Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 7(1999) 1/4
[ Bestand in K10plus ]

Mensch und Landschaft in der Antike


99-1/4-413
Mensch und Landschaft in der Antike : Lexikon der historischen Geographie / hrsg. von Holger Sonnabend. - Stuttgart ; Weimar : Metzler, 1999. - XII, 660 S. : Ill. ; 24 cm. - ISBN 3-476-01285-9 : DM 98.00
[5657]

Insbesondere durch die Arbeit von Professor Eckart Olshausen hat sich das Althistorische Institut der der Universität Stuttgart den Ruf eines Zentrums für die historische Geographie erwerben können. Auch sein Kollege Holger Sonnabend, seit 1993 Privatdozent für Alte Geschichte, betätigt sich auf diesem Gebiet und hat gerade das vorliegende Lexikon der Historischen Geographie herausgegeben.[1] Es enthält auf über 600 Seiten 214 Artikel von Ackerbau bis Zeit aus der Feder von 53 Autoren. Alle Artikel schließen mit Verweisungen auf benachbarte und weiterführende Einträge, Literaturhinweisen und dem Namen des Verfassers. Der Erschließung dienen ausführliche Personen-, Orts- und Sachregister am Ende.

Was ist nun eigentlich historische Geographie? Die Beschäftigung mit den Interdependenzen von Mensch und Umwelt in der Geschichte zum einen, das Bestreben nach Rekonstruktion früherer geographischer Verhältnisse bzw. des geographischen Wissens früherer Epochen zum anderen. Diese drei Aspekte werden gleich zu Beginn des Vorworts als das eigentliche Thema vorgestellt. Eingrenzungen folgen aus der zeitlichen Beschränkung auf die antike Welt (9. Jh. v. Chr. bis 6. Jh. n. Chr.), ansonsten aber ist die erklärte Intention des Lexikons, Grenzen zwischen etablierten Wissenschaftsfächern zu überschreiten und als ein interdisziplinäres Nachschlagewerk für Althistoriker, Geographen, Archäologen, Geoarchäologen, Ägyptologen und Technikhistoriker die aus allen Fächern zu erreichende Fragestellung nach "Mensch und Landschaft in der Antike" aufzubereiten. Mit diesem Zugriff verspricht das Lexikon "neue Perspektiven", wobei zahlreiche Artikel "erstmals explizit auf ihre historischgeographischen Bezüge hin untersucht" würden (S. V). Das macht neugierig und schraubt die Erwartungen nach oben. Um so deutlicher treten dann aber die Schwierigkeiten hervor, ein derartiges Nachschlagewerk auch auszuarbeiten. Vor dem Hintergrund der Erfahrung mit anderen dem Anspruch nach interdisziplinären Projekten ist zunächst einmal festzuhalten, daß allein die Beauftragung von Wissenschaftlern verschiedenster Fachrichtungen, die dann einzelne Begriffe zu behandeln haben, noch keine Interdisziplinarität verbürgt. Denn die entsteht eigentlich erst dann, wenn ein und derselbe Gegenstand aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet wird. Auch wenn man hier noch zuzugestehen bereit sein mag, daß dafür z.B. ein Kongreßbericht eher geeignet ist, und ein Lexikon seiner Funktion nach einfach besser daran tut, Erträge der Forschung zusammenzustellen als selbst Forschungsbeiträge präsentieren zu wollen, bleibt am Ende der Eindruck einer konzeptionellen Schwäche des Werkes übrig: Wer die Liste der aufgenommenen Artiekl überfliegt, wird mehrmals schon allein deshalb in die dazugehörigen Abhandlungen springen, nur um zu sehen, wie wohl der Bogen zur eingangs vorgelegten Fragestellung geschlagen wird. Und dieses wiederum geschieht manchmal nur sehr knapp, oft ziemlich unmotiviert und bisweilen gar nicht.

