Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 6(1998) 3/4
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Storia della letteratura brasiliana


98-3/4-251
Storia della letteratura brasiliana / Luciana Stegagno Picchio. - Torino : Einaudi, 1997. - XVIII, 751 S. ; 21 cm. - (Biblioteca Einaudi ; 20). - ISBN 88-06-14203-8 : Lit. 54.000
[4547]

Im Turiner Verlag Einaudi, der für Qualität bürgt, erscheint die brasilianische Literaturgeschichte der in Rom und Pisa lehrenden italienischen Lusitanistin[1] und Mediävistin als Neubearbeitung der Letteratura brasiliana von 1972.[2] Luciana Stegagno Picchio ist eine ausgewiesene Kennerin der portugiesischsprachigen Literatur, seit über vierzig Jahren beschäftigt sie sich mit diesem Kulturkreis.

25 Jahre nach der Erstveröffentlichung wurden nicht nur die letzten Kapitel völlig neu geschrieben, sondern auch die übrigen Kapitel komplett überarbeitet und bibliographische Quellen neueren Datums unter besonderer Berücksichtigung der italienischen Publikationen ergänzt.

In der Tradition italienischer Literaturgeschichtsschreibung steht auch der vorliegende Band als solides Hilfsbuch für das literaturwissenschaftliche Studium. Angesichts der geringen Bedeutung, die in Italien bis zum heutigen Tage die Lusitanistik, deutlicher noch die Brasilianistik besitzt (abgesehen von den Vermittlungsbemühungen von A. Tabucchi), muß jedoch die Frage nach der eigentlichen Zielgruppe der Literaturgeschichte gestellt werden. Obwohl das Nachschlagewerk wissenschaftlichen Kriterien gehorcht, ist es auch für eine allgemein an der brasilianischen Literatur interessierte Leserschaft geeignet, von der nicht vorausgesetzt wird, daß sie tiefergehende Kenntnisse der portugiesischen Sprache besitzt. (Die Werktitel und Zitate werden zweisprachig, also auch in italienischer Übertragung, angegeben.) Wie U. Serani, der den bibliographischen Anhang der Literaturgeschichte zusammenstellte, in seiner Rezension betonte: "Pulito nello stile, ricerato nel vocabolario, ossessivamente corretto nella citazione, questo manuale diventa ben presto semplicemente un libro che si legge per il gusto della letteratura...".[3] Es bleibt zu hoffen, daß das vorliegende Werk für die Rezeption brasilianischer Literatur in Italien befruchtend wirkt.[4]

Periodisierung und inhaltliche Gewichtung

Da die Literaturgeschichte der Feder einer einzigen Wissenschaftlerin entstammt, ist hier eine ausgewogene Gewichtung einzelner Strömungen, Autoren und Epochen eher zu erwarten als in den heute so beliebten Sammlungen von Einzelstudien zahlreicher Verfasser mit unterschiedlichem wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse. In der Auswahl der bibliographischen Quellen zu einem Thema sucht die Autorin durchaus der Komplexität unterschiedlicher Forschungsansätze Rechnung zu tragen, dennoch ist eine formale und inhaltliche Stringenz des Textes gewährleistet.

In einem Eingangskapitel stellt Stegagno Picchio Brasilien als Gegenstand und Subjekt von literarischen Gattungen und poetischen Strukturen vor. Unter thematischen Gesichtspunkten erläutert sie charakteristische Literaturzyklen (L'indio, il negro, la cana da zucchero, la seca, il sertĈo, l'Amazzonia, la letteratura di cordel, la letteratura della città), das Kapitel La questione della lingua entspricht der italienischen Sichtweise. Im Anschluß daran folgt die traditionelle Kapitelgliederung nach Epochen, beginnend mit der Kolonialzeit. Der Kulturtransfer wurde in Brasilien durch die Jesuiten geleistet, die wichtigsten Vertreter Nóbrega und Anchieta werden gewürdigt. Der typisch brasilianischen Gattung der kolonialen Sachbücher über Brasilien mit ökonomischen Beschreibungen wird ebenfalls Rechnung getragen.

Das Schwergewicht legt die Autorin eindeutig auf die Behandlung des 19. Jahrhunderts (S. 142 - 350). Literarische Strömungen Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts versucht sie durch den aus dem Italienischen entlehnten Crep£sculo-Begriff zu charakterisieren (La poesia dal Parnaso al Crepusculo, S. 249 ff., La prosa dal Parnaso al Crepusculo, S. 371 ff.), der insofern fragwürdig erscheint, als er in der brasilianischen Literaturgeschichtsschreibung nicht üblich ist. Das Kapitel über den Modernismo folgt der klassischen Einteilung (Gli anni dell'avanguardia (1922 - 30); 1930-45. Stabilizzazione della coscienza creatrice nazionale).

Neu in der Darstellung des 20. Jahrhunderts ist der Verzicht auf eine zeitliche Zäsur für die Phase der Militärherrschaft 1964 - 1984[5] zugunsten einer durchgängigen Darstellung: 1964-96: Dagli anni del golpe alla fine del secolo bis zur Gegenwart. Begrüßen muß man das Kapitel über die Musica erudita e musica popolare, da die Texte brasilianischer Chansonsänger zur Lyrik zu zählen sind. Das Theater (Un teatro di esportazione per il Brasile: 1943-96) wurde als Sondergattung zusammengefaßt und erhielt insgesamt (S. 644 - 653) gegenüber den Prosa- und Lyrikabschnitten zu wenig Raum. Die bekanntesten Theaterautoren Nélson Rodrigues und Jorge Andrade werden zwar herausgestellt, Produktionen anderer Autoren früherer Jahre jedoch nicht erwähnt. Unterhaltungsliteratur (z.B. Paulo Coelho) wurde aufgenommen, man vermißt jedoch ein Kapitel über die brasilianische Telenovela. Der Tatsache, daß die brasilianische eine der frauenreichsten Literaturen ist, wurde neben der Einzelwürdigung der Prosaschriftstellerin Clarice Lispector in den Kapiteln Poeti donne (S. 623) und Le scrittrice (S. 607) Rechnung getragen.

