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Ulrich Goerdten
Bibliophilie im Internet

Wer das Materielle an den Büchern liebt, ihre Körperlichkeit und die Reize des Stofflichen, dem mag die Vorstellung absurd erscheinen, daß über das Internet ähnliche Freuden geboten werden könnten, wie sie durch griffiges Handhaben, rauschendes Blättern und zudringliches Schnuppern den Buchliebhaber beglücken. Das elektronische Medium ist allerdings nicht gänzlich bar aller Sinnenreize, es bietet nur andere, jedoch von verwandter Art. Dem Empfindsamen (- und welcher Bibliophile wäre das nicht -) bietet selbst das kunststoffene Gerät spürbare Attraktionen: den Schmiegeeffekt beim Berühren der gedellten Keyboardtasten, das beruhigende Sirren der Festplatte, das zarte, rülpshafte Maschinen-Geräusch beim Speichern und anderen internen Arbeitsvorgängen sowie eine besondere Art elektrochemischen Duftes, wie er moderne Labors oder Werkstätten zu durchwehen pflegt. Dies alles vermag im täglichen Umgang eine Sinnenvertrautheit zu erzeugen, die dem Erfahrenen beim intimen Umgang mit Bücherschätzen durchaus vertraut ist. Auch die unter Bibliophilen verbreitete Leidenschaft zu sammeln und präsentablen Besitz zu mehren, kann am internetfähigen Gerät befriedigt werden. Man muß nur einen Blick aufs "Project Gutenberg" werfen oder auf seine deutschen1) und skandinavischen2) Nacheiferer, um einen Eindruck von der Sammellust ihrer Betreiber zu gewinnen. Als "ideales Sammelmedium" hat Hilmar Schmundt das Internet denn auch bezeichnet: es vereinige "die unterschiedlichsten Sammelimpulse" auf sich.3) Von der "Erotik des Sammelns" gar ist die Rede: "Sammeln, Sichten und Sortieren sind nicht mehr nur die Beschäftigung von Philatelisten, Bibliophilen und anderen staubnasigen Achivarsnaturen, sondern das Sammeln auf dem Internet ist zum Inbegriff des Lifestyle avanciert, zur als 'Surfen' getarnten Leitmetapher von Wissenschaft und Freizeitkultur".4) Dem sekundiert Thomas Hettche in seiner Rezension der Nabokov-Seite der Universitätsbibliothek von Pennsylvania, indem er "die Beziehung allen Wissens zum Geheimnis" beschwört, "die Leser wie Reisende immer in der hocherotischen Geste des Entdeckens verband".5)

Kommunikation

Große Bereiche im Internet sind mit Informations- und Meinungsaustausch angefüllt. Der Bildschirm-Konversation dienen die private Mail, Mailing Listen, in denen bestimmte Themen diskutiert werden, und besonders das Usenet mit seinen tausenden von Newsgroups. Speziell für Bücherfreunde gibt es eine Anzahl von Gruppen, in denen Mitteilungen und Meinungen über Bücher, das Sammeln allgemein und zu speziellen Sammelgebieten ausgetauscht werden.6) Gelegentlich wird sogar spezieller "chat and talk with other collectors" angeboten. Büchersammler alten Stils mögen erstaunt sein darüber, welche Art von Literatur Konjunktur hat und warum selbst unter den heutigen Buchproduktionsbedingungen noch moderne "Erstausgaben" gesammelt werden. Schaut man genauer hin, merkt man bald, daß diese Bücher vielerorts wie Aktien eingeschätzt werden, und daß der Wertzuwachs des Erworbenen leitender Aspekt des Sammelns ist. Wer aber wissen möchte, welche Werte die deutschen Buchbeflissenen hochhalten, dem sei ein gelegentlicher Blick in die lebendigen Diskussionen der Newsgroup "de.rec. buecher" empfohlen.

