Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 7(1999) 1/4
[ Bestand in K10plus ]

Kleine Geschichte der französischen Literatur


99-1/4-210
Kleine Geschichte der französischen Literatur / Jürgen von Stackelberg. - Orig.-Ausg., 2., durchges. Aufl. - München : Beck, 1999. - 260 S. ; 19 cm. - (Beck'sche Reihe ; 412). - ISBN 3-406-45012-1 : DM 24.00
[5524]

Die Kleine Geschichte der französischen Literatur von Jürgen von Stackelberg ist lt. hinterem Umschlag "nicht nur für Studierende, sondern für ein allgemein gebildetes, europäisch orientiertes Publikum bestimmt." Die Lektüre der etwa 250 Seiten spricht ebenso wie von Stackelbergs Äußerung in den "Vorbemerkungen" dafür, daß die Zielgruppe in erster Linie besagtes "europäisch orientiertes Publikum" ist und es daher auf dem hinteren Umschlag genauer, wenngleich natürlich verkaufsstrategisch ungünstiger, heißen müßte: "nicht unbedingt für Studierende".[1] Die Absicht des Buches ist es, für die allseits als zu gering beklagte und immer geringer werdende Verständigung zwischen Deutschen und Franzosen eine bessere Basis zu schaffen, zumal "in der französischen Öffentlichkeit ... die Literatur des eigenen Landes ungleich stärker präsent (ist) als in der deutschen" und folglich "im Gespräch bleibt" (S. 7), so daß die Deutschen, wollen sie ihrerseits mit den Franzosen im Gespräch bleiben, über diesen wichtigen Bereich französischer Kultur gewisse Kenntnisse besitzen müssen.[2] "Was aber weiß der durchschnittlich gebildete Deutsche von der französischen Literatur?" fragt Jürgen von Stackelberg und antwortet: "In aller Regel (so muß man wohl sagen) herzlich wenig. Dem will diese Kleine Geschichte der französischen Literatur abzuhelfen versuchen" (S. 8).

Zu diesem Zweck verzichtet sie ebenso auf "Spezialistenjargon" wie auf "gelehrte Vollständigkeit" und will nur "das Wichtigste in Kürze" (S. 8) bieten,[3] wobei die gesamte frankophone Literatur, die außerhalb der Grenzen Frankreichs entstand, nicht zu diesem Wichtigsten zählt. Begründet wird dies wiederum mit der "europäischen Zielsetzung" des Buches, doch läßt sich mit ihr auf der einen Seite der Ausschluß etwa der belgischen und schweizerischen Literatur französischer Sprache schwerlich rechtfertigen, auf der anderen Seite wird die intendierte Abschaffung der (Verständigungs-) Grenzen zwischen Deutschland und Frankreich erkauft mit der Errichtung höherer Grenzen in andere Richtungen. Denn für Frankreich, wo, um nur ein Beispiel zu nennen, verglichen mit Deutschland viele Einwanderer aus Marokko, Tunesien und Algerien leben, ist etwa die maghrebinische Literatur zu großer Bedeutung gelangt, so daß auch ihre Kenntnis für die Verständigung mit Frankreich von Belang sein dürfte. Allerdings muß zur Relativierung dieses Mankos natürlich gleich hinzugefügt werden, daß von Stackelbergs Literaturgeschichte ungefähr in der Mitte dieses Jahrhunderts endet und damit ein Großteil zumindest der außereuropäischen frankophonen Literatur ohnehin nicht in ihrem Blickfeld liegt.

Davon abgesehen jedoch erweist sich die gewählte Methode, in Anbetracht des knappen Raumes und zugunsten der Lesbarkeit der Darstellung "eine gewisse Kenntnis der historischen Fakten" vorauszusetzen und daher auf die sogenannte "Realhistorie" (S. 10) außer in kurzen Andeutungen weitgehend zu verzichten, als ausgesprochen positiv für die Kleine Literaturgeschichte: Zum einen sorgt dieser Verzicht für die große Kohärenz des anregenden Buches und entspricht voll und ganz dessen erzählerischem Duktus,[4] zum anderen erlaubt die gewählte Vorgehensweise eher als eine allzu starre Anbindung an die "Realhistorie", gewissermaßen innerliterarische Verwandtschaften aufzuzeigen, die sonst oft verlorengehen, etwa wenn bereits bei den mittelalterlichen Romanen (S. 20) und bei der Farce vom Meister Pathelin (S. 24) auf Rabelais vorausgedeutet wird und die entsprechenden Seiten über Rabelais dann diese Anspielungen auflösen und so die Zusammenhänge verstehbar werden lassen.

