Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 7(1999) 1/4

Russia abroad


99-1/4-215
Russia abroad : writers, history, politics / by John Glad. Foreword by Victor Terras. - Tenafly, NJ : Hermitage Publishers ; Washington, DC : Birchbark Press, 1999. - 739 S. ; 22 cm. - ISBN 1-55779-115-5 (Hermitage Pr.) : $ 59.90
[5592]

Die sich seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion entwickelnde Literatur über die russische Emigration hat aus den USA eine große Bereicherung erhalten. Das neue Buch erfaßt die literarische Emigration im historischen Zusammenhang, zurückgehend bis ins zehnte Jahrhundert. Für das zwanzigste Jahrhundert, in dem eine einmalig große Zahl russischer Schriftsteller ins Exil gedrängt wurde, bietet es wichtige neue Informationen, Zusammenstellungen und Sichtweisen. Der Autor, John Glad, langjähriger Direktor des Kennan Institute for Advanced Russian Studies im Woodrew Wilson International Center for Scholars in Washington, erweist sich als hervorragender amerikanischer Fachmann für diesen Bereich. Seit 25 Jahren befaßt er sich mit der Emigration und hat vor zehn Jahren den Schwerpunkt seiner Forschungen darauf verlegt. Mit Vsevold Setschkareff gehört Glad zu den wenigen Slawisten der Welt, die stets von dem erst heute selbstverständlichen Prinzip der Einheit der russischen Literatur ausgingen und denen es ein Anliegen war, entgegen dem auch im Westen verbreiteten sowjetisch verengten Blick auf "Sowjetliteratur" auch die Emigration einzubeziehen. Dementsprechend war es eine seltene Ausnahme, daß 1978 in seiner Anthologie Russischer Lyrik auch Emigranten und in der Sowjetunion unterdrückte Dichter enthalten waren.[1]

1978 bis 1988 interviewte Glad 26 russische Schriftsteller der ersten bis dritten Emigrationswelle und veröffentlichte seine Gespräche in Rußland.[2] Sie sind recht aufschlußreich und durch das neue Buch nicht überholt. Fast auf jeder Seite finden sich Sätze, welche die Kenntnis über das Leben in Rußland, über die Literatur, insbesondere ihr "Funktionieren" in der Sowjetunion und in der Emigration, und natürlich über die einzelnen Schriftsteller bereichern. Russia abroad behandelt die Zeit von 906 bis 1991 und ist zunächst in die Pre-Soviet period und Soviet period geteilt. Die an Emigrationen so reiche Sowjetzeit ist nach den bekannten drei "Wellen" untergliedert. Bei der Ersten Emigrationswelle (1917 - 1922) bietet Glad bereits dadurch Neues, daß er mehr Zentren für sich betrachtet als jeder Forscher bisher. Er beschreibt nicht nur die Besonderheiten von Berlin, Paris und Prag, sondern z.B. auch von Athen, Tallin, Buenos Aires, Tokyo und San Francisco. Bei den im Zweiten Weltkrieg Geflohenen verdeutlicht er eine wichtige Besonderheit durch einen Schnitt zwischen The early postwar period mit Deutschland als wichtiger Fluchtstätte und Further dispersion - insbesondere in die USA. Bei der Breshnew-Welle betrachtet er unter anderem die unterschiedliche Emigrationspolitik gegenüber Amerika, Israel und Deutschland. In einem Schlußteil geht er auch auf die mit dem 1.1.1992 eingetretene Situation ein, daß zwar formal die Emigration beendet, die russische Literatur vereint ist, nun aber durch die neuen Grenzen 36 Millionen Menschen mit russischer Muttersprache eine neues "Russia abroad" bilden.

