Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 6(1998) 1/2
[ Bestand in K10plus ]
[ Bestand in K10plus ]

Die Handschriften der Gesamthochschulbibliothek Kassel,


98-1/2-009
Die Handschriften der Gesamthochschulbibliothek Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel / hrsg. von Hans-Jürgen Kahlfuss. - Wiesbaden : Harrassowitz. - 31 cm
[4629]
Bd. 6. Manuscripta musica / bearb. von Clytus Gottwald. - 1997. - XXVI, 936 S. : Notenbeisp. - ISBN 3-447-03775-X : DM 298.00

In der auf insgesamt zehn Bände konzipierten und seit den 60er Jahren laufenden Katalogisierung der Handschriften der Gesamthochschulbibliothek Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel stellt der nun erschienene Bd. 6 die Manuscripta musica vor, ein im Vergleich zu den vorhergehenden Bänden überaus gewichtiges Werk, das fast 800 Signaturen von Musikhandschriften des 15. bis 20. Jahrhunderts in einem Band vereinigt. Die Verzeichnung wurde im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Programms "Katalogisierung der abendländischen Handschriften in den Bibliotheken Deutschlands" vorgenommen und finanziell ermöglicht.[1] Bereits 1969 wurde der Plan einer Neubearbeitung des vorhandenen Katalogs der Kasseler Musikhandschriften als Bd. 6 ins Auge gefaßt.[2] Sie waren bislang in einem gedruckten Katalog von Carl Israel aus dem Jahr 1881 verzeichnet. Dieser griff seinerseits wieder auf einen handschriftlichen Katalog zurück, den sogenannten Grosheim'schen Katalog aus dem Jahr 1822. War der von Grosheim angefertigte Katalog noch nach der Aufstellung der Musikalien, also nach Formaten und Zahlen geordnet, verfolgte Carl Israel das Ziel, die Handschriften alphabetisch zu verzeichnen. Ein weiterer Katalog der musikalischen Handschriften aus dem Jahr 1763, der beim Regierungsantritt des Landgrafen Friedrich II. erstellt wurde, ist gleichfalls überliefert. Auch er verfolgt eine Verzeichnung nach Formaten, die jedoch offenbar nicht konsequent, teilweise sogar "konfus" (S. XVIII) durchgeführt wurde. Verzeichnisse des 17. Jahrhunderts (1613 und 1638) aus der Zeit der Auflösung der Hofkapelle aus Anlaß des 30jährigen Krieges sind ebenfalls überliefert. So konnte Clytus Gottwald auf eine lange Tradition an Kasseler Musikkatalogen zurückgreifen, die gleichzeitig als wichtige Arbeitsgrundlage dienten. Im Gegensatz zu allen bisher vorhandenen Katalogen setzte sich die Neuverzeichnung jedoch zum Ziel, durch umfangreiche Erläuterungen zu Personen und Werken neue Ansätze und Forschungsergebnisse in die Arbeit einfließen zu lassen. Gottwald hat dies ausgezeichnet gemeistert, handelt es sich dabei doch um über 1000 Handschriften aus sechs Jahrhunderten, die von der Masse her zwar bedeutend, nach ihrer Zusammensetzung jedoch äußerst disparat sind.

Von der Verzeichnung ausgenommen sind bei den Manuscripta musica die mittelalterlichen Choralhandschriften, da sie in derselben Katalogreihe bereits von Konrad Wiedemann im Rahmen der Manuscripta theologica verzeichnet wurden.[3] Dies überrascht nicht, wird doch die Verzeichnung der Kasseler Handschriften insgesamt nach ihrer Einteilung in Fachgruppen vorgenommen, zudem erscheint eine Trennung der Voll-Missalia - also derjenigen mit Notation - von den übrigen Missalia und Liturgica ohne Notation wenig sinnvoll. Auf diese Weise wird der Umfang des vorgestellten Bandes auf immer noch gut 900 Seiten beschränkt.

Bei der Kasseler Handschriftensammlung handelt es sich im wesentlichen um ein Erbe der hessischen Landgrafen. Zu den wertvollsten Teilen des Bestandes gehören Reste der Fuldaer Klosterbibliothek sowie die 1686 durch die pfälzische Erbschaft aus Heidelberg nach Kassel gelangte "jüngere Palatina". Im Gefolge des Reichsdeputationshauptschlusses gelangte 1803 ein größerer Bestand theologischer und juristischer Handschriften aus der Bibliothek des Kollegiatstiftes St. Peter am Dom zu Fritzlar nach Kassel.

