Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 7(1999) 1/4
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Karl Kraus


99-1/4-189
Karl Kraus : eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach ; 8. Mai - 31. Oktober 1999 / [Ausstellung und Katalog: Friedrich Pfäfflin und Eva Dambacher. In Zsarb. mit Volker Kahmen]. - Marbach : Deutsche Schillergesellschaft, 1999. - 530 S. : Ill. ; 21 cm. - (Marbacher Kataloge ; 52). - Mit den faksimilierten "Fackel"-Nummern 404 und 888 als Beilage. - ISBN 3-933679-19-2 : DM 36.00
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Mit der Wiedergabe des Testaments von Karl Kraus beginnt der reichhaltige Katalog zu der Ausstellung, welche die Deutsche Schillergesellschaft in diesem Jahr dem provokatorischen Autor gewidmet hat. Mit Bedacht verfügte Kraus bei der 1935 erfolgten Niederschrift seines letzten Willens, sein Tod solle "so wenig eine Familienangelegenheit sein" wie sein Leben, das "der Arbeit wegen" ein öffentliches sein mußte. Das Unternehmen, mit dem der Sohn eines wohlhabenden jüdischen Papierfabrikanten aus dem Böhmischen schon im Alter von 25 Jahren die Verborgenheit des Privaten aufgab, war die Gründung jener Zeitschrift im dekadenten Wien des Fin de siècle, die sich programmatisch gegen alle fragwürdigen Erscheinungsformen des damals herrschenden morbiden Zeitgeistes wandte: Die Fackel.

Das erste Heft der Zeitschrift, die am Ende - nach fast vierzig Jahren unverdrossener publizistischer Tätigkeit - aus insgesamt 922 Nummern bestand, erschien im April 1899. Das hundertste Jubiläum des Aufleuchtens der Fackel - "sein[nes] Hauptwerk[s] und zugleich ein[es] Hauptwerk[s] der Moderne", wie Ulrich Ott im Vorwort betont -, das mit dem hundertfünfundzwanzigsten Geburtstag des Herausgebers (und ab 1911 einzigen Verfassers) zusammenfällt, ist der Anlaß zu der Marbacher Hommage an Kraus gewesen, der es gelungen ist, die Wechselwirkung von Leben und Schaffen bei diesem proteischen Wiener Journalisten und Schriftsteller zu beleuchten und eine sehr nuancierte Vorstellung von seiner komplexen Persönlichkeit zu vermitteln: Konnte er doch so aggressiv wie zärtlich, so hyperpolemisch wie nachsichtig, so zermalmend wie wohltätig und so dialektisch luzide wie chaotisch sein.

Mehr noch: anhand der Materialien (Bücher, Gemälde, Briefe, Photographien, Zeichnungen, Karikaturen, Theaterprogramme und -karten, Abdrucke, Widmungen, Faksimiles), die das weite Netz der Beziehungen von Kraus zu ihm befreundeten oder feindlich gesinnten Zeitgenossen in alle Richtungen dokumentieren, gewinnt man aus Ausstellung und Katalog das Panorama einer ganzen Epoche und ein überzeugendes Bild der politischen und kulturellen Stimmungen der Zeit vom Zusammenbruch der Donaumonarchie bis hin zu den ersten verhaßten Triumphen Hitlers in der österreichischen Metropole.

Und das alles, "obwohl der Nachlaß von Karl Kraus nicht Marbach, sondern Wien gehört und dort größtenteils der Wiener Kraus-Ausstellung dieses Jahres zur Verfügung bleiben mußte". Die Exponate, die aus der Marbacher Kraus-Sammlung und aus diversen anderen Nachlässen und Beständen (etwa denen von Berthold Viertel, Heinrich Fischer, Franz Glück oder Mechtilde Lichnowsky) im Besitz des Deutschen Literaturarchivs stammen, werden durch zahlreiche Leihgaben Dritter ergänzt. Der Anhang zum Katalog umfaßt eine detaillierte und informative Chronik Karl Kraus, 1874 - 1936, editorische Notizen zum Katalog und ein Personenregister, das den Gebrauch des Bandes auch als Nachschlagewerk erleichtert.

Im Text heben sich die zahlreich zitierten Quellen klar von den kursiv gesetzten Kommentaren und Erklärungen ab. Aber nicht nur der wissenschaftliche Apparat und die gelungene graphische Gestaltung, die man von den Marbacher Katalogen inzwischen ja schon gewohnt ist, erweisen die Kompetenz der Bearbeiter Friedrich Pfäfflin, Eva Dambacher und Volker Kahmen. Es ist vor allem die erlesene Zusammenstellung der Dokumente, in der sich hier die hohe Kennerschaft bezeugt, die nichts dem Zufall und der Improvisation überläßt. In dem Zusammenhang sei daran erinnert, daß Friedrich Pfäfflin, der Leiter des Projekts, bereits 1974 als Mitherausgeber des Briefwechsels zwischen Kraus und seiner letzten Liebe, der böhmischen Baronin Sidonie Nádhernì, hervorgetreten ist. Er hat für diese Ausstellung auch aus dem Fundus seiner Privatsammlung geschöpft, während Volker Kahmen Stücke aus seinem privaten Bestand zu Werner Kraft zur Verfügung gestellt hat.

