Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 6(1998) 3/4
[ Bestand in K10plus ]
[ Bestand in K10plus ]
[ Bestand in K10plus ]

Goethe-Handbuch


98-3/4-242
Goethe-Handbuch : in vier Bänden / hrsg. von Bernd Witte ... - Stuttgart ; Weimar : Metzler. - 25 cm. - ISBN 3-476-00923-8
[3628]
Bd. 4. Personen, Sachen, Begriffe / hrsg. von Hans-Dietrich Dahnke ...
1. A - K. - 1998. - XVII, 644 S. - ISBN 3-476-01446-0 : DM 198.00, DM 168.00 (Subskr.-Pr.)
2. L - Z. - 1998. - XVII S., S. 645 - 1270. - ISBN 3-476-01447-9 : DM 198.00, DM 168.00 (Subskr.-Pr.)

Nach erstaunlich kurzer Zeit liegt das neue Goethe-Handbuch, abgesehen von einem angekündigten Gesamtregister, abgeschlossen vor. Das Urteil der Kritik zu den Bänden 1 - 3, die den literarischen Gattungen gewidmet sind, ist zu Recht im allgemeinen positiv ausgefallen.[1] Besondere Neugier weckt indes der vierte Teil des Unternehmens, der in einer Folge alphabetisch geordneter Artikel über "Personen, Sachen, Begriffe" informiert und auch als selbständiges Hilfsmittel ohne die anderen Bände benutzt werden kann. Er stellt im engeren Sinne die Neufassung der älteren Ausgaben des Goethe-Handbuches dar, von dessen zweiter, von Alfred Zastrau im selben Verlag herausgegebenen Auflage leider nur zwei der vier geplanten Bände erschienen waren.[2] Der Zastrau war mit seinen vielen Stichwörtern ganz lexikalisch-mikrologisch angelegt, ungemein detailverliebt, und galt zu Recht als das beste Nachschlagewerk zu allen Goethe betreffenden Problemen, Personen, Orten und Sachen. Dagegen also hatte die Neukonzeption aufzukommen. In einer heute üblichen Art wird versucht, die Menge der Artikel durch enzyklopädische Zusammenfassung der Einträge geringer zu halten. Immerhin sind es noch gut 400 geworden, die von über 100 Verfassern stammen. Wie bei einem solchen Sammelwerk nicht anders möglich, stehen da vorzügliche und lesenswerte Artikel neben weniger geglückten.

Allzuoft drängt sich aber der Eindruck des Zufälligen auf: Die Beiträge zu Gelegenheitsdichtung (falsch eingeordnet nach Geoffroy Saint-Hilaire) und Idylle wären besser in den werkbezogenen Bänden aufgehoben. Das ganze Lemma Subjekt/Objekt hätte sich mit ein paar Sätzen dem Artikel Erkenntnis integrieren lassen. Die Bildende Kunst begegnet unter zahlreichen Einträgen, aber - man reibt sich die Augen! - das Theater kommt nicht vor. Hier im vierten Band, wo sie am nötigsten gewesen wäre, ist von der ordnenden Hand der Redaktion am wenigsten zu spüren, weder bei der Abstimmung des begrifflichen Thesaurus noch bei der bibliographischen Kontrolle (Albrecht Schönes bekannte Studien Götterzeichen, Liebeszauber, Satanskult etwa werden nonchalant nach der Ausgabe von 1982 statt nach der 3. Aufl. von 1993 zitiert), schon gar nicht bei der Verteilung des Stoffes und bei den Registern. Wenn Carl August, irritiert durch die Politik Kaiser Josephs II. nach dem Erlöschen der bayrischen Linie der Wittelsbacher gegen Goethes Rat sich auf das Gewirr der Fürstenintrigen einläßt und rastlos zu Franz von Dessau oder Karl Friedrich von Baden reist, sich bald nach Berlin oder Mainz begibt, dann ist bald der eine, bald der andere Gesprächspartner bzw. Ort indexwürdig. Mailand wird registriert, wo Goethes Besichtigung des "Abendmahls" von Leonardo erwähnt wird, aber nicht, wo - wesentlich ausführlicher - über die von ihm unterstützten Bemühungen seines Herzogs um einen politisch-kulturellen Austausch zwischen der lombardischen Stadt und Weimar sowie über die Kontakte des Dichters zu der Mailänder Tageszeitung L'Eco berichtet wird.

