Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 7(1999) 1/4
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Präprintium [Medienkombination]


99-1/4-094
Präprintium [Medienkombination] : Moskauer Bücher aus dem Samizdat ; mit Multimedia CD / Günter Hirt ; Sascha Wonders (Hrsg.). - Bremen : Edition Temmen, 1998. - 230 S. : Ill. ; 27 cm + CD-ROM. - (Ausstellungskataloge / Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz ; N.F. 28) (Dokumentationen zur Kultur und Gesellschaft im östlichen Europa ; 5). - ISBN 3-86108-534-8 : DM 48.00
[5009]

Der Titel dieses Ausstellungskatalogs mit CD-ROM erhebt einen Anspruch, den er absolut nicht erfüllt. Samizdat ist ein politisch durch die sowjetische Zensur bedingter und auf kein Fachgebiet begrenzter Begriff. Der Band aber ist fachlich ganz eng begrenzt und widerspricht zu fast 50 Prozent der ursprünglichen Definition des Samizdat.

Der russische Begriff Samizdat ist eine Analogiebildung zu den sowjetischen offiziellen Verlagsabkürzungen wie Gosizdat für Gosudarstvennoe Izdatel'stvo, Staatsverlag, und wäre mit Selbstverlag zu übersetzen. Er stammt aus den vierziger Jahren, als Nikolaj Glazkov (1919 - 1979), einer der nonkonformen Lyriker, einen Ausweg suchte, wie er seine aus politischen Gründen nicht gedruckten Gedichte wenigstens einem kleinen Kreis zugänglich machen könne. Er stellte systematisch Abschriften her und verteilte sie. Da er darin einen Ersatz für einen Buchdruck sah und nicht nur eine private Weitergabe von Kopien, bezeichnete er sein Handeln und die Produkte als Sam-sebja-izdat (Sich-selbst-Verlag/Verleger). Aus diesem Wort entstand etwa ab 1959 der Begriff Samizdat. Die technische Herstellung war meist auf getippte Durchschläge beschränkt, da sich in der Sowjetunion Vervielfältigungsmaschinen nicht in privatem Besitz befinden durften. Die Herstellung von Samizdat-Editionen trug zum Teil durchaus kommerziellen Charakter. Manche Ausgaben blieben auf vom Autor gefertigte, oft auch gebundene, etwa sieben Exemplare beschränkt. Viele dieser aus der Sicht des sowjetischen Staates illegalen Samizdat-Ausgaben gelangten in den Westen, wo in der Breschnewzeit Zentren zur Sammlung solcher Texte geschaffen wurden. Besondere Verdienste hat hier Radio Liberty in München, das auch Kataloge herausgab.[1] Mit der Aufhebung der Zensur endete der Samizdat, vieles ist inzwischen von Verlagen gedruckt worden. Aber die Lust von Autoren, aus ästhetischen Gründen gelegentlich ein Buch besonders schön selbst herzustellen, ist geblieben. Fast 50 Prozent der in dem vorliegenden Ausstellungskatalog verzeichneten Bücher sind in den letzten Jahren ohne Gefahr für den Autor hergestellt worden und keine Folge der sowjetischen Zensur. Sie sind kein Samizdat im Sinne des festgelegten Begriffes.

Der umfassende Titel der neuen in Bochum und Bremen zusammengestellten Ausgabe läßt auf einen Überblick über Samizdat-Ausgaben schließen, man erwartet beispielhafte Bücher aus Politik, Wirtschaft, Literatur, Philosophie, Theologie, Kunst und eventuell auch Hefte der Samizdat-Zeitschriften. Statt dessen ist der Band auf den ganz engen und kleinen Spezialbereich der Sprach- und Bildwerke beschränkt, die gegenwärtig als "postmodern" bezeichnet werden. Dementsprechend sind die zur Zeit von den Herausgebern im Rahmen der deutschen Slawistik propagierten Autoren wie I. Cholin, A. Monastyrskij, L. Rubinstejn, V. Sorokin vertreten, nicht aber Autoren wie A. Achmatova, M. Bulgakov, B. Chazanov, V. Dudincev, A. Sinjavskij (Terc), A. Solcenicyn, die ebenso zum Samizdat gehörten und eine erheblich größere Rolle in der russischen Literatur spielen. Wegen ihrer sehr geringen Bedeutung im Inland bezeichnen Russen die "Postmoderne" als "Literatur für Slawisten".[2]

