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Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 7(1999) 1/4
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Einführung in die feministische Literaturwissenschaft


99-1/4-152
Einführung in die feministische Literaturwissenschaft / von Jutta Osinski. - Berlin : Erich Schmidt, 1998. - 216 S. ; 21 cm. - ISBN 3-503-03710-1 : DM 29.80
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Das mindestens seit 1996 angekündigte und schließlich im April 1998 erschienene Buch Osinskis, das aus zwei Teilen besteht, einem historischen und einem systematischen, "geht aus von der Aussicht, daß man die feministische Literaturwissenschaft erfinden müßte, wenn es sie nicht gäbe. Denn diese hat zweifellos zu einem geschlechterbewußten Lesen geführt." Diese Überzeugung wird in der Einleitung begründet, und zwar an der Lektüre von zwei Texten: der Novelle Der Landvogt von Greifensee von Gottfried Keller und dem Roman Gräfin Faustine von Ida Hahn-Hahn.

Einer "männerperspektivischen Interpretation" wird die Methode der feministischen Hermeneutik und der Gender Studies gegenübergestellt. Während erstere - so Osinski - sich vor allem mit stilistisch-ästhetischen Fragen beschäftigt, richten feministische Auslegungen ihre Aufmerksamkeit auf eine hauptsächlich thematische Analyse von Texten und bewirken damit nicht nur die Restitution der Einheit von Inhalt und Form, d.h. "der Zusammenhänge von Sexualität und Textualität", sondern sie situieren auch die Werke "in den diskursiven Kontext ihrer Zeit."

Ein Verdienst der feministischen Literaturwissenschaft sei dazu die Wiederentdeckung von Texten, die als "Frauenliteratur" von einer männlich orientierten Literaturgeschichtsschreibung - was besonders anhand der Artikel der verbreiteten Lexika leicht zu entlarven ist - für a priori zweitrangig erklärt werden. Einen solchen Fall stellt der 1841 veröffentlichte Roman der mecklenburgischen Autorin Ida Hahn-Hahn dar, einer Schriftstellerin, die von ihrer engagierten Zeitgenossin George Sand stark beeinflußt wurde.

Eine feministische Interpretation des Romans von Hahn-Hahn, die seine Gedankenwelt thematisch aufwertet, dafür aber die objektiv mangelhafte ästhetische Leistung vernachlässigt, läuft das Risiko, genauso ungerecht und parteiisch zu sein wie eine männerperspektivische Deutung. Das führt die Verfasserin des Essays zu der durchaus plausiblen Empfehlung, daß "Wertungen nicht unbewußt erkenntnisleitend, sondern Teilgegenstand jeder Analyse sein [sollten]." Erst wenn sie auf präfabrizierte Maßstäbe verzichten, können feministische Literaturtheorien und Gender Studies zu einem bewußteren Lesen beitragen, und zwar indem sie Anlaß zu einem Vergleich zwischen einer neuen kritischen Perspektive und dem traditionell männlichen Gesichtspunkt erlauben.

Nach dieser Einleitung bietet die Studie eine historische Darstellung der Entwicklung der feministischen Literaturtheorie. Dieser erste Teil der Arbeit erhellt zunächst die "Hintergründe", die zur Statuierung einer feministischen Literaturwissenschaft geführt haben, und illustriert dann deren Entfaltung in den drei darauffolgenden Jahrzehnten. Von den Women's Studies ausgehend, geriet die feministische amerikanische Literaturwissenschaft schon "gegen Ende der 70er Jahre [...] in eine Legitimationskrise. Das Ziel einer Revision androzentrischer Literatur in einem männlich bestimmten Fachbetrieb war ganz offensichtlich nicht erreicht worden".

In den achtziger Jahren wurde dann die amerikanische feministische Schule durch die französische abgelöst: "Und so wurde die französische écriture féminine zum French Feminism" und mit starker Tendenz zur Dekonstruktion kanonisiert. Das hatte zur Folge, daß Feministinnen nicht mehr nur Frauenliteratur interpretierten, sondern daß sie "Texte unabhängig vom Geschlecht des Autors dekonstruktiv" lasen, "um Stellenwert und Funktion des 'Weiblichen' in der tradierten Literaturgeschichte neu zu bewerten".

An den zahlreichen Aufsätzen, die damals in solcher Perspektivik - die übrigens auch in Deutschland große Resonanz fand - veröffentlicht wurden, zeigt sich, "daß feministische Dekonstruktion ausgesprochen theorielastig ist und für die Literaturkritik eher ein elaboriertes Verstehensmodell als ein erlernbares Analyseverfahren anbietet".

