Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 6(1998) 3/4
[ Bestand in K10plus ]

Harenberg-Literaturlexikon


98-3/4-231
Harenberg-Literaturlexikon : Autoren, Werke und Epochen, Gattungen und Begriffe von A bis Z / [Idee und Konzeption: Bodo Harenberg]. - Vollst. überarb. und aktualisierte Sonderausg. von "Harenbergs Lexikon der Weltliteratur" in 5 Bd. - Dortmund : Harenberg, 1997. - 25 cm. - ISBN 3-611-00539-8 : DM 98.00
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Schon das Impressum wartet mit einer Irreführung auf, die ihresgleichen sucht - selbst in einer Zeit, da die altmodisch einmal sogenannten "verlegerischen Tugenden" sich vielfach in Marketing-Qualitäten verkehrt haben, mit denen man Katzenfutter oder fast food verkaufen kann, aber keine Bücher "machen" sollte. Heißt es doch dort tatsächlich: "Vollständig überarbeitete und aktualisierte Sonderausgabe von Harenbergs Lexikon der Weltliteratur[1] in fünf Bänden." Wie soll, wer nicht vergleicht, dabei auf die Idee kommen, daß "vollständig überarbeitet" in diesem Kontext bedeutet: um etwa zwei Drittel gekürzt? Die Resultate des wahllosen Zusammenschneidens muten grotesk an: Auf den Eintrag zu Hermann Peter Piwitt folgt der Artikel zu dem Prosatext Platero y yo des spanischen Autors Juan Ramón Jiménez. Für August von Platen ist kein Platz dazwischen übriggeblieben. "Ausgewählt" wurden - so ein anbiedernd "An den Benutzer" überschriebener Vorspann - "vor allem Autoren, von denen Veränderungen oder Erneuerungen ausgegangen sind bzw. deren Schaffen eine nachhaltige Wirkung hatte": Platens in der deutschen Literaturgeschichte nie wieder erreichte Kunst des Ghasels etwa reicht zur Erfüllung dieser Kriterien wohl ebensowenig wie seine Nachwirkung bei Schopenhauer, Thomas Mann oder Hubert Fichte. Wer sich nun gar über das Ghasel unterrichten wollte, könnte das anhand des einbändigen Ausgabe nicht tun, sondern müßte zum zweiten Band der Originalausgabe greifen, wo der Eintrag (freilich mit Verweisung von "Ghazel") unter der gelehrten Transkription Gazal steht. (Das ist quasi der Ausgleich dafür, daß man Werktitel nie unter der originalsprachlichen Formulierung suchen darf, sondern immer unter dem Übersetzungstitel nachschlagen muß. Dergleichen gehört zu den zahllosen Ungereimtheiten, mit denen das Werk von Anfang an befrachtet war.

Aber wo man auch bei in der Neuvermarktung Stehengebliebenen hingreift, vor unangenehmen Überraschungen ist man nirgendwo sicher: Unter den (immer in knappster Form mit Initiale und Jahr) gebotenen Literaturangaben fehlen bei Ovid z.B. ausgerechnet die Übersetzungen der Amores und der Metamorphosen von Michael von Albrecht, die derzeit den besten Zugang zum Werk des Römers vermitteln.[2] Ein Blick auf die Titelangaben zu Platon: die alte Monographie von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff wird angeführt; natürlich Karl Poppers Angriff auf Platon als Befürworter des politischen Totalitarismus, aber nach einem Hinweis auf die Arbeiten Konrad Gaisers oder Hans Joachim Krämers zur ungeschriebenen Lehre Platons sucht man vergebens. Sollen sie doch eine Revolution des Platon-Bildes ausgelöst haben - wozu das einem Benutzer mitteilen? Hier wie so oft wird die Dürftigkeit der Textinformationen durch Bilder kaschiert, diesmal durch einen Ausschnitt aus Raffaels "Schule von Athen".

Zuweilen bekommen wir fiktive bibliographische Hinweise, etwa auf angeblich 1972 erschienene Sapphostudien von Wolfgang Schadewaldt, dessen bereits 1950 erschienenes Sappho-Buch[3] freilich nicht erwähnt wird.