Katalogdatenbanken

All dieses ist nur ein Indiz dafür, daß das Buch auch im Zeitalter der Mikrochips seine Anziehungskraft als konkretes Sammelobjekt und auch seine Funktion als Transmissionsmedium behalten wird, das Geistiges über Generationen hinweg befördert und bewahrt. Noch wenn es zum "Katalogisat" eingedampft in myriadenhafter Menge die virtuellen Kataloge anfüllt, bleibt es ein Faszinosum, dessen magische Zugkraft auch künftig kaum an Stärke verlieren wird. Die elektronischen Kataloge sind recht eigentlich der Schnitt- und Kreuzungspunkt, an dem die Erbschaft verschollener Zeiten und die Vorboten künftiger Technologien aufeinanderstoßen. Diese Koppelung hat Hilfsmittel von stupender Effizienz erzeugt. Als kostenlos für jedermann zugängliches Werkzeug erfreut sich der Karlsruher Virtuelle Katalog höchster Beliebtheit. Er enthält etwa 50 Millionen Datensätze aus den deutschen Bibliotheksverbünden, aus der Deutschen Bibliothek, der British Library, der Library of Congress und aus Buchhandelsverzeichnissen. Den Sammler und Bibliophilen, der auf ältere Literatur spezialisiert ist, wird der Katalog, der einigermaßen vollständig nur die Literatur der letzten zehn bis zwanzig Jahre verzeichnet, nicht zufriedenstellen. Einzig der Bayerische und der Süddeutsche Bibliotheksverbund bieten schon jetzt eine große Menge an älteren Titeln. Was in den Schubkästen anderer deutscher Zettelkataloge verzeichnet ist, harrt noch der Bearbeitung. Die Digitalisierung der Altbestandskataloge geht aus Kostengründen nur sehr langsam voran. Auch die großen Katalogisierungsprojekte des "VD16" und "VD17" sind noch lange nicht abgeschlossen. Gewiß aber wird eines Tages der Traum aller Bücherliebhaber verwirklicht sein, daß die Titel aller noch erhaltenen Bücher in elektronischen Katalogen auffindbar sein werden.

Digitale Bibliotheken

Die vielfach beschworene Vision einer bücherlosen Welt, in der auch alle älteren Dokumente und gedruckten Quellen nur noch als digitalisierte Dateien an den Bildschirmen der elektronischen Geräte verfügbar sein werden, erscheint allerdings wenig realistisch. Das Internet, so sehr es althergebrachte Kommunikationsgewohnheiten verändert, wird den Umgang mit Büchern, das Sammeln von Büchern und die großen Arsenale der Bibliotheken, Archive und Museen nicht überflüssig machen. Es wird aber mehr und mehr eine Ergänzung, ein hilfreiches Zusatzinstrument werden, das viele ehemals mühsame und zeitaufwendige Arbeiten beschleunigt und vereinfacht. Immerhin gibt es in vielen großen Bibliotheken erste Versuche, "Digitale Bibliotheken" einzurichten. Informationen über diese Aktivitäten liefert eine Arbeitsgruppe "Bibliothek der Zukunft", die auch eine eigene Diskussionsliste unterhält.7) Die Avantgarde der Digitalisierer agiert schon seit vielen Jahren erfolgreich in den USA und Großbritannien, aber auch in Deutschland sind erste Anstrengungen zur Erfassung wichtiger älterer Bibliotheksbestände unternommen worden. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft unterstützt die "Retrospektive Digitalisierung von Bibliotheksbeständen" und die "Erschließung von Spezialbeständen" sowie die "Erschließung neuzeitlicher Nachlässe".

Erste Ergebnisse dieser Bemühungen sind im Internet zu besichtigen, zum Beispiel 26 ältere Drucke aus dem Besitz der Bibliothek Bielefeld als digitale Rekonstruktionen.8) Darunter befinden sich so umfangreiche Werke wie eine komplette Shakespeare-Ausgabe von 1725 und Johann Christoph Adelungs "Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart", für dessen vier starke Quarto-Bände ein Käufer heute rund tausend Mark erlegen müßte. Allerdings muß man sich hier noch Seite für Seite aufblättern, eine wirksame Suchfunktion, über die man das Gewünschte direkt anzielen könnte, fehlt noch. Ein weiteres Beispiel ist die digitale Sammlung der Universität Mannheim. Unter dem Titel "MATEO" (Mannheimer Texte online) werden wissenschaftliche Texte aller Fachbereiche der Universität veröffentlicht, und "wertvolle historische Buchbestände aus der Mannheimer Schloßbibliothek, die bisher kaum bekannt und nur schwer zugänglich waren".

Interessant für Bibliophile sind gewiß auch Angebote von Einzeltexten mit fachspezifischem Inhalt. So bietet die "Collection electronique de la Bibliothèque Municipale de Lisieux" einen Text von Charles Emmanuel Nodier: "Le bibliomane" und von Charles Asselineau "L'enfer du bibliophile". Der Leipziger Bibliomane Markus Kolbeck, allen literatursuchenden Internetbenutzern durch seine hervorragende Linksammlung ("Bibliomaniac List") bekannt, hat einen einschlägigen Text von Dietrich Kerlen unter dem Titel "Das Buch als haptisches Erlebnis" ins Netz gestellt.

