Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 7(1999) 1/4
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Dictionnaire du moyen âge


99-1/4-422
Dictionnaire du moyen âge : histoire et société. - Paris : Encyclop‘dia Universalis ; Albin Michel, 1997. - 923 S. ; 21 cm. - ([Les dictionnaires] Encyclop‘dia universalis). - ISBN 2-226-09418-0 : FF 170.00
[5745]
99-1/4-423
Dictionnaire du moyen âge : littérature et philosophie / [préface de Jean Favier]. - Paris : Encyclop‘dia Universalis ; Albin Michel, 1999. - 868 S. ; 21 cm. - ([Les dictionnaires] Encyclop‘dia universalis). - ISBN 2-226-10790-8 : FF 170.00
[5724]

Wie andere in diesem Heft besprochene Lexika aus derselben Reihe[1] handelt es sich auch hier um eine Kumulation von einschlägigen Artikeln aus der Encyclop‘dia universalis. Wie Antoinette Bernard im Vorwort zum ersten Band betont, verstand sich die Encyclop‘dia universalis von Anfang an als "intermédiaire entre la recherche et le grand public". Die Beteiligung der namhaftesten französischen Fachvertreter an dem großangelegten Werk deutet darauf hin, daß dieser hohe Anspruch eingelöst werden konnte. Im Hinblick auf die beiden hier angezeigten Bände zum Mittelalter möchte man deutschsprachigen Interessenten am Mittelalter ein ähnlich handliches Lexikon aus der Feder von Fachleuten wünschen, das die große Lücke zwischen dem monumentalen Lexikon des Mittelalters und Wilhelm Volkerts Kleinem Lexikon des Mittelalters überbrücken könnte.

Das europäische und byzantinische Mittelalter wird in der Reihe der Dictionnaires aufgrund der Materialfülle in zwei Bänden behandelt, von denen der eine seinen Schwerpunkt auf den Feldern Politik und Gesellschaft findet (522 Artikel), während der andere die Bereiche Literatur und Philosophie mit über 420 Artikeln abdeckt. Wie in der Encyclop‘dia universalis sind auch in den Dictionnaires ausführlichere Artikel mit bibliographischen Angaben zu unterscheiden von kürzeren Einträgen, die keine weiterführenden Hinweise bieten; erstere sind dem neunzehnbändigen Corpus, letztere dem vierbändigen Thesaurus der Enzyklopädie entnommen.

Den weitaus größten Teil der Artikel im ersten Band machen Kurzbiographien weltlicher und geistlicher Fürsten, Artikel zu Dynastien und zu geographischen Einheiten aus. Allerdings werden bei letzteren unter der Ebene der Königreiche nur die bedeutendsten Fürstentümer und Stadtrepubliken berücksichtigt. Von besonderem Wert sind übergreifende Artikel, die prägende Strukturen und langfristige Entwicklungen zusammenfassen (so z.B. Féodalité von G. Duby, Grandes invasions von L. Musset, Habitat seigneurial von M. Bur, Occident médiéval von L. Génicot). Bei diesen Beiträgen zeigen sich die Vorzüge der von der sogenannten Schule der Annales geprägten Sichtweise auf Phänomene der "longue durée".

Auf Verweisungen innerhalb der Artikel wird durchweg verzichtet, doch ein reichhaltiger Index erfaßt unter übergeordneten Stichwörtern, von denen viele keinen eigenen Eintrag erhalten haben, die relevanten, doch verstreut gebotenen Informationen in thematisch verwandten Artikeln. Allerdings ist auf Lücken aufmerksam zu machen; beispielsweise wird man unter dem Stichwort Médicis (kein eigener Artikel) zwar auf die Artikel Albizzi und Strozzi verwiesen, nicht jedoch auf den wesentlich informativeren zu Florence (république de).[2] Auf Illustrationen wurde zwar vollständig verzichtet, doch erfreulicherweise wurde instruktives Kartenmaterial aus der Originalausgabe übernommen; im Anhang finden sich übersichtliche Stammtafeln. Leider sind die Literaturhinweise von ganz unterschiedlicher Aktualität. Zwar finden sich aktuelle Angaben, die Neuerscheinungen bis zum Jahr 1994 berücksichtigen, doch vielfach liegt der Schwerpunkt der bibliographischen Angaben auf der Literatur der fünfziger und sechziger Jahre. Die jüngste Literaturangabe zum Stichwort Allemagne stammt, von Nachdrucken abgesehen, aus dem Jahr 1967. Eine Ergänzung oder Aktualisierung wurde für die in den Dictionnaires vorliegende Zusammenstellung von Artikeln offenkundig nur sehr ungleichmäßig vorgenommen.

