IASLonline

Unerhört

Neuere Radioforschungen

  • Konrad Dussel: Deutsche Rundfunkgeschichte. 2. überarbeitete Auflage. (UTB 2573) Konstanz: UVK 2004. 336 S. 12 Abb. Kartoniert. EUR (D) 19,90.
    ISBN: 3-8252-2573-9.
  • Knut Hickethier: Einführung in die Medienwissenschaft. Stuttgart: J. B. Metzler 2003. XIV, 393 S. 2 s/w Abb. Kartoniert. EUR 24,95.
    ISBN: 3-476-01882-2.
  • Edgar Lersch / Helmut Schanze (Hg.): Die Idee des Radios. Von den Anfängen in Europa und den USA bis 1933. (Jahrbuch Medien und Geschichte 2004) Konstanz: UVK 2004. 242 S. Kartoniert. EUR (D) 19,00.
    ISBN: 3-89669-462-6.
[1] 

Radio heute

[2] 

Der Hörfunk oder – wie es heute fast durchgehend heißt – das Radio ist in Deutschland ein viel genutztes Medium. Fast 100 Prozent der Haushalte besitzen ein Radiogerät. Nach statistischen Erhebungen liegt die durchschnittliche Hördauer bei täglich mehr als drei Stunden (2004: 196 Minuten). Das Radio ist noch immer vor allem ein regionales Medium, das in den unterschiedlichsten Situationen genutzt wird: überwiegend morgens, im Auto, beim Essen, bei der Arbeit, während das Nur-Hören ein eher rares Abendvergnügen geworden ist. Heute gibt es etwa 61 öffentlich-rechtliche und cirka 230 private Stationen, doch die Hörer zappen kaum zwischen den Programmen hin und her, sondern sind erstaunlich programmtreu.

[3] 

Folgt man der Einteilung, die Knut Hickethier in seiner Einführung in die Medienwissenschaft vorschlägt, dann gibt es öffentlich-rechtliche Vollprogramme, musikdominierte Tagesbegleitprogramme, Kulturprogramme, Spartenprogramme und Zielgruppenprogramme, während die Privatradios die musikdominierten Tagesbegleitprogramme bevorzugen (S. 297). Die meisten Sender strahlen 24-Stunden-Programme aus – und produzieren eine enorme, unüberhörbare und wohl auch unübersehbare Programmfülle: Musik, Nachrichten, Unterhaltung, Service, Kultur. Musik dominiert das Profil der meisten Radiostationen, dennoch ist auch die Produktion von Radiospezifischem und Kulturellem enorm. Allein 100 000 Hörspiele sollen in den letzten 80 Jahren gesendet worden sein.

[4] 

Radiotheorie
und Radiogeschichte

[5] 

Trotz der ständigen Verfügbarkeit und der großen Bedeutung des Radios im Alltag seiner Nutzer hält sich die Medienwissenschaft beim Thema Hörfunk seit langem auffällig zurück. Es gibt zwar in den Rundfunkanstalten eine ausgeprägte empirische und kommunikationsorientierte Forschung. Doch die in der Regel interne Forschung dient vor allem der Positionierung und Optimierung der eigenen Programme.

[6] 

Außerhalb der Sender fehlt diese wissenschaftliche Analyse. Der rasante Aufstieg der Medienwissenschaften in den letzten Jahrzehnten fand weitgehend ohne das Radio statt. In den raren Hörfunkdiskursen dominieren – seltsam rückwärtsgewandt – noch immer die frühen ›Radiotheorien‹ von Bertolt Brecht (1927) oder Rudolf Arnheim (1932), gelegentlich durch Gerhard Eckert (1941), Friedrich Knilli oder Eugen Kurt Fischer (1964) ergänzt. Die neuen Theorien und Projekte von Paul Virilio oder Vilèm Flusser, Norbert Bolz, Joachim Hörisch oder Niklas Luhmann kommen ohne das Radio aus, hier stehen der Film und das Leitmedium Fernsehen (punktuell auch das Internet) ganz eindeutig im Zentrum. Wer heute Näheres etwa über Krieg und Hörfunk, Radio und Individualisierung, die kulturellen Leistungen des Radios oder gar Radiokritik wissen möchte, wird in der Regel nicht mehr fündig. Die Radioforschung hinkt der Medienforschung hinterher, sie habe sogar »das Staunen weithin verlernt«, so Kaspar Maase in dem Sammelband Die Idee des Radios (S. 47).