Präsentation von Schätzen

Institutionen mit berühmtem und sehenswertem Buchbesitz gehen zum Vorteil der Internetgemeinde mehr und mehr dazu über, ihre Schätze auch im Web zu präsentieren.9) Ausstellungen sind nicht mehr zwangsläufig zeit- und ortsgebunden, sie können auch nach ihrem realen Verschwinden weiter im Web10) präsent sein. Internet-Ausstellungen sind eine Spezialität der Library of Congress. Sie hat besonders viel für Bücherliebhaber zu bieten. Unter den "Schätzen der Sächsischen Landesbibliothek Dresden" sind beispielsweise zwei einmalig schöne Einbände von Jakob Krause und einer von Urban Köblitz zu sehen. Ihre Präsentation dient nicht ausschließlich der Augenlust, sie werden von informationsreichen Texten umrahmt und begleitet. Dies gilt auch für die Bilddateien der anderen Ausstellungen der Library of Congress: "Rome Reborn: The Vatican Library and Renaissance Culture" und "Scrolls from the Dead Sea". Wie fast überall, so gibt es auch für dieses Spezialgebiet eine Linksammlung, die alle Adressen mit vergleichbaren Angeboten zusammenführt, das "DScriptorium", dessen eigentliches Hauptanliegen das Sammeln von Bilddateien mittelalterlicher Handschriften ist. (Das "D" steht für "Digital".)

Linksammlungen

Die Browser, mit deren Hilfe die Dateien gelesen und auf den Bildschirm gebracht werden, bieten die Möglichkeit, immer wieder benötigte oder einfach nur interessante Adressen als Bookmarks zu speichern. Es entstehen mit der Zeit umfangreiche Bookmarks-Sammlungen für die private Nutzung. Diese Ansammlungen von Internetadressen sind oft das Fundament für themenbezogene oder fachlich eingegrenzte Linklisten, die in attraktivem Design der Öffentlichkeit präsentiert werden. Ihre Brauchbarkeit kann der Betreiber an den "Einschaltquoten" erkennen. Je öfter eine Linkliste angeklickt wird, umso nützlicher ist sie für die Netzgemeinde. Von ihrem Nutzen überzeugt man sich leicht, wenn man die Suche auf dem zweiten Hauptpfad der Web-Kundschafter beginnt und in die Welt der Suchmaschinen vordringt. Von Monat zu Monat wächst die Fülle der unbrauchbaren Treffer, die man hier selbst bei entlegensten und trickreich formulierten Suchfragen erhält. Ganz hoffnungslos wird die Lage, wenn die Fragen ohne Einsatz der jeweiligen Syntax formuliert wurden. Das schlichte Wort "Einband" erbringt in "Alta Vista" 5790 Treffer. Erst bei "Bucheinband" wird die Sache überschaubarer, es sind aber immer noch 146 Treffer.11) Die Frage nach "Bookbinding" liefert 12992 Adressen und bei "reliure" sind es 4041. Schneller zum Ziel kommt man über Linksammlungen, aber auch wiederum nur dann, wenn diese übersichtlich geordnet und gut gepflegt sind.12) Als Ausgangspunkt für Recherchen sei eine deutsche Linksammlung mit dem Namen "Der Büchersammler" empfohlen. Sie enthält zwar nur vierzig kurz kommentierte Adressen, bringt damit aber das Wesentliche in kritischer Auswahl. Als Beispiel für eine umfassende (und darum mit mehr Zeitaufwand zu benutzende) Seite sei "A Guide to the Book Arts and Book History on the World Wide Web" erwähnt, wo besondere Beachtung die "Special Topics" mit den Stichwörtern Bookbinding, Iconography, Preservation und Typography verdienen.

