Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 7(1999) 1/4
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"Was wir umbringen"


99-1/4-190
"Was wir umbringen" : 'Die Fackel' von Karl Kraus. [Eine Ausstellung des Jüdischen Museums der Stadt Wien, 23. Juni - 1. November 1999] / hrsg. von Heinz Lunzer ... [Wiss. Mitarbeiter: Hermann Böhm ...]. - Wien : Mandelbaum-Verlag, 1999. - 192 S. : Ill. ; 31 cm. - ISBN 3-85476-024-8 : ÖS 348.00, DM 47.70
[5611]

In Nachdrucken, Editionen und einer ganzen Bibliothek von Forschungsliteratur spiegelt sich seit den späten 60er Jahren ein wachsendes Interesse an Karl Kraus. Aus einer korrupten Sprache rührte für ihn alles Korrupte in Gesellschaft und Moral, in Politik und Wirtschaft, in Kultur und Medien - und hatte wiederum eine korrupte Sprache zur Folge. Um dem Übel aller Übel entgegenzutreten, begründete der Polemiker Die Fackel. Ihr ist in diesem Jahr, da sich das Erscheinen der ersten Nummer zum hundertsten Male jährt, eine Ausstellung des Jüdischen Museums der Stadt Wien gewidmet. Über den Sprachkritiker zu reden, heißt über seine Zeitschrift zu reden. Das belegt auch der höchst informative und gediegene Begleitband, der nicht nur ein Buch über Die Fackel ist, sondern auch eines über deren Urheber.

Auf 25 Seiten zeichnen Hermann Böhm und Heinz Lunzer ein an Details reiches Lebensbild des Herausgebers und Hauptautors der Fackel. Darauf folgt ein eigener Abschnitt zur Ikonographie von Kraus aus der Feder von Leo A. Lensing, der auch den persönlichen Kontakten von Kraus zu den wichtigsten Urhebern der photographischen Porträts nachgeht: Franz Pfemfert, Dora Kallmus (die sich den Künstlernamen Madame d'Ora zugelegt hatte), Hermann Schieberth, Trude Fleischmann u.a.

Ich und Judentum ist das Kapitel überschrieben, das die ambivalenten, in ihren antisemitischen Anklängen oft als Manifestation jüdischen Selbsthasses gedeuteten Äußerungen von Kraus zum Judentum analysiert. Typisch für Kraus auch in diesem Bereich der Widerruf eigener Positionen, etwa gegenüber dem lange angefeindeten Theodor Herzl, für dessen Absichten Kraus erst nach dem Tod des Gegners Verständnis entwickelte.

Feindbilder, Bildsatire und Bildmontage sind einige der Leitfragen, unter denen Die Fackel als "Anti-Medium" dargestellt wird. Der Fackel im Ersten Weltkrieg widmet Sigurd Paul Scheichl eine Folge brillanter Analysen, deren eine der Frontberichterstatterin und Kriegshetzerin Alice Schalek[1] gilt. Doppelt zuwider war sie Kraus - was hatte eine Frau an der Front zu suchen und was wollte sie im Journalismus? -, und er überschüttete sie als das Gegenbild seines Ideals der Weiblichkeit in der Kriegsfackel und in den Letzten Tagen der Menschheit[2] mit satirischen Kaskaden, "weil sie sich selbst die fragwürdigen Eigenschaften des Heroischen zuschrieb, weil sie den verächtlichsten und un-'natürlichsten' männlichen Beruf, den des Journalisten, ausübte" (S. 120). Noch dazu schrieb sie für die Neue freie Presse, jenes Organ, in dem sich für Kraus alle Untugenden des publizistischen Geschäfts bündelten. Als sie ihren Bruder veranlaßte, den verhaßten Schriftsteller zum Duell zu fordern, reagierte Kraus, indem er dem Aufdruck seiner Visitenkarte "Karl Kraus Herausgeber der 'Fackel'" mit der Hand hinzufügte: "empfängt, wie er wiederholt bekannt gegeben hat, grundsätzlich keine Besuche und ertheilt die von Ew. Wohlgeb. gewünschte Antwort: dass seine Vertretung die Kanzlei des Hof- und Gerichtsadvokaten Dr. Viktor Kienböck, I. Plankengasse 7 innehat. 13. Mai 16." Mit dem Advokaten konnte Norbert Schalek sich schlecht duellieren.

Das Leitmotiv für seine zahlreichen Äußerungen zum Thema "Sittlichkeit und Kriminalität" lieferte Kraus mit dem schneidenden Aphorismus: "Der Skandal beginnt immer erst dann, wenn die Polizei ihm ein Ende macht". Von den Sittlichkeitsprozessen, die Kraus in der Fackel publizistisch begleitet hat, dokumentiert Leo A. Lensing drei "Fälle" ausführlicher. Darunter ist auch die zunächst auf Kinderschändung, dann auf Päderastie lautende Anklage gegen den Wiener Universitätsprofessor Theodor Beer, dessen Frau nach dem Urteil und der damit verbundenen gesellschaftlichen Vernichtung zwar Selbstmord beging - von "Selbstmord der Themis" schrieb Kraus -, nicht jedoch ohne zuvor den Denunzianten ihres Mannes auf offener Straße mit der Reitpeitsche geschlagen zu haben: eine Tat würdig einer Charlotte Corday, mit der sie in einem parallel in der Wiener allgemeinen Zeitung erschienenen Artikel schon Peter Altenberg verglichen hatte.