Ein Vorzug des Buches liegt in der Vielzahl oft neu gestellter, übergreifender Fragen, die Glad unabhängig von Abschnitten über Autoren behandelt. Bei der Ersten Welle ist das Verhältnis der Grundsatzfragen zu Schriftstellern 3:1, bei der Dritten 2:1. Bei der Analyse der zehn Jahrhunderte vor der Sowjetzeit liegt der Schwerpunkt auf Personen. Insgesamt hat Glad für die ein bis drei Seiten umfassenden Vorstellungen von Autoren, meist einzelner Werke, 172 Persönlichkeiten ausgewählt, auch Lenin und einige Philosophen. Unter den Abschnitten zur Ersten Welle sind solche über die politischen Parteien, die "Kirche", "Freimaurer", "Repatriierung", Selbsteinschätzung - Exil oder "Mission" - und den "Nansen-Paß" für die Expatriierten, unter denen zur Zweiten über "Beziehungen zwischen 'Erster' und 'Zweiter' Welle", "Politische Gruppierungen", "Periodica und Radio", unter denen zur Dritten über "Russische Juden oder jüdische Russen", "Die sowjetische Haltung zur Emigration", über Assimilierung oder Isolierung oder über "The War of Words: Publications". Es ist kaum möglich, wichtige Fragen zu finden, denen Glad nicht nachgeht. Viele hatte er auch unmittelbar in seinen Interviews gestellt. Unter den Schriftstellern, denen Glad gesonderte Aufmerksamkeit widmet, sind in der Vorsowjetzeit berühmte Reisende wie N. Karamzin, Diplomaten wie F. Tjutcev, K. Leont'ev, längere Zeit im Ausland Lebende wie N. Gogol', E. Blavatskaja, M. Volosin, im Inland Verbannte, wie Avvakum (Sibirien) oder Ju. Lermontov (Kaukasus), ins Ausland Geflohene wie A. Herzen oder M. Bakunin. Ebenso hat Glad in der Sowjetzeit wichtige emigrierte Schriftsteller verschiedener literarischer und politischer Richtungen gewählt (darunter zehn, die mein Lexikon ergänzen).

Text und Anmerkungen sind reich an Informationsmaterial. Die höchste Konzentration erreicht es in der Chronology (125 S.). Unter 1080 nennt sie die Gründung des Klosters auf dem Athos, für 1906 z.B. die Zahl der russischen Studenten in Berlin (450), für Dezember 1917 die der russischen Kriegsgefangenen in Deutschland in der Landwirtschaft (230.000) und in der Industrie (650.000), für 1920 die Schaffung der Russischen Bibliothek in Belgrad, für den 17.02.1947 den Beginn der Sendungen der Voice of America, für 1979 die widersprüchlichen Schätzungen der Zahl russischer Emigranten in Paris - 20.000 insgesamt, 5000 aus der Dritten Welle - im Kontrast zu den 1969 geschätzten 50.000, für den 8. Mai 1988 die Jurij Ljubimov erteilte Genehmigung, im Taganka-Theater Boris Godunov zu inszenieren. Zu solchen Einzelfakten tritt regelmäßig eine große Auswahl der im jeweiligen Jahr Emigrierten, später auch der Verstorbenen, eine kluge Auswahl neugeschaffener Emigrantenzeitschriften und einiger Buchveröffentlichungen. Die insgesamt etwa 4000 Informationen geben eine weltumspannende lebendige Vorstellung von "Russia Abroad".

Nützlich ist natürlich auch die Bibliographie. Hier zeigt sich, daß Glad Deutsch beherrscht, neben den russischen sind auch deutsche Monographien, Aufsätze und Zeitungsartikel einbezogen. Natürlich fehlt Wichtiges: So wie mir sein Buch von 1991 entgangen war, so ihm z.B. die Monographien von Oleg Michajlov (Literatura russkogo zarubez'ja, Moskau, 1995) und Boris Lanin (Proza russkoj emigracii, Moskau, 1997). Von den russischen Werken, die ich in IFB besprochen habe, sind nur die 1998 und 1999 erschienenen noch nicht berücksichtigt.[3]