Überschneidungen zwischen den beiden Dictionnaires zum Mittelalter gibt es kaum.[3] Im Band über histoire et société wird von M. Pacaut das politische Wirken Bernhards von Clairvaux (ohne Literaturangaben) vorgestellt, bei littérature et philosophie finden sich Teile dieses Artikels kombiniert mit Ausführungen von M.-M. Davy (mit Bibliographie). Für Bernhards Werke wird hier übrigens auf die in Mignes Patrologia latina abgedruckte Ausgabe Mabillons aus dem Jahr 1690 verwiesen; die seit 1977 abgeschlossene kritische Edition von J. Leclerq, H. Rochais und C.H. Talbot wird ohne Angabe der Herausgeber lediglich als "im Erscheinen begriffen" (en cours de publication) genannt. Normalerweise muß man nicht (wie bei Bernhard von Clairvaux), in beiden Dictionnaires dasselbe Stichwort nachzuschlagen. Da eine konsequente Abgrenzung zwischen beiden Bänden jedoch nicht möglich ist, gibt es durchaus Fälle, in denen man beide Bände zu konsultieren hat. Dies gilt etwa für den Bereich des Reisens, für den im einen Band im Index unter dem Stichwort Voyageurs sechs, im anderen unter dem Stichwort Récit de voyage drei Einträge Platz finden.

Der weitaus größte Teil des Bandes zur Literatur- und Geistesgeschichte besteht aus Artikeln über einzelne Autoren und Werke, daneben zu einzelnen literarischen Gattungen. Breiten Raum nehmen in diesem Band islamische Autoren ein, von denen viele das europäische Mittelalter nachhaltig beeinflußten; als Beispiel seien nur die umfangreichen Artikel zu Averroes und Avicenna bzw. Averro‹sme und Avicennisme latin genannt. Auch im Band über Literatur und Philosophie dient der Index als wichtiger Wegweiser. So findet man dort etwa zu den Themen Mystique chrétienne, juive und arabe, denen kein eigener Artikel gewidmet ist, Hinweise auf insgesamt 35 Stichwörter, zum Thema Néo-Platonisme wird man auf 16 Einträge verwiesen.

Ein Vergleich mit dem vorstehend (IFB 99-1/4-421) besprochenen Dictionnaire encyclopédique du moyen âge (DE) ergibt ein zwiespältiges Bild. Der DE umfaßt einen wesentlich größeren Artikelbestand und bietet zu fast allen Artikeln knappe und aktuelle Literaturangaben. Allerdings übertreffen die mit bibliographischen Angaben ausgestatteten ausführlicheren Artikel in den beiden Dictionnaires zum Mittelater (DMA) die entsprechenden Artikel im DE an Umfang und oft auch an Informationswert; für die Literaturhinweise im DMA gilt allerdings, daß sie - sofern vorhanden - zwar umfangreicher, oftmals aber weniger aktuell als im DE sind.[4] So finden sich beispielsweise zum französischen König Philipp II. Auguste im DE vier Literaturangaben (Erscheinungsjahre 1973 bis 1993), zum etwas längeren Artikel im DMA keine, da dieser Artikel dem Thesaurus der Encyclop‘dia universalis entstammt. Zu König Philipp IV. dem Schönen dagegen nennt A. Demurger im DE drei weiterführende Werke (Erscheinungsjahre 1962 bis 1980), während dem wesentlich umfangreicheren Artikel von J. LeGoff im DMA 19 Hinweise zur Literatur aus den Jahren 1861 bis 1978 (sowie zwei Neuauflagen älterer Werke aus den Jahren 1989 und 1991) folgen. Zu beachten ist außerdem, daß im DMA eine größere Anzahl von Personen (besonders Autoren) berücksichtigt ist, die im DE keinen eigenen Artikel erhalten haben (z.B. Heinrich von Morungen, Heinrich von Ofterdingen und Heinrich von Veldeke).

Für einen ersten Einblick in die heutige französische Sicht des Mittelalters leisten indes sowohl DE als auch DMA, die sich vielfach in willkommener Weise ergänzen, gute Dienste. Sie stellen eine nützliche Ergänzung zum Lexikon des Mittelalters dar und sollten in den Lesesälen wissenschaftlicher Bibliotheken ihren Platz finden.

Christian Heitzmann


[1]
Dictionnaire de l'Égypte ancienne (IFB 99-1/4-409). - Dictionnaire de la renaissance (IFB 99-1/4-426). (zurück)
[2]
Nicht alle einschlägigen Artikel der Encyclop‘dia universalis wurden übernommen; die dort im Thesaurus in aller Knappheit behandelten Familien Alberti, Bardi oder Pazzi etwa sucht man im Dictionnaire du moyen âge vergeblich. Wenn möglich, ist also die Benutzung der Originalausgabe den handlichen Dictionnaires vorzuziehen. (zurück)
[3]
Eine Ausnahme: Unter dem Stichwort Écoles findet sich im Band zu histoire et sociéte derselbe Artikel von J. Favier wie im Band littérature et philosophie. Während im Index des erstgenannten Bandes dazu sieben Verweisungen geboten werden (u.a. auf Arts libéraux, Pensée médiévale und Universités), finden sich im anderen Band keine Artikel mit thematisch verwandtem Inhalt. (zurück)
[4]
Dies ist nicht nur auf das jüngere Erscheinungsjahr zurückzuführen; vgl. die oben gemachten Bemerkungen zu den Literaturhinweisen bei den Artikeln Allemagne und Bernard de Clairvaux. (zurück)

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