Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 6(1998) 1/2
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Aufklärung in Zürich


98-1/2-023
Aufklärung in Zürich : die Verlagsbuchhandlung Orell, Gessner, Füssli & Comp. in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ; mit einer Bibliographie der Verlagswerke 1761 - 1798 / Thomas Bürger. - Frankfurt am Main : Buchhändler-Vereinigung, 1997. - Sonderdr. aus: Archiv für Geschichte des Buchwesens. - 48 (1997). - ISBN 3-7657-2033-X : DM 198.00
[4627]

In demselben Jahr, in dem die Neubearbeitung des Lexikons für das gesamte Buchwesen[1] bei der Lfg. 38 - mit einem knapp einspaltigen Artikel über die Orell Füssli AG - angelangt war, erschien die vorliegende Publikation, die nur einen kurzen Abschnitt aus der Entwicklung dieses Verlagshauses ausführlich beschreibt. Die Herausgabe einer Verlagsgeschichte und einer Verlagsbibliographie bedarf keiner Rechtfertigung. In der Regel wird sie von allen Interessierten als Bilanz einer verlegerischen Leistung, als ein Stück Kulturgeschichte vergangener Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, anerkannt und gewürdigt. Den Nutzen haben nicht nur Liebhaber alter Bücher, sondern auch die Bibliothekare und vor allem die Bibliographen, denn hier finden sie oftmals Angaben zu raren Publikationen, die niemals Eingang in die nationalbibliographischen Verzeichnisse (bzw. ihre Surrogate) gefunden haben.

Ein noch heute bestehender Verlag mit jahrhundertelanger Tradition darf sich glücklich schätzen, wenn er einen Bearbeiter seiner Geschichte findet, der in der Lage ist, einen einigermaßen geschlossenen Rückblick zu präsentieren. Die meisten Historiographen großer Verlage sind mit einer Quellenlage konfrontiert, die sie eigentlich sehr bald zur Aufgabe ihrer Absichten bewegen müßte. Dennoch gibt es zahlreiche Beispiele für gut recherchierte Verlagsgeschichten, denen kein erhalten gebliebenes Verlagsarchiv als Rückgrat dienen konnte. Man denke nur an die vorbildliche Darstellung von R. Wittmann über den Metzler-Verlag.[2]

Die Geschichte der Verlagsbuchhandlung Orell, Gessner, Füssli & Comp. in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kann zunächst als ein weiteres Beispiel für eine gelungene Verlagsgeschichte trotz ungünstiger Ausgangsposition gelten. Dennoch wirft sie verschiedene Fragen auf. Warum ist die noch heute renommierte Orell Füssli AG in Zürich ohne erkennbaren Einfluß auf die Darstellung dieses Ausschnitts ihrer Wirkungsgeschichte geblieben? Warum wurde eine so außerordentlich kurze Zeitspanne (verglichen mit der über 475jährigen Tradition der Firma) für die Untersuchung ausgewählt? Von welchem Nutzen kann eine Verlagsbibliographie sein, die 38 Jahre aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dokumentiert?

Die Antworten finden sich nur zum Teil in der Einleitung. "Beabsichtigt ist keine Firmenschrift ...", es handele sich vielmehr um einen "Beitrag zur historischen Topographie der Aufklärung", der hier als "Überarbeitete Fassung der Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster von 1989" vorliegt. Kurioserweise ist die Dissertation bibliographisch nicht nachweisbar, so daß ein Vergleich der Fassungen entfallen muß. Mit dem Namen des Verfassers verbindet man neben etlichen Beiträgen zur Buchgeschichte die 1988 übernommene Bearbeitung der Bibliographie Deutsche Drucke des Barock 1600 - 1720.[3]

