Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 7(1999) 1/4
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Das Goethe-Bild der Postmoderne 1975 - 1999 in Büchern und


99-1/4-175
Das Goethe-Bild der Postmoderne 1975 - 1999 in Büchern und elektronischen Medien : Begleitschrift zur Ausstellung der Stadt- und Universitätsbibliothek zum Goethe-Jubiläum 1999 / von Carl Paschek. - Frankfurt am Main : Klostermann, 1999. - 142 S. : Ill. ; 21 cm. - (Frankfurter Bibliotheksschriften ; 7). - ISBN 3-465-03049-4 : DM 28.00
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Wie schon vor 25 Jahren zur 225. Wiederkehr von Goethes Geburtstag widmet die Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main auch in diesem Jahr eine Ausstellung dem Thema der jüngeren und gegenwärtigen Rezeption des Dichters, zu dem Carl Paschek, als Fachreferent verantwortlich für die Betreuung des DFG-Schwerpunkts Germanistik an dieser Bibliothek, den Begleitband verfaßt hat.

Während die eigentlich künstlerisch-produktive Aufnahme Goethes in Bildender Kunst (etwa am Beispiel von Jospeh Beuys), Musik (bei Anton Weber) und Literatur (bei Arno Schmidt, Dieter Kühn, Gabriele Wohmann und Volker Braun) eher knapp behandelt werden, kommen aus der neueren Goethe-Forschung zwei modische Ausprägungen - eben die durch den Titel angekündigte diskursanalytische bzw. dekonstruktivistische Variante und der "grüne" Goethe als Vorläufer ökologischen Denkens - ausführlich zu Wort, auch in längeren Zitaten.

Darin liegt das Hauptverdienst des kleinen Bandes (nicht etwa in der knappen beigegebenen Auswahlbibliographie), daß er durch die zahlreichen eingestreuten Zitatbelege zeigt, wie dicht beieinander da Weizen und Spreu liegen. Freilich übt der Bearbeiter des Katalogs in seinen Urteilen eine solche "Epoché", daß man nicht sicher sein kann, ob man seinen Text so boshaft lesen darf, wie das hier geschieht.

Da die dekonstruktivistischen Entertainer - in der Absicht, mit der altväterlichen Unterstellung aufzuräumen, etwas Gesagtes oder Geschriebenes intendiere einen Sinn, den man durch Interpretation dem Verständnis erschließen könne - nur noch eine einzige Spielregel gelten lassen, die da lautet "Jeder darf mitspielen", tun wir's hier auch und danken Paschek, daß er aus Eva Horns Buch Trauer schreiben,[1] einer Konstanzer Dissertation, gerade die folgende Stelle zitiert, nicht ohne zuvor den "semiologisch und psychoanalytisch geschulten Blick" der Autorin zu rühmen, dem sich Goethes "Konzeption der Autorschaft" enthülle als "Text-Herrschaft, einer Selbstmächtigkeit des sprechenden Subjekts, die sich im intertextuellen Kampf mit den Toten zu bewähren hat. In diesem Kampf restituiert sich eine vom Tod bedrohte Autorschaft als eigenes Sprechen. [...] Trauer [...] bezieht sich auf einen verlorenen anderen, um dessen Abwesenheit sie als um ihr leeres Zentrum kreist. Diese Dezentrierung des Subjekts und seiner Sprache beim Tod des anderen ist so lokalisierbar als eine Öffnung auf den anderen hin, genauer gesagt: auf die Leerstelle, die erst sein Fehlen ins Ich hineinträgt. Figuration, Darstellung, die Substitution einer 'Sache durch das Zeichen' (Goethe) werden unterm Blick der Trauer zum Verrat am anderen, in dem Maße, wie sie seine Abwesenheit, sein Fehlen ausfüllen, Präsenz erzeugen und ihn in dieser ersetzenden Re-Präsentation 'noch einmal erschlagen' (Freud). Nicht Substitution durchs Bild, durch die Figur, sondern die Zeichenpraktiken der Kontiguität und Indexikalität - Spur, Reliquie und Markstein - sind die Formen einer trauernden Verweisung, der es darum zu tun ist, die materiale Anwesenheit des anderen, seine irreduzible Singularität wenn schon nicht zu repräsentieren, so doch in der Insistenz des Verweisens virulent zu halten."

Man achte einmal nur auf die katachretische Metaphorik der kurzen zitierten Probe: Die scheinbar "genauer" als Leerstelle präzisierte Öffnung, die "sein [gemeint vermutlich "des anderen"; grammatisch nur zu verstehen als "des Subjekts"] Fehlen ins Ich hineinträgt" - huckepack, im Koffer, in der Plastiktüte oder mit nackten Händen, wie bloß trägt die leere Öffnung das Fehlen ins Ich hinein. Das ist so erhellend, wie wenn man ein paar Sprichwörter und Redensarten zu einer neuen Aussage folgender Art montierte: Die Krone schlägt dem Auge den Boden aus.

Das Problem kann man auch so fassen: Wieviel von derartigem Zeug muß man gelesen haben, um als Goethe-Forscher (in wessen Augen?) zu gelten? Wieviel Zeit darf man dann noch für die Goethe-Lektüre selbst verwenden? Goethe-Forschung und Goethe-Kennerschaft auf dem Weg zu kontradiktorischer Opposition, weil sich die Literaturwissenschaft mit ihrer Wichtigtuerei immer mehr vor die Literatur schiebt?

Ob beabsichtigt oder ungewollt, wie auch immer, hilft Paschek mit seinem Überblick zu einem Ausschnitt der neueren Goethe-Forschung gerade deswegen dem Leser, weil er ihn durch die ausführlichen und "enthüllenden" Textproben von der zeitvergeudenden Lektüre der Bücher abhält. Daß ein Bibliothekar dies tut, steht in der guten Tradition aufklärerischer Unternehmungen mit Titeln wie Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks oder auch Der Freimütige.

Hans-Albrecht Koch


[1]
Trauer schreiben : die Toten im Text der Goethezeit / Eva Horn. - München : Fink, 1998. - 266 S. ; 22 cm. - (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste : Reihe A, Hermeneutik, Semiotik, Rhetorik ; 11.). - Zugl.: Konstanz, Univ., Diss., 1996. - ISBN 3-7705-3314-3 : DM 58.00. (zurück)

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