Im Laufe der 80er Jahre wurde so allmählich klar, daß man nur theoretisch zwischen feministischer und nicht-feministischer 'Frauenforschung' unterscheiden könne. Der einzig gültige Begriff für die Vielfalt der entstandenen Studien konnte nur noch unter dem allgemeinen Schlagwort Frauen und Literatur gefaßt werden, nachdem inzwischen ein melting pot von Publikationen enstanden war, wo sich Theorien und Interpretationen auseinanderentwickelt hatten.

"Ende der 80er Jahre wurden einerseits kulturkritische und semiologische Modelle diskutiert, in denen das biologische Geschlecht kaum eine Rolle spielt, andererseits war gerade das biologische Geschlecht 'Frau' conditio sine qua non jeder Frauenforschung. Das Theorien-Potpourri verhinderte neue Einsichten und Denkmöglichkeiten. Es führte in Wiederholungen, die schließlich so langweilig wurden, daß der Import der Gender Sudies aus den USA in den 90er Jahren nahezu erlösend wirkte".

Das Wort gender (Genus) verlor seine herkömmliche grammatisch-lexikalische Bedeutung und wurde gebraucht "als Bezeichnung des sozial und kulturell erworbenen und geprägten Geschlechts im Unterschied zum biologischen". Die neuen Gender Studies, stark vom Denken Michel Foucaults beeinflußt, faßten in der akademischen Diskussion bald Wurzeln und verbreiteten sich - wiederum von Amerika aus - auch in Deutschland. Judith Butler, die bekannteste Vertreterin der amerikanischen Gender Studies, zielte auf "die Überwindung des sowohl biologistisch als auch dekonstruktivistisch vorausgesetzten Axioms einer Geschlechterdifferenz" zu Gunsten einer "generelle[n] Befreiung individuellen Denkens und Handelns". Die "Geschlechterdifferenz" der Dekonstruktivistinnen wurde mit den Gender Studies amalgamiert, aber der "Unterschied" galt nicht mehr als naturbedingt, sondern als sozialer Effekt. Es entstand dazu eine ganze Reihe von Metatheorien, die bis heute weder eine methodologische noch eine theoretische Einheit aufweisen.

Versuch einer Systematik betitelt Osinski trotzdem den zweiten Teil ihres Buches, der sich seinerseits in vier Abschnitte untergliedert: 1. Orientierungen (mit Erläuterung verschiedener Begriffe, vom Feminismus bis zu den Gender Studies); 2. Kultur- und sprachkritische Grundmodelle (Freud - Lacan - Deridda - Foucault); 3. Écriture féminine (Hélène Cixous - Luce Irigaray - Julia Kristeva - Hysterie und Mystik - Unlösbare Widersprüche) und schließlich 4. Feministische Literaturtheorien. Nach den vielen Informationen, die der Band in einer oft allzu abstrakten, nicht immer genießbaren Sprache mitteilt, faßt die Autorin das Resultat der dreißigjährigen Diskussion folgendermaßen zusammen: "Feministische Literaturwissenschaft und Gender Studies haben bewußt gemacht, daß und warum historische Literatur von Frauen nicht kanonisiert wurde. Und dabei wird es wohl bleiben".

Osinski hat den Mut, Gegensätze und theoretische Schwierigkeiten einer feministischen Literaturwissenschaft hervorzuheben. Das Buch bietet am Ende kein Fazit, sondern zehn "Vorschläge für eine feministische Literaturwissenschaft", die im Bewußtsein ihrer Aporien so wenig apodiktisch und ghettohaft wie möglich angelegt sein sollte, sozusagen nach dem ersten der zehn Gebote: "Feminist(inn)en im Fach sollten interdisziplinär und kulturspezifisch denken und universalisierende, pauschale Theorien über Geschlechterverhältnisse vermeiden". Nach so viel Reflexion scheint aber die Frage auch legitim: Waren dreißig Jahre wildwüchsiger, für die literaturwissenschaftliche und literaturkritische Praxis weithin unergiebiger 'Forschung', über die hier gründlich und mit großer bibliographischer Sorgfalt orientiert wird, wirklich notwendig, um zu dieser vergleichsweise trivialen Einsicht zu gelangen, die übrigens auch für Nicht-Feminist(innen) genauso gilt?

Gabriella Rovagnati


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