Der Autor scheint den Wert seiner Untersuchung selbst einschränken zu wollen, wenn er erläutert: "Der Versuch, die Verlagsproduktion unter dem zeitgenössischen Leitgedanken der 'Aufklärung' vorzustellen, sollte nicht dazu verleiten, post festum ein aufklärerisches oder antiaufklärerisches Verlagsprogramm zu postulieren. Vielmehr lassen sich anhand der 667 in der Bibliographie verzeichneten Ausgaben Tendenzen und immanente Widersprüche der Aufklärung, eine große formale und inhaltliche Vielfalt und schließlich das Nebeneinander von guter und schlechter, wegweisender und ephemerer Literatur ablesen" (S. 13). Die Bibliographie der Verlagswerke umfaßt einschließlich Vorbemerkungen und Register die Seiten 178 bis 248. Die Titelaufnahmen erfolgten "in Anlehnung" an die PI und sind "bis auf wenige Ausnahmen nach Autopsie der Werke angefertigt" (S. 178), wobei im wesentlichen auf die Bestände der Zentralbibliothek Zürich (mehrheitlich) und der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel zurückgegriffen wurde. Die bibliographische Beschreibung ist ausführlich und nur im üblichen Umfang um Motti und längere Zusätze zum Sachtitel gekürzt. Sie ist erweitert u.a. um die Angaben der benutzten zeitgenössischen Quellen (Meßkataloge, Verlagsverzeichnisse) und der ermittelten Preise (zeitgenössisch und aus Russells Gesammt-Verlags-Katalog). Bedeutend vermehrt wird der Wert der Bibliographie noch dadurch, daß auf zeitgenössische Rezensionen hingewiesen wird, wenn auch - wie nicht anders zu erwarten - "ohne Anspruch auf Vollständigkeit".

Zur Anlage der Bibliographie ist zu erfahren, sie sei "chronologisch und innerhalb der Chronologie alphabetisch angeordnet. Werke, die über einen längeren Zeitraum erschienen, sind dem jeweils ersten Erscheinungsjahr zugeordnet." Daß jedoch das im letzteren Satz ausgedrückte Prinzip die einfache Logik des ersteren auszuhebeln im Stande sein soll, wird nirgendwo beschrieben, geschweige denn begründet. Und so ist es denn - jedenfalls nach dem ersten Augenschein - nur schwer zu begreifen, warum für den leicht überschaubaren Berichtszeitraum von nur einem Jahr auf eine alphabetische Anordnung der Ordnungsworte ein Anhang mit willkürlich nachgeordneten weiteren Titeln folgen muß. Für die Jahre 1771 und 1795 sind es gar acht Titel, die sich der alphabetischen Einordnung unter ihrem ersten Ordnungswort entziehen. Erst bei genauerem Hinsehen wird man gewahr, daß sich ein weiteres Ordnungsprinzip eingeschlichen hat, das man zwar erkennen, aber doch kaum billigen kann. Mehrbändige Werke werden, wenn sie nicht innerhalb eines Jahres erschienen sind, numerisch nach ihren Erscheinungsjahren als dem (verborgenen) ersten Ordnungselement sortiert! So ergibt sich z.B. für 1795 folgende Ordnung: FISCH, Johann Georg; GESSNER, Salomon; ...; MEISTER, Jakob Heinrich; MEISTER, Leonhard; MILBILLER, Josef; WOLF, Peter Philipp; [1795 - 96] EGGERS, Christian Ulrich Detlev von; [1795 - 96] HENDRICH, Franz Josias von; [1795 - 96] RAHN, Johann Heinrich; [1795 - 97] BETTAGSOPFER; [1795 - 97] BRONNER, Franz Xaver; [1795 - 97] MEINERS, Christoph; [1795 - 97] SARTORI, Joseph von; [1795 - 1801] BRUN, Sophie Christiane Friederike. Diese unkomfortable Anordnung wird durch ein Alphabetisches Verzeichnis der Autoren und Titel (mit Übersetzern, Herausgebern, Illustratoren, Praesides u. Respondenten) (S. 237 - 248), zum guten Teil wieder ausgeglichen. Doch auch das hat wieder seine Tücken, weil es sich z.B. in der Anordnung der Sachtitel mal mehr, mal weniger an die PI anlehnt. So findet man den Titel Kurze Anweisung für das Landvolk ... nicht unter Anweisung kurze, sondern unter Anweisung für das Landvolk und eine Kurze Anweisung zur griechischen Sprache ... unter Anweisung zur griechischen Sprache, Kurze.

