Jahrhunderts zu Traditionsbrüchen geführt haben. Die besondere Kultur – und Literatur – einer Region lässt sich nur vor dem historischen Hintergrund verstehen, selbst wenn die einzelnen Zeugnisse eigenständigen Wert besitzen. Das »Preußenland«, also die bis 1945 bestehenden, wenn auch schon zwischen Polen und Deutschland geteilten Regionen Ost- und Westpreußen bilden dabei in mehrfacher Hinsicht einen Sonderfall. Die Darstellung der preußischen Literatur- und Kulturgeschichte wird nicht nur durch das Faktum erschwert, dass nach der Vertreibung der Deutschen in der Folge des von Deutschland ausgehenden Zweiten Weltkriegs nunmehr Polen das regionale Bewusstsein wieder entdecken und weiterführen. Vielmehr zeichnet sich die mittelalterliche Geschichte Preußens zudem durch einen Dualismus aus, der auch die modernen Darstellungen bestimmt: den von regionaler Eigenheit und überregionaler Korporation, die die Region beherrscht, kurz, von Preußen und Deutschem Orden. So konzentrieren sich die älteren Darstellungen, die eine preußische Literaturgeschichte bieten wollen, für das Mittelalter auf die so genannte Deutschordensliteratur, und Überblicke über die Deutschordensliteratur setzen – wie der von Gerhard Eis – 1 mindestens implizit alle in Preußen entstandene Literatur mit Deutschordensliteratur gleich.

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Einen neuen Ansatz verspricht die vorliegende Arbeit von Ralf G. Päsler, der sich ausdrücklich fehlenden Vorarbeiten für eine kulturgeschichtlich ausgerichtete Literaturgeschichte widmen und ein Konzept dafür entwickeln will. Die Vorarbeiten sollen insbesondere dem Bereich der Sachliteratur gelten, in dem die Chronistik am besten, die Rechtsliteratur schon weniger, aber die Artesliteratur kaum aufgearbeitet ist. Fast immer fehlen Übersichten und neuere Editionen. Offen bleibt, mit Hinweis auf die sonst erforderliche Ausweitung, der große Bereich der theologischen Werke. Der Verfasser setzt im Sinne einer Forderung von Hugo Kuhn bei der Überlieferung an. 2 Daneben soll aber »auch der Versuch der Einbindung der untersuchten Literatur in die jeweiligen historischen Ereignisse stehen« (S. 43). Damit soll insbesondere erschlossen werden, welche Faktoren bei der Ausformung des literarischen Lebens eine Rolle spielten, es soll also die Literatur in ihrem kulturgeschichtlichen Kontext betrachtet werden.

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Bildung und Sachliteratur
im Ordensland Preußen

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Der Verfasser beginnt seine Darstellung einleitend mit einem auf die Fragestellung hin orientierten Überblick über Bildung, Bücher und Bibliotheken in Preußen. Den Anfang machen die in der älteren Literatur oft überschätzten Schulen, für die knapp erste Belege und einige Inhalte angeführt werden. Danach wird kurz das Projekt einer Universitätsgründung in Kulm vorgestellt, gefolgt von grundsätzlichen Überlegungen zum Wirken geistlicher und weltlicher Gelehrter im Ordensland. Daran schließt sich eine Übersicht über die verschiedenen Bibliotheken Preußens an, von den Bibliotheken des Ordens und denen der Geistlichen über Kloster-, Rats- und »Öffentliche« Bibliotheken bis zu privatem Buchbesitz und Buchproduktion. Die Bibliotheken des Deutschen Ordens (auch außerhalb Preußens), der Bistümer und Kapitel haben unlängst durch Arno Mentzel-Reuters eine ausführliche Untersuchung erfahren. 3 Im vorliegenden Kontext wird vor diesem Hintergrund nur ein Überblick über die wenigen nachweisbaren Titel zur deutschsprachigen Sachliteratur im Ordensbesitz geboten. Weitaus ausführlicher ist dagegen der Abschnitt zu den Domkapiteln, der unter anderem eine Rekonstruktion der Bände des samländischen Domkapitels enthält, die sich in der ehemaligen Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg befanden. Von den Ratsbibliotheken ist das Beispiel Kulms mit einer Liste der Bestände vertreten.

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Im Zentrum der Arbeit steht zunächst ein Verzeichnis der zentralen Quellen zur Sachliteratur, und zwar in zwei Teilen: eine Liste von Handschriften und ein Repertorium deutschsprachiger Texte, die dem Ordensland sicher oder mit einiger Wahrscheinlichkeit zuzuweisen sind. In beiden Fällen kann naturgemäß nur das erfasst werden, was noch vorhanden ist oder sich zumindest über mittelalterliche oder andere ältere Bibliothekskataloge erschließen lässt. Trotzdem entsteht ein eindruckvolles Bild der Preußen zuzuordnenden Überlieferung, mit genauen Beschreibungen der Manuskripte und der in ihnen enthaltenen Texte, für die der Verfasser teilweise auf eine andere bereits von ihm vorgelegte Publikation zu Königsberger Handschriften zurückgreifen kann. 4 Dies wird dann in drei Schritten für die ausgewählten, einleitend genannten drei Bereiche von Sachliteratur näher untersucht: für die Rechtsliteratur, die Chronistik und die Artesliteratur.