Der Band geht auf eine Ausstellung zurück, und in Abbildungen aus den wichtigsten der insgesamt 304 Exponate liegt der größte Wert. Einbezogen sind etwa vierzig Autoren und einige künstlerische Gruppierungen mit übersetzten Textauszügen und von den Autoren geschaffenen Illustrationen. Vor allem bei den etwa 50 Prozent, die aus den letzten Jahren stammen und nicht unter Gefährdung der eigenen Freiheit über den Samizdat der Sowjetzeit verbreitet wurden, zeigen die zahlreichen Abbildungen der handgemachten Bücher interessante, in der Tradition der zwanziger Jahre stehende Verbindungen von bildender und sprachlicher Kunst.

Wenn man an Kunst und Literatur geistige Ansprüche stellt und mit Provokation, Spiel und Illustration nicht zufrieden ist, besitzt der Band höchstens Informationswert. Einige Zufallsbeispiele: Kulik/Sorokin: "Matrjona pfurzte schon am Bett als sie aufwachte und als sie aufstant [sic] und als sie den Ofen heizte pfurzte sie immer noch und pfurzte ..." (S. 190). K. Zvezdoèetov: "Ich würde etagenweise, eine nach der anderen, alle großen Städte übereinanderbauen Babylon, Ninive [folgt Liste von etwa 100 Städten]" (S. 145). Vs. Nekrasov: "auch gut : geht auch [nach Abstand und Doppelpunkt darunter] geht auch : auch gut" (S. 57). A. Brener [in sieben Zeilen untereinander]: "Was juckt mich? Mich juckt und macht geil eigentlich nur eins - das Geld" (S. 187). P. Mitjucev: "100 Reime auf das Wort 'Fotze'" (S. 211).

Leider ist das Buch auch als Nachschlagewerk ungeeignet. Es bietet zwar Beschreibungen der Exponate, auch kurze biographische Angaben zu etwa 70 Schriftstellern, aber kein Register. Die Beigabe einer CD-ROM wirkt vielversprechend. Dort sind 27 Projekte von 20 Autoren und zwei Gruppen aufgenommen. Die Abbildungen des Bandes werden wiederholt und ergänzt. Die technischen Möglichkeiten, über ein eingearbeitetes Register mit einem Klick zu den gesuchten Objekten zu gelangen, wurden aber nicht genutzt. Man kann lediglich eine der 27 Dateien aufschlagen und dann - ohne über den Inhalt und die Länge informiert zu sein - Seite um Seite umblättern. Man wird schnell zum Buch zurückgreifen.

Erfreulich ist die ausführliche Einleitung, in der die Schriftkunst der Exponate in einen großen, bei der altrussischen handschriftlichen Buchkunst beginnenden Kontext gestellt und die Verbindung von Schrift und Bild mit den von einigen der Autoren durchgeführten "poetischen Performances" beschrieben wird.

Der Band richtet sich an einen kleinen, spezialisierten Kreis innerhalb der Slawistik und wird diesen wegen hier präsentierter Unikate begeistern.

Wolfgang Kasack


[1]
Weitere grundsätzliche Informationen, auch Hinweise auf Zentren im folgenden Band (Sp. 1073 - 1076):
Lexikon der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts : vom Beginn des Jahrhunderts bis zum Ende der Sowjetära / Wolfgang Kasack. - 2., neu bearb. und wesentlich erw. Aufl. - München : Sagner, 1992. - XVIII S., 1508 Sp. ; 20 cm. - (Arbeiten und Texte zur Slavistik ; 52). - ISBN 3-87690-459-5 : DM 98.00 [1418]. - Rez.: ABUN in ZfBB 39 (1992),6, S. 542 - 543.
Besonders wichtig für den Samizdat ist inzwischen die Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen geworden, wo die Ausstellung im November 1998 an zweiter Station auch gezeigt wurde. (zurück)
[2]
Reference guide to Russian Literature, London 1998, S. 67. - Vgl. IFB 98-3/4-252. (zurück)

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