Noch ein Blick auf die antike Literatur: Da erfahren wir, daß die Übersetzung der Odyssee durch den eben erwähnten Altphilologen Schadewaldt 1958 unter dem Titel Odyssee erschienen ist. Ja, wie denn sonst? Doch im 20. Jahrhundert nicht mehr in der deutschen Version von Johann Heinrich Voß als Odüssee. Mitgeteilt wird aber nicht, daß es sich bei dieser vor 40 Jahren herausgekommenen Übersetzung um die erste vollständige Prosaübersetzung handelt. Unterschlagen wird die hexametrische Übersetzung von Roland Hampe, die nicht weniger bedeutsam ist als seine im entsprechenden Werkartikel verzeichnete deutsche Ilias-Übertragung. Beide sind Meilensteine auf dem Weg zu einem deutschem Homer gewesen: Hat doch der im Anschauen der Sachen geübte Archäologe Hampe mit manchen fehlerhaften Sprachbildern aufgeräumt, so z.B. Homers "geflügelte Worte" endlich als das wiedergegeben, was sie waren: "gefiederte Worte" nämlich, die pfeilgleich fliegen, und hat Hampe doch mit seiner Arbeit die These seines Vorgängers Schadewaldt widerlegt, Homer in deutsche Hexameter zu übersetzen, sei schlechterdings unmöglich, weil der deutsche Vers mit dem Gedanken regelmäßig zum Ende komme, ehe die Zahl der Versfüße erreicht sei, wogegen man sich nur mit ärgerlichen Füllwörtern in Art von Vossens "traun, fürwahr" behelfen könne.

Zu anderem: Wäre die kommentierte Edition von Goethes Faust durch Albrecht Schöne in der Frankfurter Goethe-Ausgabe des Deutschen Klassiker-Verlags nicht Grund genug gewesen, die Bibliographie zu diesem Artikel wenigstens um einen Titel zu aktualisieren, der nach 1984 erschienen ist? Der österreichische Gegenwartsautor Christoph Ransmayr hat, nach der Harenbergschen "Aktualisierung" zu schließen, zuletzt den in alle großen Sprachen übersetzten Roman Die letzte Welt geschrieben; sein jüngster Roman Morbus Kitahara, der in der Kritik immerhin eine heftige Auseinandersetzung um die Zulässigkeit von Vergangenheitsbewältigung im Medium schöner Sprache ausgelöst hat, ist nicht zu finden; von dem Dutzend Literaturpreise, die dieser Autor erhalten hat, ist einzig derjenige der Bayerischen Akademie der Schönen Künste erwähnt, nicht z.B. der Aristeion-Preis, der ihm gemeinsam mit Salman Rushdie 1997 verliehen wurde. So oder ähnlich ließe sich seitenlang fortfahren, und zwar beliebig: Bei Stefan Zweig fehlt die Standard-Biographie von Donald Prater; weder zu Dante noch zur Göttlichen Komödie wird die bis heute lesbarste deutsche Übersetzung von Karl Vossler angeführt noch die wegen ihres Kommentars unentbehrliche von Hermann Gmelin.

Im allgemeinen hätte für eine Aktualisierung schon der kritische Abgleich der hier noch einmal veröffentlichten Artikel mit dem Text solider gearbeiteter Literaturlexika genügt. Aber dazu hat es wohl an der Zeit gefehlt - wie seinerzeit, als die fünfbändige Erstausgabe den Wettlauf mit Walther Killys Literaturlexikon durch viele bunte Bildchen, chronologische Tabellen und ähnlichen Schnickschnack gewinnen sollte. Daß es sich bei dem von Matthias Claudius redigierten Wandsbecker Bothen nicht um eine "Lokalzeitschrift" gehandelt hat, sondern um eine ganz normale Zeitung, die sich von anderen nur durch die verständig und kennerhaft aufgemachte "Feuilletonseite" unterschied, hat der Herausgeber der Faksimile-Edition des Wandsbecker Bothen bereits 1989 anläßlich einer Zeitungsbesprechung der fünfbändigen Ausgabe moniert. Aber wo käme man beim vielen Aktualisieren auch hin, wenn man solche Korrekturen aus der Kritik berücksichtigen wollte? Da bleibe ja gar keine Zeit mehr für Marketing und Verkauf. Man sollte daher auch gar nicht erst wünschen, daß der Ausdruck "Kommödie" (Etymologie von "Kommode"?) im Eintrag zu Aristophanes korrigiert werden möge, sondern darauf hoffen, daß die einbändige Ausgabe ganz schnell dort landet, wo auch schon die fünfbändige ihr Ende gefunden hat: auf möglichst vielen Ramschtischen, damit dieses Skandalon bald ausverkauft ist und keinen weiteren Schaden mehr anrichten kann. Bibliotheken können durch ihre Entscheidung gegen den Ankauf dabei mithelfen.

Hans-Albrecht Koch


[1]
Harenbergs Lexikon der Weltliteratur : Autoren, Werke, Begriffe. - Dortmund : Harenberg, 1989. - Bd. 1 - 5 ; 25 cm. - ISBN 3-611-00091-4 : DM 598.00, DM 498.00 (Subskr.-Pr. bis 31.3.1991) [1081]. - Rez.: ABUN in ZfBB 37 (1990),2, S. 159 - 161. (zurück)
[2]
Diese deutsche Version der Metamorphosen hat auch Christoph Ransmayr dem "Ovidischen Repertoire" seiner Letzten Welt zugrundegelegt. (zurück)
[3]
Sappho : Welt und Dichtung ; Dasein in der Liebe / Wolfgang Schadewaldt. - Potsdam : Stichnote, 1950. - 191 S. : Ill. (zurück)

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