[7] 

Und auch andere registrieren und beklagen inzwischen die Mängel der Radioforschung. Die »historische Erörterung der Medialität des Radios ist wenig entwickelt« (S. 358), so beschreibt Knut Hickethier die aktuelle Situation. »Einführungen in die Hörfunkanalyse – vergleichbar den analytischen Kategoriensystemen für Film und Fernsehen – sind bislang allenfalls in Ansätzen vorhanden« (S. 338). Selbst in der historischen Analyse gibt es relevante Defizite. »Die Programmgeschichte des Hörfunks ist ein weitgehend unbeackertes Feld«, so Konrad Dussel in seiner (Radio und Fernsehen behandelnden) Deutschen Rundfunkgeschichte, die er nun in einer zweiten, leicht überarbeiteten Fassung vorgelegt hat. »Einzelne Parzellen werden zwar liebevoll kultiviert – die Geschichte des Hörspiels etwa und die Literatur im Radio im Allgemeinen – aber das sind in Relation zum Gesamten nur Randbereiche, die keine weitreichenden Schlüsse zulassen« (S. 208).

[8] 

Neupositionierungen:
Radio als gleichberechtigtes
Medium

[9] 

»Ich habe das Ausblenden des Radios aus der Medienwissenschaft immer für einen Fehler gehalten«, erklärte Knut Hickethier kürzlich in der Hamburger Medienzeitschrift Tiefenschärfe – und ganz konsequent behandelt er in seiner Einführung in die Medienwissenschaft das Radio als gleichberechtigtes, aber ganz spezifisches, »›einsinniges‹« (S. 4) Medium (neben Kino, TV und Internet).

[10] 

»Das Radio ist ein nur auditiv wahrzunehmendes Medium« (S. 288). Mit dem Hörfunk wurde 1923 diese »völlig neue Form eines Massenmediums« (S. 292) mit »zeitbasierter Struktur« und fixiertem Programm eingeführt. Spezifisch sind eine Dominanz der Musik seit den Anfängen des Mediums, die Verbindung von Sprache (Sprechen) und Musik und ein Mangel an berichtenden und erzählenden Formen (vgl. S. 290 f.). Als Tagesbegleiter hat das Radio heute vor allem »stimmungsbezogene Funktionen« (S. 300), über Nachrichtensendungen wirkt es als »Frühwarnsystem« (S. 300). Zu den »Merkmalen das Radios gehört das Primat des Verbreitens vor dem Produzieren und Speichern« (S. 291). Hörspiel oder Feature gehören nach Hickethier zu den Formen mit »eigener audiofoner Gestalt« (S. 301).

[11] 

Medialität und
Radiodispositiv

[12] 

Hickethier sucht mit der Berücksichtigung des Radios freilich nicht die Rückkehr zur unabhängigen Einzelmedienwissenschaft, sondern den Anschluss an die anderen Medien. Im Begriff der »Medialität« (S. 26 ff.) etwa werden solche spezifisch medienübergreifenden Eigenschaften benannt, die sehr unterschiedliche Auswirkungen haben. Denn Akustisches prägt nicht nur das Radio, sondern bindet sich in anderen Varianten etwa ans Bild. Kino und Fernsehen kommen ohne Formen des Audiofonen nicht aus.