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Den Anfang machen die besonders weit verbreiteten Rechtsbücher. Der Verfasser behandelt dafür zunächst die rechtlichen Grundlagen, insbesondere die Kulmer Handfeste (allerdings ohne Hinweis auf die deutsche Übersetzung durch Konrad Bitschin) und den Streit mit dem Orden um die Verleihung des Lübischen Rechts an Elbing. Dann wendet er sich den insbesondere im Umfeld der städtischen Kanzleien entstandenen Versuchen zu, das sächsisch-magdeburgische Recht für das Ordensland zu sammeln, insbesondere dem Alten Kulm, den Magdeburger Fragen und Walther Ekhardis Neun Büchern Magdeburgischen Rechts. Den Abschluss bildet die preußische Überlieferung des Verwandtschaftsbaums des Johannes Andreae in lateinischer und deutscher Sprache mit einigen an der Praxis orientierten Beispielen.

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Der zweite Abschnitt des Kapitels setzt sich mit der umfangreichen preußischen Geschichtsschreibung auseinander, die wesentlich vom Orden bestimmt war. Der Verfasser verweist zunächst auf die Überlieferung und die Forschungsgeschichte, um danach die »Gebrauchssituationen« der im Umfeld des Ordens und der preußischen Städte entstandenen Texte vorzustellen. Dann werden die drei großen deutschsprachigen Ordenschroniken behandelt: die Reim-Übersetzung der Chronik Peters von Dusburg durch Nikolaus von Jeroschin, die Chronik des Offizials des Bischofs von Pomesanien, Johannes (Posilge oder von Rehden), und die Ältere Hochmeisterchronik mit ihren Fortsetzungen. Weitere Abschnitte gelten der preußischen Annalistik, Ansätzen städtischer Geschichtsschreibung sowie nichtpreußischen Chroniken, die im Ordensland rezipiert wurden. Dabei wird allerdings – mit Hinweis auf die Überlieferungsprobleme – die Danziger Chronistik (wie etwa die wohl bald nach 1466 entstandene Danziger Chronik vom Bunde sowie die Chronik Johannes Lindaus) nicht mit behandelt, die das Bild des städtischen Beitrags zur Sachliteratur im Ordensland zweifellos noch erweitert hätte.

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Der dritte Abschnitt des Kapitels ist schließlich der Artesliteratur gewidmet, und zwar in etwas weiterem Verständnis (das heißt unter Einschluss der artes mechanicae) den Bereichen Trivium, Quadrivium, Human- und Veterinärmedizin, Geographie, Kochkunst und Enzyklopädien, für die die Texte fast ausschließlich kompiliert wurden. Behandelt werden dabei unter anderem das so genannte Elbinger Vokabular, die Geometria Culmensis als »erste deutsche Feldmesskunst«, die Wundarznei des im Dreizehnjährigen Krieg auf der Marienburg wirkenden Arztes Heinrich von Pfalzpaint, die im Zusammenhang mit den Kriegszügen des Deutschen Ordens gegen die Litauer entstandenen Litauischen Wegeberichte sowie das Königsberger Kochbuch, jeweils mit Hinweisen auf den Kontext der Überlieferung.

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Der Band wird durch eine Zusammenfassung, einen knappen Ausblick, der der Forschung weiterführende Fragen auf den Weg gibt, sowie mehrere Anhänge (Auszüge aus den Bibliotheksinventaren der Deutschordenshäuser, ein ausführliches Repertorium der historischen und modernen Bibliotheken und ein Editionsbeispiel aus den Wegeberichten), die Literaturliste und ausführliche Register der Handschriften und Initien sowie der Orte, Personen und Sachen abgeschlossen.

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Sachliteratur und Kultur
im mittelalterlichen Preußen

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Die Arbeit von Ralf G. Päsler bietet insgesamt eine gründlich gearbeitete und gut erschlossene Übersicht über die in den Gattungen Recht, Historiographie und Artes in Preußen entstandene und benutzte Sachliteratur. Sie macht deutlich, dass die ältere Subsumierung dieser und anderer Texte unter dem Begriff »Deutschordensliteratur« die Perspektive verengt und wesentliche Zugänge zu ihnen versperrt. So sind insbesondere die Rechtsbücher vor allem im städtischen Umfeld entstanden oder angeregt worden, und in der Chronistik lassen sich erste Ansätze für eine städtische Geschichtsschreibung erkennen, während in den Artes Orden und Städte gleichermaßen rezeptiv tätig waren. Die Arbeit stellt somit nicht eine Verschiebung, sondern vielmehr eine Erweiterung des Blicks auf die preußische Kulturgeschichte des Mittelalters dar, die hoffentlich weitere Studien anregen wird. Sie bildet auf jeden Fall eine solide Grundlage für eine immer noch ausstehende, »moderne« preußische Literaturgeschichte.



Anmerkungen

Gerhard Eis: Die Literatur im Deutschen Ritterorden und seinen Einflussgebieten. In: Ostdeutsche Wissenschaft 9 (1962), S. 56–101, hier S. 60 (Definition von Deutschordensliteratur).   zurück
Hugo Kuhn: Entwürfe zu einer Literatursystematik des Spätmittelalters. Tübingen 1980, S. 82.   zurück
Arno Mentzel-Reuters: arma spiritualia. Bibliotheken, Bücher und Bildung im Deutschen Orden (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 47) Wiesbaden 2003. Vgl. hierzu die Rezension in IASLonline: URL: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/Sarnowsky3447048387_962.html [01.09.2005].   zurück
Katalog der mittelalterlichen deutschsprachigen Handschriften der ehemaligen Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg nebst den mittelalterlichen deutschsprachigen Fragmenten des ehemaligen Staatsarchivs Königsberg, aufgrund der Vorarbeiten von Ludwig Denecke bearbeitet von Ralf G. Päsler, hg. von Uwe Meves (Schriften des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte 15) München 2000.   zurück