Das Verzeichnis will keinen "Anspruch auf Vollständigkeit erheben" (S. 178), und das kann auch niemand erwarten. Es ergab sich schon aus einer einzigen Stichprobe nach dem Zufallsprinzip, daß ein weiterer Titel nachzutragen sein wird. Im Stuttgarter Online-Katalog findet man durch Kombination von Verlag (Orell) und Jahr (1761 - 1798) u.a. den Nachweis des Titels Marcus Antonins Betrachtungen über seine eigensten Angelegenheiten / aus d. Griech. übers. von J. G. Schultheß. - Zürich : Orell, Geßner & Fueßlin, 1779. - VIII, 204 S., vorhanden in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Es kann sich nur um den Einzeldruck des ersten Beitrags aus dem 3. Band der Bibliothek der griechischen Philosophen (in der vorliegenden Bibliographie Nr. 326) handeln. Doch selbst den letzteren findet man im Register nur mit einiger Phantasie, nämlich unter Antonius [!], Marcus Aurelius, und eben nicht (oh wie so pRAKtisch) unter Marcus Aurelius Antoninus <Imperium Romanum, Imperator>.

Diese kleinen Punkte der Kritik an Details der Verlagsbibliographie sollen ihren Wert als Ganzes nicht in Frage stellen. Das Verzeichnis ist ohnedies nur als aufwendig recherchierte Ergänzung zur Darstellung einer vom Verfasser gründlich erforschten Epoche eines bedeutenden Verlages der deutschen Aufklärung zu verstehen. Als die Firma Orell, Gessner & Co. 1761 gegründet wurde, konnte sie erst auf eine dreißigjährige Tradition direkter Vorgänger zurückblicken. Doch schon in ihren Anfängen als Rordorfsche Druckerei konnte sie sich der (auch finanziellen) Unterstützung des schweizerischen Schriftstellers, Kritikers und Kunsttheoretikers der frühen Aufklärung Johann Jakob Bodmers erfreuen. Als sie sich schließlich 1770 mit der Firma Füssli & Co. zusammentat, konnte sie sich bis auf die berühmte, schon 1519 begründete Froschauersche Druckerei zurückführen. Nun waren hier angesehene Zürcher Bürger, der Ratsherr und Verleger Hans Conrad Orell, der Dichter, Maler und Kupferstecher Salomon Gessner, der Amtmann und Schriftsteller Heinrich Heidegger, der Ratsherr und Teilhaber Hans Conrad von Escher und Johann Heinrich Füssli, Nachfolger Bodmers als Professor für vaterländische Geschichte als Besitzer einer Druckerei und als Leiter eines Verlags versammelt. In der Folge konnten insbesondere die Schriftsteller und Verleger Füssli, Heidegger und Gessner, dessen Idyllen den großen "Bestseller" der Zeit neben Goethes Werther darstellen, großen Einfluß auf die deutschsprachige und sogar auf die europäische Aufklärung ausüben. Dies gezeigt und durch gründliche Quellenstudien belegt zu haben, ist das Verdienst dieser Arbeit über "Aufklärung in Zürich". Es ist die stellenweise spannend geschriebene Dokumentation einer Epoche der noch nicht genügend erforschten Verlagsgeschichte des 18. Jahrhunderts - auch für Bibliothekare lesbar.

Rainer Fürst


[1]
Vgl. ZfBB 33 (1986),5, S. 383 - 387; zuletzt ABUN in ZfBB 36 (1989),3, S. 239 - 242. (zurück)
[2]
Ein Verlag und seine Geschichte : 300 Jahre J. B. Metzler Stuttgart / von Reinhard Wittmann. - Stuttgart : Metzler, 1982. - 795 S. : ISBN 3-476-00481-3 : DM 198.00. (zurück)
[3]
S.o. IFB 98-1/2-018. (zurück)

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