Nur vordergründig wird Karl Kraus in Ausstellung und Katalog in geläufiger Sicht als kämpferische Natur vorgestellt, deren Hauptwaffe in der Präposition gegen gesteckt hat: Er war gegen den Obskurantismus der damaligen Presse, gegen die scheinheilige Moral des Bürgertums, gegen jede Äußerung von Dummheit, gegen eine ästhetisierende, preziöse Auffassung von Kultur, die in seinen Augen nur zum progressiven Verderben der Sitten beitrug.

Liest man aber genauer in den über 500 Seiten des Katalogs, so entdeckt man allmählich, daß die aufbauende, ja sogar die erbauende Seite des Schaffens von Karl Kraus doch die Oberhand gewinnt, denn hinter den stacheligen, bissigen Tönen seiner Kritiken stand vor allem ein Mensch, der genau wußte, wofür er sich engagierte: für die Schwachen und Unbemittelten, die er unermüdlich mit der Feder und mit konkreter, auch materieller, Hilfe unterstützte, für die Bekämpfung jeder offenen oder subtilen Form von Kriminalität, für eine Zurückgewinnung an Echtheit in Sprache und Kunst, die nicht mehr der Verstellung, sondern einer möglichst getreuen Darstellung der Wirklichkeit dienen sollten.

Schwer zu sagen, welcher von den 21 Abschnitten, in die der Katalog aufgeteilt ist, durch bisher unbeachtete Dokumente und ungewohnte Perspektiven am interessantesten ist: ob der mittlere zu Entstehungsgeschichte, Gestaltung und Wirkung der Tragödie Die letzten Tage der Menschheit, oder vielleicht einer derjenigen, die den Beziehungen von Kraus zu berühmten Zeitgenossen gewidmet sind, etwa zu dem gleichaltrigen Komponisten Arnold Schönberg, zu dem Architekten Adolf Loos, dem "Maurer, der Lateinisch gelernt hat", oder zu Peter Altenberg, "dieser reichsten dichterischen Natur, diese[m] leidenschaftlichsten und stärksten Temperament des neuen Deutschlands".

Mit Sicherheit jedoch zeigt der Katalog - zu dessen Verdiensten auch gehört, daß er die mehr oder weniger intimen Liaisons des Schriftstellers mit verschiedenen Frauen jenseits voyeuristischer Lust vorstellt -, daß die Definition "Fackel-Kraus" für diese vielseitige Persönlichkeit durchaus unzureichend ist: Denn neben dem irritierenden Journalisten, tritt hier z.B. auch der Erfinder des "Theaters der Dichtung" zutage, der durch unzählige Vorlesungen dramatischer Texte - oft in eigenen aktualisierenden Bearbeitungen, wie im Falle der Satire Wolkenkuckucksheim, die auf Aristophanes' Ornithes zurückgeht - eine Gattung wieder zu beleben versuchte, die ihm zu Unrecht dem Verfall preisgegeben schien: So gewann er u.a. der deutschen Bühne Nestroy und Offenbach zurück. Nicht zuletzt war Kraus - entgegen einem unter Germanisten noch verbreiteten Vorurteil - auch ein begabter Lyriker, wie seine Worte in Versen belegen, bei denen sich oft in wenigen Zeilen Großzügigkeit des Denkens, Selbstironie und Qualen der Kreativität verbinden, wie etwa in dem folgenden Gedicht:

Ohnmacht

Ich muß mehr, als ich habe, schenken,

Wenn ich was kann, da kann ich nichts dafür.

Und was ich will, mißlingt: mich abzulenken.

Denk ich an dies und das, um nichts zu denken,

es denkt in mir.

Obwohl der Katalog ein in sich abgeschlossenes Werk bildet, wird er im Laufe des Sommers um fünf Beihefte ergänzt, die neben den Briefwechseln von Kraus mit der früh verstorbenen Annie Kalmar und mit Mechtilde Lichnowsky auch eine Geschichte der verlegerischen Aspekte der Fackel und ihrer Auswirkungen sowie Originalaufnahmen auf CD und eine Videokassette mit der Reproduktion eines Originaltonfilms aus dem Jahre 1934 bieten werden.

Gabriella Rovagnati


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