Mag die Kleine Geschichte stellenweise auch allzu vereinfachend und geradezu gleichmachend anmuten[5] - in einem solchen Fall wirkt der selbstironische Kommentar "(wenn man will)" ausgesprochen wohltuend -, so verblüfft doch in Anbetracht der zwangsläufigen Knappheit der Ausführungen an vielen anderen Stellen die detaillierte und in den wenigen Worten sehr treffende Analyse: etwa wenn die zentrale Funktion der Sprache in Racines Theaterstücken beschrieben wird, statt sich auf bloße Nacherzählung des plot zu beschränken (S. 70 - 71), oder wenn gezeigt wird, daß La Fontaines Fabeln über ihren aktuellen Anlaß und damit zugleich über ihre politische Deutung weit hinauswachsen und sie der Moralistik näher stehen als einer bestimmten Moral.

Über die in jeder Literaturgeschichte und erst recht natürlich in einer Kleinen Geschichte vorhandenen Lücken oder Inkonsequenzen läßt sich immer streiten, z.B.: Kann "auf die Behandlung des Marquis de Sade" tatsächlich ganz einfach "hier verzichtet werden" (S. 157), ungeachtet seiner breiten Rezeption im 20. Jahrhundert (und seiner Aufnahme in die Bibliothèque de la Pléiade seit 1990)? Darf der Coup de dés von Mallarmé fehlen? Oder: Warum etwa werden zwar Saint-John Perse aus Guadeloupe oder Henri Michaux aus Belgien immerhin erwähnt, nicht jedoch beispielsweise ein Belgier wie Maurice Maeterlinck, dessen Werk für das "allgemein gebildete, europäisch orientierte Publikum" doch gewiß auch zum "Pensum" gehörte? Man könnte ferner darüber streiten, ob eine 1999 erscheinende Literaturgeschichte tatsächlich kaum weiter als bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts reichen darf und folglich mit dem sogenannten Theater des Absurden und dem Nouveau roman,[6] mit dem "ganz große[n] Wurf" La modification (1957) von Michel Butor als letztem besprochenem Text, enden muß, weil es für "eine angemessene historische Wertung ... eines gewissen Abstandes" bedarf (S. 9), oder ob sich nicht gerade hier der Mut zu Irrtum und Lücke kundtun sollte. Unabhängig jedoch von diesen Entscheidungen ist die Kleine Geschichte der französischen Literatur eine gut lesbare, informative Einführung in die französische Literatur und als solche durchaus - eher Privatleuten als größeren Bibliotheken - zur Anschaffung zu empfehlen.

Etwas enttäuschend allerdings, weil spärlich und wenig aktuell sind die Literaturhinweise am Ende: Offensichtlich wurden sie in der "durchgesehenen" zweiten Auflage nicht durchgesehen, denn hier heißt es beispielsweise, die von Jürgen Grimm 1989 herausgegebene Französische Literaturgeschichte "lag bei Abschluß des Manuskripts ... noch nicht vor" (S. 251). Mittlerweile ist aber bereits 1994 deren dritte Auflage erschienen, die demnach sehr wohl hätte berücksichtigt werden können. Ebenso müßten im Text selbst Angaben wie "nun (1989) im Erscheinen begriffen" (S. 228) auf den heutigen Stand gebracht werden und - das betrifft nicht die Bibliographie, sondern die Biographie[7] - dürfte 1999 ein Satz wie "Wir sprechen von Eugène Ionesco (geboren 1912), von Samuel Beckett (geboren 1906) und Autoren wie Arthur Adamov (geboren 1908) oder Jean Tardieu (geboren 1903)" (S. 244) nicht unverändert abgedruckt werden, wenn bei allen anderen Autoren das Todesdatum genannt wird. Am unverständlichsten ist die Lücke beim 1970 verstorbenen Adamov (wo doch Sartres Leben mit der Angabe "1905 - 1980" bereits seinen Rahmen hat), aber auch Beckett, Ionesco und Tardieu sind 1989, 1994 und 1995 gestorben und verdienten diese kleine Erweiterung der Kleinen Geschichte der französischen Literatur im Jahr 1999.