In trefflicher Bildauswahl, sachlicher Information und pointierter Deutung gleich überzeugend sind die Schilderungen der schwierigen Beziehungen von Kraus zu zahlreichen Zeitgenossen, etwa zu Oskar Kokoschka, dessen Genie der Herausgeber der Fackel früh erkannte. Er ließ sich von diesem Maler zwar porträtieren, weigerte sich aber später, als das Verhältnis beider Männer von größerer Distanz war, den erbetenen Beitrag zum Katalog einer Ausstellung des Künstlers zu schreiben.

Auf höchst einleuchtende Begriffe bringt Victoria Lunzer-Talos das Besondere der Beziehung zu Sidonie Nádhernì. Während Kraus die Frauen sonst, ganz im Sinne Otto Weiningers, der ihn tief beeindruckt hatte, lediglich als austauschbare Gattungswesen wahrnahm, in der geschlechtlichen Begegnung nur das Mittel zum Zweck männlicher Inspiration sah, trat dem sich autonom Dünkenden in der reifen und anspruchsvollen Sidonie Nádhernì zum ersten Mal eine weibliche Persönlichkeit entgegen, deren überlegene Individualität ihn fixierte. Als die Stärkere in der Liebesbeziehung versetzte sie "ihn in die Spannung, in die 'Liebestodesangst', aus der die - oft verzweifelte - Energie zur Arbeit kam. Sidonies aktiver Beitrag bestand paradoxerweise im Sich-Entziehen" (S. 175).

Stillschweigend oder explizit korrigieren bzw. präzisieren die Autoren immer wieder auch Irrtümer, die sich in der Sekundärliteratur finden. Mit Kraus'scher Süffisanz machen sie auf die eine oder andere Trouvaille aufmerksam, etwa wenn es um die überall kolportierte Auffassung geht, Kraus habe zwar die psychoanalytische Bewegung angegriffen, nicht jedoch ihren Gründer. Dabei "ließ er mehr als einmal dem wie dafür geschaffenen Namen Freuds ein böses onomastisches Wortspiel angedeihen. Bösartig ist der 1913 veröffentlichte Aphorismus, wo ein 'Lehrmeister der Liebe' beschrieben wird, der die 'neue Jugend' dazu verführt, sich sexuell auszuleben, ohne die entsprechenden Schutzmittel zu benutzen. Das Fazit: 'Es scheint, daß sie den Sigi Ernst mit dem Sigi Freud überwunden hat'. Diese Koppelung seines Namens mit dem eines stadtbekannten Herstellers von 'Französischen Gummi-Spezialitäten', dessen Leuchtreklamen in der Kärntnerstraße prunkten, wird Freud schon als Vergeltung verstanden haben" (S. 171).

Als verlockende Einladung zu weiterer Forschung beschließt den Band eine Beschreibung des Kraus-Archivs der Wiener Stadt- und Landesbibliothek, in der Hermann Böhm auch über die komplizierten Wege informiert, auf denen verschiedene Teile des Kraus-Nachlasses über die Ära von nationalsozialistischer Herrschaft und Weltkrieg - vor allem über die Schweiz und über Schweden - gerettet werden konnten. Verloren sind dagegen die Nachlaßteile aus dem Arbeitszimmer von Karl Kraus. Sein Anwalt Otto Samek hatte daraus einen Erinnerungsraum in seinem Hause eingerichtet, den nach seiner Ausreise in die USA im Oktober 1938 eine SA-Horde verwüstete. Retten konnte er lediglich die - inzwischen von Böhm selbst mustergültig edierten - Akten der Prozesse, die er für Kraus geführt hatte, sowie die Korrekturfahnen der nachgelassenen Dritten Walpurgisnacht.

Indem der Band zur Lektüre von der ersten bis zur letzten Seite einlädt, dokumentiert er die Ausstellung weit besser, als dies ein Katalog mit den ständigen Unterbrechungen durch Exponatbeschreibungen üblicherweise vermag. Die vielen Abbildungen sind buchgestalterisch so integriert, daß man sie gleichsam "mitliest" - das etwa hatte Karl Kraus auch für die Illustrationen der Fackel vorgeschwebt. Bedauerlich nur, daß der reiche Schatz an Namen nicht durch ein Register erschlossen ist, was den Nutzen dieses Ausstellungskatalogs als Informationsmittel mindert.

Gabriella Rovagnati


[1]
Den Versuch, sie aus der Ecke herauszuholen, in die sie Karl Kraus gestellt hat, unternimmt eine im Jüdischen Museum der Stadt Wien bis Januar 2000 gezeigte Ausstellung mit Photographien, die sie auf ihren zahlreichen Reisen gemacht hat:
Von Samoa zum Isonzo : die Fotografin und Reisejournalistin Alice Schalek / Hrsg.: Jüdisches Museum der Stadt Wien. - Wien : Mandelbaum-Verlag, 1999. - 112 S. : Ill. ; 28 cm. - ISBN 3-85476-030-2 : ÖS 218.00, DM 29.80 [5748]. (zurück)
[2]
Die zwischen 1962 und 1975 aufgezeichneten Lesungen von 98 der 220 Szenen aus diesem Werk durch Helmut Qualtinger sind 1999 auf vier CDs (auf denen die Lesungen der vier ursprünglichen Schallplatten und späteren CDs - die weiterhin lieferbar sind - in Szenefolge neu geordnet wurden) veröffentlicht und im November 1999 zum "Hörbuch des Monats" gekürt worden: Qualtinger liest Karl Kraus [Tonträger] : die letzten Tage der Menschheit / Karl Kraus. Sprecher: Helmut Qualtinger. - [Wien] : Preiser-Records, 1999. - 4 CD in Box : mono, ADD. - Best.-Nr. 90390. - DM 99.90. - (Hörsturz Booksound, Landshuter Str. 7, 85435 Erding, FAX 08122/963882, E-Mail: booksound@t-online.de) [5795]. (zurück)

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