Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 7(1999) 1/4
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Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie


99-1/4-129
Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie : Ansätze - Personen - Grundbegriffe / hrsg. von Ansgar Nünning. - Stuttgart ; Weimar : Metzler, 1998. - 593 S. ; 24 cm. - ISBN 3-476-01524-6 : DM 49.80
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Dieses Lexikon stellt eine dringend erforderliche, relativ späte Antwort auf den anhaltenden Theorieboom der letzten Jahre in den (hoffentlich immer noch) philologischen Fächern dar. Es enthält über 600 alphabetisch geordnete Artikel zu den verschiedensten literaturtheoretischen wie kulturtheoretischen Ansätzen, da auch Theorieentwürfe aus anderen kulturwissenschaftlichen Disziplinen längst von der Literaturwissenschaft übernommen worden sind. Der Adressatenkreis des Lexikons ist zu Rech weit gespannt, will es doch "Studierenden (auch Studienanfänger/innen) aller Philologien und Kulturwissenschaften sowie Wissenschaftler/innen und theorieinteressierten Leserinnen und Lesern anderer geisteswissenschaftlicher Disziplinen (insbesondere Historikern, Soziologen und Psychologen) fachliche Orientierungshilfe bieten und ihnen ermöglichen, sich innerhalb des interdisziplinären Diskussionszusammenhangs der Literatur- und Kulturtheorie eine erste begriffliche Übersicht zu verschaffen" (S. V).

Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf der Moderne. Zwar werden auch traditionelle Grundbegriffe wie Emblematik und Synekdoche, Katharsis und Melancholie, Historismus und Mimesis erklärt (hierzu zählen auch Konzepte philosophischer Provenienz wie Mythos oder Natur), doch überwiegen 'moderne' Termini, einschließlich der hinreichend berücksichtigten Leitvokabeln jüngerer und jüngster (hermeneutischer) Entwicklungen, wie Avantgarde, Dekonstruktivismus, Deviationsstilistik, Gay and Lesbian Studies, Gegen-den-Strich-Lesen, Gender Studies, Kulturökologie, Materialität der Kommunikation, Mentalitätsgeschichte, New Historicism, Phallozentrismus, Populärkultur, Postkoloniale Literaturtheorie und -kritik oder Sprechakttheorie. Ein besonderes Gewicht liegt auf medienbezogenen Stichwörtern wie Computerphilologie, Filmsemiotik, Massenmedien, Medienkulturwissenschaft oder Photographie und Literatur (Konzept Literaturwissenschaft als Medienwissenschaft). Wie sehr Literatur-, Medien- und Kulturtheorie längst anthropologisch akzentuiert sind, wird in den Darstellungen von Begriffen wie Kultursemiotik oder Literarische Anthropologie deutlich. Sehr viele Termini sind von einem Hauptrepräsentanten der Literatur- und Kulturtheorie geprägte zentrale Begriffe oder werden von den Beiträgern primär auf einen Autor bezogen, z.B. Différance/Différence (Derrida) oder Zirkulation (Greenblatt). Zur Eröffnung einer historischen Dimension werden die literaturtheoretischen Positionen früherer Zeiten in Epochen-Artikeln u.a. zu Mittelalter, Renaissance oder Romantik gebündelt. Gut, daß ein Artikel Begehren aufgenommen wurde; bedauerlich, daß Artikel wie "Absenz", "Lust", "Montage" oder "Offenheit" bzw. "Offene und geschlossene Texte" fehlen. Sie und so manche Termini Bachtins (z.B. Brechung) oder französischer Theoretiker wie Derrida (z.B. Urschrift) findet man im übrigen bei Jeremy Hawthorn.[1]

Autoren-Artikel - dies ein weiteres Lemma-Genre des Nachschlagewerks - finden sich zu so unterschiedlichen Theoretikern wie Baudrillard, Bourdieu, Eisenstein, Foucault, Jakobson, Panofsky, Sartre, Starobinski, Todorov, aber auch zu 'Klassikern' wie Horaz oder Platon. Deutschsprachige Theoretiker sind ebenfalls reichlich vertreten, nicht nur solche der 'ersten Garnitur' wie Cassirer und Habermas, sondern auch Autoren wie Peter Bürger und Siegfried J. Schmidt, die gelegentlich eine allzu wohlwollende oder gar überschwengliche Bewertung erfahren (cf. Friedrich Kittler, S. 259): ein Sprechen pro domo, das augenscheinlich der weitgehenden Nichtbeachtung deutschsprachiger Autoren in einer durch angelsächsische Hegemonie bestimmten scientific community, die oft bestenfalls noch französische Einflüsse gelten läßt, entgegenwirken soll.