Barbara Kuhn


[1]
Zum einen ist die Darstellung gewollt knapp und daher für die Belange des Studiums zu knapp gehalten, zum anderen wird etwa auf die Sekundärliteratur nur sehr selten hingewiesen oder aus ihr zitiert, und wenn, gehen die bibliographischen Angaben kaum je über den Autor und gelegentlich den Sachtitel hinaus - was natürlich der Lesbarkeit der Literaturgeschichte zugute kommt. (zurück)
[2]
Ob freilich die wechselseitige Verständigung durch Sätze wie "Inzwischen haben auch fast alle französischen Literaturhistoriker eingesehen, daß der Barockbegriff mehrere Vorteile hat" (S. 43) gefördert wird, scheint zumindest fraglich. (zurück)
[3]
Es hätte genügt, dieses Prinzip hier in den Vorbemerkungen aufzustellen und zu begründen, statt immer wieder daran erinnernde Kommentare in den Text einzuflechten wie: "Soviel zumindest sollte hierzu gesagt sein, denn soviel hat jeder gebildete Franzose in Erinnerung" (S. 16); "In ausführlichen Dichtungen werden nun allerlei Dichtungen besprochen, die ... Wir haben uns auf das Wichtigste zu beschränken, das heißt ..." (S. 20 - 21); "Dem rigorosen Auswahlprinzip dieser Literaturgeschichte gemäß besprechen wir im folgenden lediglich ..." (S. 67); "Nicht aufzählen, sondern auswählen ist die Maxime dieser Kleinen Geschichte der französischen Literatur" (S. 206) etc. (zurück)
[4]
Stellenweise wird dieser zu einem fast umgangssprachlichen Ton (z.B.: "Damit wäre freilich kein 'Hund hinter dem Ofen hervorzulocken' gewesen. Wir sind denn auch bei Corneille, bei Molière und Racine weit davon entfernt, nur Tugendbolde vorgeführt zu bekommen", S. 48 - 49), insbesondere an den Stellen, wo der Autor eine Art (Pseudo-) Komplizität mit seinem Publikum eingeht und beide gemeinsam als Leser der französischen Literatur gegenüberstehen, die dabei zu einer Art Pensum wird; vgl. z.B. Passagen wie: "Das klingt in unseren Ohren ziemlich pedantisch" (S. 49); "... auf die wir wenigstens kurz zu sprechen kommen müssen" (S. 54), oder auch den ironischen Kommentar zur angeblich "uneinheitlichen Handlung (immer diese Einheiten!)" des Dom Juan (S. 81). (zurück)
[5]
Z.B.: "Corneille war Optimist, Racine Pessimist: auf diese simple Formel kann man den Unterschied zwischen den beiden Dramatikern bringen (wenn man will). Da Molière, die Moralisten La Rochefoucauld und La Bruyère, die Romanautorin Mme de Lafayette und der Fabelautor La Fontaine ebenfalls Pessimisten waren, kann von einem allgemeinen Wandel der Anschauungen gesprochen werden, der sich zur Zeit der Hochklassik vollzogen hat und der sich soziologisch erklären läßt" (S. 65). (zurück)
[6]
Der, was Robbe-Grillet anbelangt, nicht erst "mit La Jalousie 1957" (S. 247) einsetzt, sondern 1953 mit Les gommes oder spätestens 1955 mit Le voyeur, zumal ab 1955 auch die später in Pour un nouveau roman versammelten Aufsätze zu erscheinen beginnen. (zurück)
[7]
Oder, um von Stackelberg selbst zu zitieren: "um ein wenig dem Biographismus zu frönen" (S. 212 - 213) - ein weiteres Beipiel für Humor und Selbstironie in dieser Literaturgeschichte. (zurück)

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