[13] 

Mit dem Begriff des »Radiodispositivs« (S. 195) bindet Hickethier das Radio nicht nur in neuere theoretische Debatten ein (S. 186 ff.), sondern macht das Verhältnis von individueller Radiopraxis und technischem Apparat zum Thema. Dabei wird Radio nicht nur als »ein Medium der Individualisierung und Zerstreuung« (S. 196) positioniert, sondern als ein Medium zwischen individueller und kollektiver Nutzung, Individualisierung und Stimmen-Gemeinschaft (ähnlich wie die anderen Medien) neu vermessbar. Hier liegt das eigentlich Fruchtbare von Hickethiers Medieneinführung – und die hat ganz praktische Folgen. »Nicht die ideologische Indienstnahme«, so Hickethiers Konsequenzen etwa für die NS-Zeit, »war das Problem, sondern die Überführung einer Ideologie in eine mediale Struktur und ein mediales Ereignis« (S. 196).

[14] 

Hickethier interessiert sich gerade für die »radiofone Vereinnahmung« (S. 196) – auf weitere, ausführlichere Analysen wird man gespannt sein dürfen. Denn es ist noch immer das Dilemma der medienwissenschaftlichen Radioforschung (und ihrer germanistischen Herkunft), dass die meisten Analysen mit dem Verlust der kulturellen Leitfunktion und dem Beginn des Fernsehzeitalters abbrechen. Die »grundlegende Veränderung« (Hickethier, S. 296), die der bundesdeutsche Hörfunk durch die Etablierung des dualen Systems erfuhr, ist in der Medienwissenschaft kaum wahrgenommen worden – und wenn, dann vor allem in den Terminologien der Radiomacher. Inwieweit das moderne Radio etwa noch zur Gemeinschaftsbildung beiträgt, ist gänzlich aus der Forschung verschwunden.

[15] 

Radioöffentlichkeit
und Radiokultur

[16] 

Neben dem Dispositiv bemüht Hickethier die »Konzepte« »Öffentlichkeit« und »Medienkultur« – und eröffnet hier explizit und noch stärker implizit Fragezusammenhänge, die von der Radiogeschichtsschreibung bisher nicht erfasst worden sind. Was bedeuteten etwa Sätze wie »Der medial erweiterte Mensch ist nicht ärmer, sondern reicher in seinen kulturellen Möglichkeiten« (S. 233) auf das – oft als Dudelfunk abgeschriebene – moderne Radio angewandt. Oder: »Über die identitätsstiftenden Dimensionen der Medien ist bislang wenig gearbeitet worden« (S. 233). Diese Einführung in die Medienwissenschaft bietet vielfältigste Anregungen für künftige Radioforschungen, gerade auch für die defizitäre, ja fast noch jungfräulich unanalysierte Radiokultur.

[17] 

Radiogeschichte

[18] 

Mit Konrad Dussels Deutsche Rundfunkgeschichte liegt seit 1999 bereits ein verlässlicher und innovativer Gesamtüberblick vor allem aus historischer Perspektive vor. Dussel periodisiert die Rundfunkgeschichte vor allem institutionell-politisch: Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Ostdeutschland, Bundesrepublik, geeintes Deutschland. Dussel beschreibt die Geschichte des Radios als die seiner ständigen Modernisierung und Anpassung an Hörerwünsche: Ausweitung des Angebots, Modernisierung des Musikangebots, Pointierung des Servicecharakters, Rückdrängung des Kulturellen auf Kulturwellen, Ausweitung der Radionutzung, Regionalisierung. Der neueste Trend zur Formatierung des gesamten Musik- und Wortangebots spielt bei Dussel noch keine herausragende Rolle.

[19] 

Dennoch überrascht dieses gut lesbare Buch durch erfrischend unorthodoxe Wertungen. »Die demokratietheoretischen wie demokratiepraktischen Verdienste des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in seiner ersten Phase [sind] hauptsächlich in einer umfangreichen, weitgehend unverzerrten Nachrichtenproduktion zu sehen« (S. 213). Und dann, dreißig Jahre später, als der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit Servicewellen neue Hörer gewann: »Von den demokratietheoretischen Forderungen [...] war kaum noch etwas zu verspüren« (S. 225).