Wirkungsgeschichte, meist eingeschränkt auf die frühe Goethe-Rezeption, findet man verstreut unter den Artikeln zu Literaturbeziehungen und Übersetzung. Ein Beispiel für die fehlende Konturierung: Hugo von Hofmannsthals anlaßbedingte Äußerungen zu Goethe werden verschiedentlich erwähnt, nichts aber liest man über die bewußt gesuchte Goethe-Nähe des österreichischen Dichters, mag sie sich nun in hunderten von versteckten Zitatanspielungen oder gar in Imitationen - etwa der Kurzverse aus dem Faust am Ende der Operndichtung Die Frau ohne Schatten - manifestieren.

Manches kommt mehrfach vor und bleibt trotzdem unvollständig: Goethe als Jurist - wie malgré lui auch immer er das gewesen sein mag - wird dem Leser in den zwei Artikeln Juristische Tätigkeit und Studium von verschiedenen Verfassern unter durchaus wichtigen Aspekten vorgestellt. In beiden Texten aber findet sich kein Hinweis auf die subtile Korrespondenz, die Goethes Anschauungen zum Recht, insbesondere zu dessen Wandel, mit seinen Vorstellungen über Veränderungen in der Natur verbindet. Vor Jahrzehnten schon hatte der Rechtsphilosoph und Strafrechtler Gustav Radbruch darauf aufmerksam gemacht.[3]

Auch bei der Erschließung wichtiger biographischer Bezüge versagt das Werk zuweilen. Natürlich gibt es - um die Beispiele nur aus einem Bereich zu nehmen - Einträge zu Lili Schönemann, Ulrike von Levetzow usw. Aber warum wird die Leipziger Jugendliebe Anna Katharina ("Käthchen") Schönkopf , deren Spuren in der dem Autodafé von 1768 entgangenen Gedichtsammlung Annette oder in dem Stück Die Laune des Verliebten allenthalben zu finden sind, mit einer Asylstelle im Artikel Sexualität abgespeist? Erfreulich, daß mit Gero von Wilperts Goethe-Lexikon (s.u. IFB 98-3/4-243) fast zeitgleich ein gerade entgegengesetzt konzipiertes Nachschlagewerk herausgekommen ist, das zur Recherche nach Details vorzüglich taugt.

Ans Ridiküle streift die Art, wie die Beziehung zu Charlotte von Stein dargestellt wird. Da wartet der kurze Artikel Liebe mit der Trivialität auf, "gerade an Charlotte von Stein ... wird man bei diesem Thema zuallererst und zurecht denken". Im biographischen Eintrag wird das traditionelle Bedürfnis nach Hagiographie bedient, denn dort reagiert die Geliebte auf Goethes "ungestüme Liebe" mit "kühler Selbstdisziplin und Tugendhaftigkeit" und läßt beide "in enger seelischer und geistiger Gemeinschaft" leben. Unter dem Stichwort Sexualität wird der Voyeur mit der Mitteilung versorgt, daß die "Aufnahme körperlich-sexueller Beziehungen" im März 1781 erfolgt sein dürfte. Ein bißchen viel Pluralismus in ein und demselben Band! Dafür fehlt ein Artikel "Erotik" von kommensurabel gebündelter Perspektivik. In das Spannungsverhältnis zwischen Erkenntnis und Ethik hätte das launische Spiel des Alphabets die "Erotik" zu stehen gebracht: nur eine der Chancen, die bei der Metamorphose des Handbuchs von der lexikalischen Atomisierung zu enzyklopädischen Sinnbezügen leichtfertig vertan worden sind.

Hans-Albrecht Koch


[1]
Vgl. u.a. IFB 97-1/2-136 und 98-1/2-092. (zurück)
[2]
Bd. 1 (1961) und Bd. 4 (1956). (zurück)
[3]
Die einschlägigen Beiträge sind jetzt alle zu finden in: Gesamtausgabe / Gustav Radbruch. Hrsg. von Arthur Kaufmann. - Heidelberg : C. Müller. - Bd. 5. Literatur- und kunsthistorische Schriften / bearb. von Hermann Klenner. - 1997. (zurück)

Zurück an den Bildanfang