Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 6(1998) 3/4
[ Bestand in K10plus ]

Reclams Geschichte der antiken Kunst


98-3/4-257
Reclams Geschichte der antiken Kunst / hrsg. von John Board- man. - Stuttgart : Reclam, 1997. - 411 S. : zahlr. Ill. ; 32 cm. - Einheitssacht.: The Oxford history of classical art <dt.>. - ISBN 3-15-010432-7 : DM 148.00, DM 128.00 (Einf.-Pr. bis 28.02.1998)
[4503]

Der Name von John Boardman steht in der Archäologie für Qualität. Für solide und gründliche, stets pragmatische, an den Realitäten erprobte und überprüfbare, in diesem Sinne positivistische, jedenfalls gediegene archäologische Forschung - Boardman ist der Mann für Handbücher und Standardwerke, von denen er inzwischen ja auch nicht gerade wenige vorgelegt hat.[1] Die von ihm 1993 herausgegebene Oxford history of classical art ist bei Reclam nun in deutscher Übersetzung als Reclams Geschichte der antiken Kunst erschienen. Das Buch besteht aus sieben Abschnitten: Aus Boardmans Feder stammen die Einleitung und - natürlich - der Teil über die griechische Klassik (III), außerdem ein das Buch abschließender, kurzer Ausblick über die Verbreitung der griechischen und römischen Kunst in den Gebieten außerhalb von Italien und Griechenland (VII). Der Aufsatz über das vorklassische Griechenland (II) wurde von A. Johnston, der über die hellenistische Kunst (IV) von R. R. R. Smith beigesteuert. Der römischen Republik und Kaiserzeit (V) hat sich J. J. Pollitt angenommen, die Spätantike (VI) bearbeitete J. Huskinson. Sparsame Literaturhinweise, das obligatorische Abbildungsverzeichnis und ein Register stehen ganz am Ende.

Der Aufbau der einzelnen Abschnitte ist im Prinzip immer gleich: einem einführenden Text mit den notwendigen historischen Rahmendaten und der Beschreibung allgemeiner Tendenzen der Epoche folgen - an Lexika erinnernd - zweispaltig angeordnete Abbildungen bedeutender Kunstwerke der jeweiligen Zeit mit dazugehörigen Erläuterungen. Die Mehrzahl der Bilder, deren Qualität tadellos ist, sind schwarzweiß; ihre abschnittsübergreifende Numerierung endet bei Nummer 396. 28 Farbtafeln sind an verschiedenen Stellen im Buch eingefügt.

Die Einführungen können auf den 7 bis 12 Seiten, die sie umfassen, nur grobe Skizzen über die jeweilige Epoche entwerfen. Es sind lediglich Essays unter Ausschluß gelehrter Diskussionen und mit Beschränkung auf die in der Archäologie als Allgemeingut anzusehenden Grundzüge. Anmerkungen gibt es genausowenig wie Lektüreempfehlungen, dafür sind die Texte ohne fachliches Vorwissen leicht lesbar und gut verständlich. Jedes aufgenommene Bild wird kommentiert, wobei auch hier keine über die Allgemeinbildung hinausgehenden Vorkenntnisse vorausgesetzt werden.

Hinter dieser Struktur und den erwähnten Eigenschaften steckt eine Methode, eine sehr sympathische und begrüßenswerte didaktische Absicht, denn die Beschreibungen führen vor allem in die Technik des "archäologischen Sehens" ein. Völlig zwanglos wird der Betrachter auf spezifische Merkmale aufmerksam gemacht, die beschrieben und (zumeist sehr behutsam) gedeutet werden. Wer sein Wissen über antike Kunst aus diesem Buch bezieht, lernt viel aus eigener Betrachtung und kann so nicht nur schon Gelesenes einfach "nacherzählen", sondern das eigene Stilempfinden testen und - unter fachkundiger Anleitung - ausprobieren, was und wie man in der antiken Kunst entdecken und entschlüsseln kann. Erkenntnisse werden tatsächlich anschaulich gewonnen und nicht nur theoretisch vermittelt. Das ist das Geheimnis dieses Buches und macht seinen Reiz aus. In der Archäologie hängt viel vom Anschauen und Vergleichen ab. Der Benutzer wird hier genau dazu ermuntert und wird Erfolgserlebnisse haben. Was will man von einer Einführung mehr erwarten?!

Diese sehr angenehme Eigenart des Handbuches schließt damit freilich andere Benutzungsmöglichkeiten nahezu aus. Hier ist Information über einzelne Kunstwerke und ihre Geschichte, über griechische Vasenmaler oder das römische Porträt nicht für eine schnelle Orientierung aufbereitet und wie im Fachwörterbuch konzentriert zusammengefaßt. Dafür stehen andere Bücher zur Verfügung.

Die Kürze der Beschreibungen und ihr Bemühen, das Erkennen von Wesentlichem abseits jeder detaillierten Spezialforschung zu fördern, muß Fachleute wohl an manchen Stellen auch verwundern, wenn etwa die berühmte Laokoongruppe schlichtweg als großartiges Zeugnis des hellenistischen Hochbarock bezeichnet wird - als gebe es nicht eine jahrzehntelange Diskussion darüber, ob es sich hier um hellenistische oder römische Kunst handelt.

Wir haben es also nicht mit einer stringenten, in sich geschlossenen Abhandlung zur griechischen und römischen Kunstgeschichte zu tun,[2] sondern mit einer Einladung an alle, die erfahren und ausprobieren wollen, was Archäologie, und das heißt hier insbesondere Kunst- und Stilgeschichte, eigentlich ist. Und ganz nebenbei lernt man auch noch die Meisterwerke der antiken Kunst kennen. Alles in allem ein in seiner unprätentiösen Einfachheit absolut professionell konzipiertes Buch - ein echter Boardman eben.

Joachim Migl


[1]
Man denke nur an seine Herausgeberschaft für die Cambridge ancient history, an seine auch auf deutsch erschienenen Klassiker zu griechischen Vasen, zur antiken Keramik, zur griechischen Plastik oder allgemein zur griechischen Kunst. (zurück)
[2]
In der Art der entsprechenden Bände aus der Propyläen-Kunstgeschichte z.B. oder dem ebenfalls von Boardman herausgegebenen Band Griechische Kunst (5. Aufl. - München : Hirmer, 1992) bzw. dem Band Römische Kunst von B. Andreae (Freiburg : Herder, 1973) vergleichbar. (zurück)

Zurück an den Bildanfang