Dazu im folgenden ein paar Beispiele: Auf den fast zwei Seiten umfassenden Ausführungen zur Askese (S. 43 - 44) werden Erscheinungsformen, Hintergründe und mögliche Motive für asketisches Verhalten in der Antike umrissen. Der Bezug zur historischen Geographie besteht in der besonderen Betonung der im östlichen Mittelmeerraum verbreiteten Formen der Askese. Freilich hat die Tatsache der geographischen Lokalisierbarkeit spezifisch "östlicher" Askeseausprägungen nichts mit ihrer historischen Begründung zu tun. Daß es Säulenheilige und Wüsteneremiten im Osten gab, hängt nicht primär mit der Landschaft, sondern mit kulturellen Traditionen zusammen, die wiederum nur in sehr globaler Sicht irgendwie mit der Geographie in Verbindung zu bringen sind. Zudem liegt doch der Reiz gerade dieses Themas darin, die genannten Askeseformen mit anderen, z.B. im frühchristlichen Westen des Reiches zu kontrastieren. In einer südgallischen Stadt konnte es selbstverständlich auch Askese geben, die sich nur ganz anders ausdrückte und ihrerseits auch wieder nichts mit den geographischen Gegebenheiten Südfrankreichs zu tun hat. Auch wenn einleitend die Subjektivität der Stichwortauswahl vom Herausgeber zugegeben wird, fragt man sich doch, wo hier die historische Geographie zu ihrem Recht kommen soll.

Noch gravierender liegt der Fall beim Stichwort Verfassung. Verheißt noch der Klappentext, man könne in diesem Buch erfahren, "welchen Anteil geographische Faktoren an der Ausbildung bestimmter Verfassungsformen hatten", sucht man im entsprechenden Eintrag vergebens nach derartigen Determinationen. Vielmehr erschöpft sich der Artikel in einem recht konventionellen Abriß der antiken Theorien und einer Typologie von "Verfaßtheiten" antiker Staaten. Nach einigem Nachdenken kommt man darauf, daß hier doch immerhin einige Aspekte antiker Staatlichkeit hätten benannt werden können, das Verhältnis zwischen Siedlungsstruktur, politischer Repräsentanz und Zentrumsbildung z.B. in antiken Gemeinschaften. Solche Überlegungen, die in einem Lexikonartikel sicher schwer zu entwickeln und zu belegen sind, kommen aber gar nicht erst in den Blick.

Die Liste der m.E. nicht befriedigend abgehandelten Themen ist lang. Selbst aus der Geographie im engeren Sinn stammende Begriffe decken den eingangs abgesteckten Bereich an Fragen nicht ab. Unter dem Stichwort Vulkan findet man eine Aufzählung der überlieferten bzw. erschließbaren Vulkanausbrüche von Ätna, Vesuv, Stromboli und den Eifelvulkanen. Hätte man hier nicht stattdessen eine Beschreibung von menschlichen Lebensweisen am Vulkan erwartet, von der Besiedelung und Nutzung der zugänglichen Regionen (Architektur, Weinanbau usw.)? Es ist bedauerlich, daß andere Beiträge, die interessante Beobachtungen zur Themenstellung beitragen, in der großen Zahl der unter dem Blickwinkel der Aufgabenstellung nicht sehr erhellenden Artikel untergehen, z.B. die Darlegung des Phänomens Grenze durch Giovanna Daverio Rocchi.[2] Es dürfte damit klar sein, daß die Texte den hohen Ansprüchen der Konzeption nicht gerecht werden. Als letztlich nicht konsequent historisch-geographisch akzentuiertes Nachschlagewerk verliert Mensch und Landschaft in der Antike viel von seiner Attraktivität. Vielleicht kann in einer späteren Auflage nachgebessert werden - das Thema hätte es zweifellos verdient.

Joachim Migl


[1]
Vom selben Autor ebenfalls bei Metzler und genauso aktuell: Naturkatastrophen in der Antike : Wahrnehmung, Deutung, Management / Holger Sonnabend. - Stuttgart ; Weimar : Metzler, 1999. - IX, 270 S. : Ill. ; 24 cm. - ISBN 3-476-01548-3 : DM 58.00. (zurück)
[2]
Speziell ausgewiesen durch ihr Buch: Frontiera e confini nella Grecia antica / Giovanna Daverio Rocchi. - Roma : L'Erma di Bretschneider, 1988. - 277 S. - (Monografie / Centro Ricerche e Documentazione sull'Antichità Clasica ; 12). - ISBN 88-7062-631-8. (zurück)

Zurück an den Bildanfang