Konkrete Bücher

Wem nach einer stundenlangen Bildschirmsitzung der Kopf schwirrt, der wird sich mit einem guten Buch in der Hand in bequeme Lesehaltung begeben wollen. Sollte es zufällig jedoch an guten Büchern mangeln, so kann auch hier das Internet Hilfe leisten. Deutsche und internationale Antiquariatsbuchhändler haben diesen Bereich längst für sich erobert und stehen mit ihren Angeboten bereit. Sehr bequem kann man sich mit Hilfe des "Zentralen Verzeichnisses Antiquarischer Bücher" (ZVAB) unter den deutschen Anbietern umschauen. Hier sind 75 Antiquariate mit über 200.000 Titeln vertreten. Die netzhafte Verknüpftheit von Allem mit Allem tritt dann freilich sehr schön zutage, wenn man bei einem einzelnen Antiquariat innehält und seine Angebote mustern möchte. Ganz rasch wird man von den Zusatzangeboten,13) die über die reinen Verkaufstitel hinaus überall lauern, wieder in die Weiten des Webs gelockt, verbringt erneut Stunden vorm Gerät und sucht endlich mit noch stärker schwirrendem Kopf abermals nach Entspannung. Glücklich, wer dann mit guten Büchern schon versehen ist, die er leibhaftig um sich versammeln kann.

1) Projekt Gutenberg-DE: . Nachweise aller erreichbaren deutschsprachigen literarischen Texte, auch über Gutenberg hinaus, sammelt Helmut Schulze in Rom: http://www.geocities.com/~aristipp/litlinks/litlinks.html

2) Project Runeberg:

3) Hilmar Schmundt: Das Internet als Vergangenheitsmaschine. Eine Surftour de Force durch Mitte, Medien und Metaphern. In: Der Alltag, Nr. 73 (1996), S. 129-139; hier S. 133.

4) Ebd., S. 135.

5) Im Schmetterlingsnetz. Literatur im World Wide Web: Vladimir Nabokovs Gemeimnisse. In: FAZ, 19.4.97, S. 35. Die Nabokov-Seite ("Zembla -The Nabokov Butterfly Net") ist zu finden unter

6) Als Beispiele: de.rec.buecher - maus.rec.buecher - z-netz.literatur.allgemein - rec.arts.books - rec collecting.books. Unter dem Titel "EXLIBRIS Archives" gibt es eine "electronic News and Discussion Group for those interested in rare books and special collections" unter URL: http://aultnis.rutgers.edu/texts/exsignon.html. Eine List von 51 "Newsgroups Related to Books and Literature" bietet IBIC (Internet Book Information Center).

7) Informationen unter der URL: http://www.fh-potsdam.de/~hobohm/dig_bib.htm. Diskussionsliste: BIP-L@listserv.gmd.de.

8) http://www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/

9) Vgl. "A hundred highlights from the Koninklijke Bibliotheek": http://www.konbib.nl/100hoogte/hh-en/html

10) Leider gibt es auch den gegenteiligen Fall: eine Kölner Ausstellung zur deutschen Buchkunst des 20. Jahrhunderts mit Biographien und Werkbeispielen von 25 deutschen Buchkünstlerinnen und Buchkünstlern wurde zeitweise im Web dokumentiert und nach Ablauf einiger Zeit wieder entfernt. Zum Glück gibt es den gedruckten Katalog! (Köln: Universitäts- und Stadtbibliothek 1995 = Schriften der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln ; 6).

11) Weitere Ergebnisse: Einbandkunst = 47; "Jakob Krause" 21; +"Walter Gerlach" +Einband = 0; bookbinding = 12992; "fine bindings" = 619; "Renaissance fine bindings" = 9; reliure = 4041; +reliure +conservation = 417; +reliure +"reserve precieuse" = 10.

12) Meine eigene Linksammlung zur Bibliophilie ist nach anderthalb Jahren, in denen ich wenig Zeit für sie verwenden konnte, hoffnungslos veraltet. Etwa bei der Hälfte der Adressen haben sich wesentliche Änderungen ergeben (http://www.ub.fu-berlin.de/~goerdten/bbliofil.html). Auch die Halbwertzeit der vorliegenden Aufsatzes wird man nicht zu hoch veranschlagen dürfen.

13) Beispiel Wirtschaftsantiquariat Martina Berg (http:www.martinaberg.com): Unter "Antiquarische Bücher" verbirgt sich eine umfassende Sammlung von Informationen rund um das Buch. ("Tips und Tricks zur Buch- und Papierpflege" und anderes). Beispiel Internet libri Bologna: http://www.ilb.com/lib Drei sehenswerte "Ausstellungen" warten im Hintergrund auf Betrachter: "La pittura bolognese del '700", "Piranesi" und "XVIII century roman books".


Stand: 25.1.99
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