Dem Gegenstand des Lexikons entsprechend sind die Artikel nicht immer einfach zu lesen; der Spagat zwischen der notwendigen Wahrung von Komplexität bei der konzisen Darstellung diffiziler Themen und dem Wunsch nach didaktisch geschickter, gefälliger Vermittlung ist in vielen Artikeln erkennbar. Das Ergebnis fällt - bedingt auch durch den unterschiedlichen Schwierigkeitsgrad der einzelnen Themen - unterschiedlich aus. So findet sich neben dem beispielreich, alltagsnah und plastisch erklärten Begriffspaar Ikon/Ikonizität (nun verfügt die Semiotik ja auch über eine reiche Exempelkultur) ein überaus abstrakter Artikel über Hybridität, der von den auch anvisierten Studienanfängern wohl kaum verstanden werden wird. Erfreulicherweise scheuen die Autoren in so manchen Fällen vor zutreffenden, kräftigen Akzentuierungen und profilierten Wertungen nicht zurück (z.B. Virilio als "verkappter Theologe", S. 554). Bei einigen Autorenartikeln wird man allerdings die Frage, ob die Darstellung die Lust auf die Lektüre der vorgestellten Theoretiker wecken könnte, leider verneinen müssen, so im Falle von Aby M. Warburg, dessen faszinierende Themen, Ideen, Konzepte und Dikta wie Denkraum, Schlagbild, Pathosformel, "Der liebe Gott steckt im Detail" oder Festkultur nicht oder nur unzureichend herausgestellt werden. Eher schon als Ermunterung zur Werklektüre kann hingegen der Artikel zu Hans Blumenberg gewertet werden.

Die über eine Vielzahl interner Verweisungen verknüpften Artikel sind gezeichnet (Verzeichnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, S. 583 - 584) und enthalten Hinweise auf weiterführende Literatur (dazu auch Auswahlbibliographie literatur- und kulturtheoretischer Werke, S. 585 - 593), freilich nicht immer in gewünschter Vielfalt (nur zwei Titel zu Habitus, nur einer zum zur Zeit so stark diskutierten philosophischen Konzept der Kontingenz.[2]

Nicht Gegenstand der vorliegenden Besprechung kann die Gefahr sein, die durch die allzu bereitwillige Entgrenzung des Literaturbegriffs und des Diskurses der Kulturwissenschaften droht - u.a. in einer Rezension des vorliegenden Nachschlagewerkes beschrieben als "Anmaßung von Allzuständigkeit, eine Art theoretische Elefantiasis". Aus bibliothekarischer Sicht muß allerdings vermerkt werden, daß dem Wandel der 'Geisteswissenschaften' zu 'Kulturwissenschaften', der anthropologisch umfassenden Perspektive auf Literatur und der programmatischen Erweiterung des Literaturbegriffs, wie sie als Tendenz der letzten Jahrzehnte im vorliegenden Lexikon nahezu in jedem Artikel deutlich werden, kontraproduktive Etatkürzungen in den meisten Bibliotheken gegenüberstehen, die dem durch neuere literaturtheoretische Prämissen und Ansätze ausgelösten Literaturhunger nicht gerecht werden können. Als einer geglückten Kombination von Autoren- und Begriffslexikon dürfte dem vielfältig anregenden, umfassenden und zugleich handlichen Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie ein Platz im unverzichtbaren Informationsbestand einer jeden Universalbibliothek, aber auch jeder größeren öffentlichen Bibliothek sicher sein, bietet es doch eine Schneise durch den Theorie-Dschungel von Alterität über Isotopie und Palimpsest bis zu Xenologie und erläutert somit in der Tat jene Begriffe, die "in den etablierten Lexika der literarischen Terminologie [...] weitgehend unberücksichtigt bleiben" (S. VI).

Werner Bies


[1]
Grundbegriffe moderner Literaturtheorie : ein Handbuch / Jeremy Hawthorn. Übers. von Waltraud Kolb. - Tübingen [u.a.] : Francke, 1994. - (Originalausgabe: A glossary of contemporary literary theory. - London : Arnold, 1992). (zurück)
[2]
Wenigstens der Artikel in Historisches Wörterbuch der Philosophie. - Bd. 4 (1976), Sp. 1027 - 1038 hätte noch erwähnt werden sollen.
Der Kampf kann beginnen / Jörg Lau. // In: Die Zeit. - 98-12-16,52, S. 54. Zugleich wird das Lexikon dort zu Recht gelobt als "eine Studienreform im kleinen". (zurück)

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