Auch unter den musikalischen Handschriften findet sich Herausragendes. Zeitlich umfaßt der Katalog Werke, die zwischen 1452 und 1941 zu datieren sind, wobei aus den einzelnen Jahrhunderten sehr unterschiedlich viele Zeugnisse erhalten sind. Während aus dem 15. Jahrhundert nur zwei handschriftliche Zeugnisse vorliegen, sind dem 16. Jahrhundert bereits erheblich mehr - nämlich 45 - zuzuordnen. Zahlenmäßig am stärksten vertreten sind das 17. und das 19. Jahrhundert (288 bzw. 352 Zeugnisse). Dagegen stammen aus dem 18. und dem 20. Jahrhundert nur 79 und 20 Handschriften.

Das Zeitalter der Reformation ist besonders gut durch den Nachlaß des Hofkapellmeisters Johannes Heugel (ca. 1510 - 1585) vertreten, der während seiner etwa 50 Jahre währenden Amtszeit als Kasseler Kapellmeister eine große Anzahl an Werken komponierte, die sich ausnahmslos in Stimmbüchern erhalten haben.

Unter Landgraf Moritz von Hessen ("dem Gelehrten", regierte 1592 - 1627) erlebte das Kasseler Musikleben um und nach 1600 seinen Höhepunkt. Moritz schickte ehemalige Kapellknaben - darunter auch Heinrich Schütz - nach Venedig, um bei Giovanni Gabrieli (um 1555 - 1612) zu lernen. Dadurch war die venezianische Mehrchörigkeit am Hofe eingeführt, die sich in relativ zahlreichen wichtigen Quellen des Bestands dokumentiert (Gabrieli, Monteverdi, Schütz).

Durch Landgraf Wilhelm VI. (ab 1649) kam bereits Musik des Generalbaßzeitalters nach Kassel, die sich u.a. in den Kompositionen von Valentini, Ebner und Kerrl manifestiert. Landgraf Karl, der ab 1677 regierte und selbst ein guter Gambenspieler war, förderte besonders die Musik für dieses Instrument, wodurch in den Kasseler Bestand einige Gamben-Tabulaturen gelangten.

Zeugnisse des Opernbetriebs im 18. Jahrhundert sind nur spärlich vertreten. Dies hängt damit zusammen, daß der ab 1730 regierende Landgraf Friedrich gleichzeitig König von Schweden war und die Residenz in Kassel lediglich zweimal besuchte. So wurde die Hofkapelle 1730 zunächst aufgelöst und erlangte - auch durch die französische Besetzung während des Siebenjährigen Krieges bedingt - bis in die 1770er Jahre hinein nicht mehr die Bedeutung wie noch ein Jahrhundert zuvor. Hingegen finden sich für die folgenden Jahrzehnte viele aufschlußreiche Zeugnisse zur bürgerlichen Musikausübung durch Sammlungen, die das damalige Repertoire an deutschen Liedern, Arien, Klavierwerken u.ä. widerspiegeln. Typisch ist dabei für den privaten Bereich der Musikausübung - und das zeigt auch der Kasseler Handschriften-Bestand -, daß in der Hauptsache Werke heute unbekannter Komponisten den größten Anteil erhaltener Kompositionen ausmachen. Allerdings umfaßt der Bestand auch so wichtige Quellen wie das Notenbuch für Wilhelmine Schröder-Devrient, das Lieder von Robert und Clara Schumann enthält. Als weitere Schwerpunkte der Sammlung finden sich das Repertoire der Casselschen Liedertafel (aus dem Zeitraum von 1830 bis etwa 1880) und der Teilnachlaß Louis Spohrs. Weitere Nachlässe des 19. Jahrhunderts zwangen Gottwald mehrfach, zu entscheiden, wie genau die Verzeichnung erfolgen sollte. Die von der DFG geforderte Trennung von Handschriften- und Nachlaßkatalogisierung ließ sich für den Kasseler Bestand nicht durchhalten. Der Bearbeiter mußte daher je nach Bedeutung und Umfang der nachgelassenen Quellen zwischen einer ausführlichen Aufnahme und einer eher kursorischen Erfassung wählen.

Gottwald hat die Kasseler Bestände nicht nur präzise und ausführlich nach den allgemeinen DFG-Richtlinien aufgenommen und beschrieben, sondern auch kenntnisreich kommentiert. Durch sein großes Fachwissen waren ihm viele aufschlußreiche Erläuterungen zu den Komponisten wie auch zu ihren Werken möglich. Mit großer Sachkenntnis zieht der Bearbeiter häufig Querverbindungen und macht Anmerkungen, die relevant und informativ für den disparaten Bestand der Musikalien sind. Bemerkenswert ist auch, daß Gottwald mittels einer mehrwöchigen Recherche im Staatsarchiv Marburg einen Papiermarken-Katalog erstellte, der die genauere Datierung einiger wichtiger Handschriften (u.a. Schütz-Handschriften) erlaubte.