Zu kritisieren sind das Fehlen eines Sachregisters (neben dem guten, da die Personen kurz kommentierenden Namenregister, in dem allerdings Autoren mit gängigen Pseudonymen unter dem ursprünglichen Namen eingeordnet sind, Stalin unter Dzugasvili), die fehlende Differenzierung der Kolumnentitel, das häufige Fehlen von Zitatnachweisen (die das Buch erheblich erweitert hätten) und russischen Originaltiteln, evtl. noch die zu geringe Einbeziehung von emigrierten Slawisten (z.B. V. Setschkareff, N. von Bubnoff, D. Tschizewsky). Glads Interviews von 1991 sind eine einmalige Dokumentation, eine gute Erweiterung von Literaturgeschichten und Monographien. Sein Russia abroad von 1999 bietet den bisher besten internationalen Überblick über die russische Emigration. Die vorliegenden Bücher über Russen in Deutschland und anderen Länder ergänzen nicht nur das seine, sondern werden auch durch dieses bereichert. Der Begriff des Standardwerks trifft zu.

Wolfgang Kasack


[1]
Russian Poetry : the modern period / ed. by John Glad and Daniel Weissbort. - Iowa City : University of Iowa Press, 1978. - LXII, 356 S. - (Iowa Translations). - Vgl. die Rez. von W. Kasack in: Osteuropa. - 30 (1980),12, S. 1362 - 1363. (zurück)
[2]
Besedy v izgnanii : russkoe literaturnoe zarubez'e / Dzon Gled. - Moskva : Izdat. "Kniznaja Palata", 1991. - 320 S. [Das Buch ist beim Autor noch erhältlich: Prof. John Glad, 3901 Connecticut Ave., N.W. Washington, D.C. 20008]. (zurück)
[3]
Russkie obscestvennye i kul'turnye dejateli v Estonii : materialy k biograficeskomy slovarju ; slovnik / sost. S. G. Isakov. - Tallinn. - T. 1. (Do 1940 g.). - Izd. 2., ispravlennoe i dopolnennoe. - 1996. - 140 S. - Rez.: IFB 99-B09-732.
Russkaja pecat' v Estonii 1918 - 1940 : bio-bibliograficeskie i spravocnye materialy k izuceniju kul'turnoj zizni russkoj emigracii ; v dvuch vypuskach / sost.: Ol'ga Figurnova. - Moskva : IMLI ; "Naseledie", 1998. - 462 S. - Rez.: IFB 99-B09-734.
Literatura russkogo zarubez'ja / V.V. Agenosov. - 1998. - Rez.: IFB 99-1/4-216.
Poetessy russkogo zarubez'ja : L. Alekseeva, O. Anstej, V. Sinkevic / [Sost.: V. V. Agenosov ...] - 1998. - Rez.: IFB 99-1/4-217.
Sovremennoe russkoe zarubez'e / [sostavlenie ... P. V. Basinskogo ; S. R. Fedjakina. - Moskva : Olimp ; Izdat. AST, 1998. - 528 S. - (Skola klassiki). - Rez.: IFB 99-1/4-218.
Chronik russischen Lebens in Deutschland 1918-1941. - 1999. - Rez.: IFB 99-1/4-464.
Berlin, Ostbahnhof Europas : Russen und Deutsche in ihrem Jahrhundert / Karl Schlögel. - 1998. - Rez.: IFB 99-1/4-465.
Biographisches Lexikon des russischen Heidelberg / Willy Birkenmaier. - 1998. - Rez.: IFB 99-1/4-465.
Aus der Gründungszeit der Russischen Lesehalle in Heidelberg / zsgest. und kommentiert von Stephan Walter. - Heidelberg : Institut für Übersetzen und Dolmetschen der Universität Heidelberg, Russische Abteilung, 1999. - 84 S. - (Russica palatina ; 31).
Ferner nicht berücksichtigt:
Die russische Schriftsteller-Emigration im 20. Jahrhundert : Beiträge zur Geschichte, den Autoren und ihren Werken / Wolfgang Kasack. - München : Sagner, 1996. - 360 S. - (Arbeiten und Texte zur Slavistik ; 62). (zurück)

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