[20] 

Europäisierung
der Radiogeschichte

[21] 

Innerhalb der Radioforschung gehören die Anfangsjahre des Radios in der Weimarer Republik sicherlich zu den am besten erforschten. Ein Großteil dieser historischen Radioforschung entstand seit den 1970er Jahren im Umkreis des »Studienkreises Rundfunk und Geschichte« – und damit lange vor dem Dualen System oder den neueren europäischen (Medien)Entwicklungen. Doch die neuen Medienpraxen verändern auch den Blick auf die Vergangenheit – und gerade der (eine Tagung des »Studienkreises Rundfunk und Geschichte« dokumentierende) Sammelband Die Idee des Radios hat es sich zur Aufgabe gemacht, mit diesen alt gewordenen Gewissheiten zu brechen. Die frühen Arbeiten, so Lersch, »bewerteten das Rundfunksystem der Weimarer Republik – mehr oder weniger explizit – unter dem Eindruck seines den Zeitgenossen eben noch nicht gekannten Endes« (S. 33).

[22] 

Es sind wohl vor allem drei Aspekte, die in diesem Band den Blick auf die frühen Hörfunkjahre verändern. Die Medienentwicklung der letzten Jahrzehnte hat eine Öffnung zu privatrechtlichen Angeboten (und eine Reduzierung des öffentlich-rechtlichen Sektors) gebracht; sie hat zu einer deutlichen Verlagerung weg von dem Bildungs- und Kulturmedium Hörfunk geführt – und sie wird wohl europaweit zu einer Ökonomisierung des Hörfunks führen.

[23] 

Für Lersch ist das frühe Radio vor allem durch Programmverantwortliche geprägt, die »ein breites Spektrum der nationalen Hochkultur« »gegen alle Erwartungen an leichtere Unterhaltung auch rücksichtslos durch(setzten)«. Helmut Schanze sieht in der »Koppelung« des (aus der Kulturkritik entnommenen) »Massenbegriffs über den Medienbegriff an den Rundfunkbegriff [...] das entscheidende Problem der frühen Rundfunkgeschichte« (S. 16). Und Maase betrachtet das permanente Radioprogramm und seine Nützlichkeit als die eigentliche Ursache für die rasche Etablierung des Mediums. »Ich vermute«, so Maase hochaktuell, »die eigentliche Provokation für die Kritiker der ›Radiotie‹ lag nicht in der Gewohnheit des Nebenbeihörens – den Skandal bildeten die Relevanzordnungen des breiten Publikums, in denen jene Kulturgüter so wenig Achtung fanden, auf deren Studium der volkserzieherische Führungsanspruch gründete« (S. 70). Da wäre es also wieder, das Thema Medienkultur, Radiokultur, Kultur der Medien, Kultur des Radios.

[24] 

Schließlich lassen gerade die europäischen Perspektiven die alten Erzählungen zur Geschichte des Hörfunks langsam brüchig werden. Die Herausgeber Edgar Lersch und Helmut Schanze begreifen ihren Sammelband als »eine erste Zusammenschau für den deutschsprachigen Raum« – und die meisten Beiträge sind überblickartig-knapp. Das Buch zeigt die Lage in einzelnen Ländern (USA; Großbritannien, Frankreich, etc.) in Momentaufnahmen – stellt aber noch keine konsistente Analyse dar.

[25] 

Doch wie viel Sprengstoff in dieser weltweit erweiterten Perspektive besteht, skizziert Edgar Lersch in seinem Beitrag über »Aspekte der vergleichenden Rundfunkgeschichte«. Die »nationalsozialistische Instrumentalisierung des Rundfunks«, so Lersch, »war kein singulärer Vorgang«. »Deutschland ging keine Sonderwege [...] Es ist wohl an der Zeit, diesen Befund ernsthaft zu diskutieren« (S. 45).