Zur formalen Seite des Katalogs ist besonders das großzügige Druckbild zu erwähnen. Dadurch vergrößert sich der Umfang des Bandes allerdings auf gut 900 Seiten, der durch sein Gewicht schlecht handhabbar ist. Eine Teilung in zwei Halbbände wäre vorzuziehen gewesen, zumal sie sich einfach nach einem formalen Kriterium (z.B. ab den 4ø-Handschriften) hätte finden lassen.

Der Erschließung der Bestände dienen die zahlreichen handgeschriebenen Notenincipits, die überall dort vorhanden sind, wo nicht bereits eine Gesamtausgabe oder entsprechende Werkverzeichnisse vorliegen. Hilfreich wären zur Benutzung jedoch noch einige Hinweise allgemeiner Art gewesen: So erweist es sich zwar rasch, daß im Beschreibungsteil alles aus den Quellen Übernommene kursiv, alles andere gerade gesetzt ist, daß Erschließungen des Bearbeiters in spitzen Klammern erscheinen und hochgestellte Zahlen nach einer Jahrhundertangabe nicht auf eine Fußnote hinweisen, sondern auf 1. Hälfte bzw. 2. Hälfte. Dies alles wäre jedoch auch eines Wortes vorab wert gewesen. Schlicht als Mangel empfindet die Rezensentin jedoch das Fehlen eines Verzeichnisses der bei der Beschreibung verwendeten Abkürzungen[4] (in der Beschreibung werden z.B. T für Text und A für Ausgabe sowie einige weitere Buchstabenkürzel verwendet, die sich bei der erstmaligen Benutzung eines solchen Katalogs nicht von selbst erschließen). Außerdem finden sich einige nicht aufgelöste Fundorte, so handelt es sich z.B. bei Tübingen SLMA (S. 357) vermutlich um Tübingen, Schwäbisches Landesmusikarchiv. Im Notfall - und sicherlich aus Platzgründen gerechtfertigt - hätte auch der Hinweis genügt, auf welche Liste an Abkürzungen (z.B. RISM-Sigel) sich die hier verwendeten Kürzel beziehen.

Erschlossen wird der Katalog durch drei Register, ein Verzeichnis Initien und Titel, ein Register Instrumentalmusik und ein Personen-, Orts- und Sachregister. Beim letztgenannten Register ist es jedoch ungewöhnlich, den sicher häufig gesuchten Namen Schütz unter Schutz eingeordnet zu finden. Auch hier scheint die Endredaktion nicht mit ausreichender Sorgfalt vorgenommen worden zu sein.

Die Bedeutung des Bestandes und die ausführliche, präzise und weiterführende Erschließung empfehlen den vorliegenden Katalog für große wissenschaftliche Bibliotheken mit Musikalienbestand.

Martina Rebmann


[1]
Der Gesamtplan der Kasseler Handschriften-Verzeichnung sieht folgende Bände nach Fachgruppen vor, von denen diejenigen mit Jahreszahl bereits erschienen sind (bis auf Bd. 5 sämtlich bei Harrassowitz): Bd. 1. Manuscripta theologica : die Handschriften in Folio (1994). - Bd. 2. Manuscripta iuridica (1969). - Bd. 3,1. Manuscripta medica (1976). - Bd. 3,2. Manuscripta chemica. - Bd. 3,3. Manuscripta physica et historia naturalis [...]. - Bd. 4,1. Manuscripta philosophica, philologica, historia litterarum. - Bd. 4,2. Manuscripta poetica et romanensia, Manuscripta theatralia (1993). - Bd. 4,3. Historica, Bd. 5. Manuscripta Hassiaca (seit 1986 als Loseblattwerk; zu beziehen bei der Bibliothek). (zurück)
[2]
Vgl. Vorwort zu Bd. 2. Manuscripta iuridica / bearb. von Marita Kremer. - 1969, S. VIII. (zurück)
[3]
Der 1. Bd. für die Foliohandschriften ist bereits erschienen; s.o. Fußnote 1. (zurück)
[4]
Der mit Abkürzungen überschriebenen Teil des Katalogs enthält nur abgekürzt zitierte Literatur. (zurück)

Zurück an den Bildanfang