Bibliographische Hinweise und Register

Der Text und die bibliographischen Quellen sind gut erschlossen. Der von U. Serani besorgte Index der Autoren und historischen Personen (S. 725 - 751) kennzeichnet Hauptfundstellen durch Fettdruck, Hinweise auf die Bibliographie durch Kursivdruck. Die Namensansetzungen folgen selbstverständlich den portugiesisch/brasilianischen Konventionen, Verweisungen erfolgen nur bei Pseudonymen, in einigen Fällen auch vom ersten Namen auf den ordnenden zweiten Namen, wie im Falle von Machado de Assis (1839 - 1908): Assis, Machado de, nicht aber, wie in angloamerikanischen Publikationen häufig üblich, bei Autoren wie GuimarĈes Rosa. Ein Glossar brasilianischer Begriffe (S. 715 - 721) dient der Erläuterung für nicht Portugiesischkundige. Der bibliographische Anhang (S. 678 ff.) gliedert sich in Bibliografia generale (S. 678 - 697), Bibliografía sommaria in lingua italiana (S. 699 - 704) und Traduzioni italiane di opere letterarie (S. 705 - 712). Eine kommentierende Würdigung der nur mit Titel und Erscheinungsjahren in der Bibliografia generale (S. 692 - 697) aufgeführten literarischen Zeitschriften wäre wünschenswert gewesen. Eine relativ ausführliche (ca. 10seitige) Bibliographie im Anschluß an jedes Kapitel liefert neben Angaben zu den Lebensdaten des Autors eine Werkbibliographie und Sekundärliteratur. Kleine Fehler lassen sich kaum vermeiden: das Geburtsdatum von Patrícia Melo (1963), bekannt durch den Roman O matador, wird im Text (S. 610) korrekt wiedergegeben, in der Bibliographie (S. 639) taucht jedoch eine falsche Angabe (1955) auf. Lücken im Kanon jüngerer Autoren sind im allgemeinen vertretbar, vielleicht hätte JoĈo Silvério Travisan (geboren 1944), der seit 1976 als Romanautor veröffentlicht (zuletzt Ana em Veneza, 1994) und mit dem Preis der Kritikervereinigung von SĈo Paulo und dem Jabuti-Preis ausgezeichnet wurde, namentlich erwähnt werden können.

Regine Schmolling


[1]
Vgl. auch ihre literaturgeschichtliche Studie Profilo della letteratura brasiliana / Luciana Stegagno Picchio. - Roma : Editori Riuniti, 1992. - XIV, 176 S. - ISBN 88-359-3560-1 und die ins Französische übertragene Studienausgabe La littérature brésilenne / Luciana Stegagno Picchio. - 1. ed. - Paris : Presses Universitaires de France, 1981. - 127 S. - (Que sais-je? ; 1894). - ISBN 2-13-036706-8.
Sinnvoller für den Bestandsaufbau deutscher wissenschaftlicher Bibliotheken ist die brasilianische Ausgabe, die inzwischen erschienen ist: História da literatura brasileira : do descobrimento aos dias de hoje / Luciana Stegagno Picchio. - Ed. bras. rev. - Rio de Janeiro : Nova Aguilar, 1997. - 744 S. - ISBN 85-210-0035-9 : R$ 67.00. (zurück)
[2]
La letteratura brasiliana / Luciana Stegagno Picchio. - Firenze : Sansoni [u.a.], 1972. - 696 S. - (Le letterature del mondo ; 42). (zurück)
[3]
Il portoghese, l'indio e il brasiliano / di Ugo Serani. // In: L'indice dei libri del mese. - 14 (1997),9, S. 47. (zurück)
[4]
Auch in Deutschland gibt es bisher keine umfassende, epochenübergreifende brasilianische Literaturgeschichte. Vgl. die folgenden Einzelstudien zum 20. Jahrhundert:
Brasilianische Literatur der Zeit der Militärherrschaft (1964 - 1984) / Dietrich Briesemeister ; Helmut Feldmann ; Silviano Santiago (Hrsg.). - Frankfurt am Main : Vervuert, 1992. - 399 S. : graph. Darst. - (Bibliotheca Ibero-Americana ; 47). - ISBN 3-89354-547-6.
Moderne brasilianische Literatur (1960 - 1990) : Essays zu neuen Werken brasilianischer Autoren / Albert von Brunn. - Mettingen : Brasilienkunde-Verlag, 1997. - 133 S. - (Aspekte der Brasilienkunde ; 16). - ISBN 3-88559-067-0.
Brasilianische Literatur / hrsg. von Mechthild Strausfeld. - Frankfurt a.M. : Suhrkamp, 1989. - 401 S. - (Suhrkamp-Taschenbuch ; 2024: Materialien).
In englischer Sprache behandelt die Cambridge history of Latin American literature in Bd. 3 (1996) die brasilianische Literatur unter Beigabe einer umfangreichen Bibliographie. - Vgl. IFB 97-3/4-342. (zurück)
[5]
Vgl. Brasilianische Literatur der Zeit der Militärherrschaft in der vorhergehenden Fußnote. (zurück)

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