Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 5(1997) 3/4
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Lateinamerikanische Literaturgeschichte


97-3/4-341
Lateinamerikanische Literaturgeschichte / unter Mitarb. von Walter Bruno Berg ... hrsg. von Michael Rössner. - Stuttgart ; Weimar : Metzler, 1995. - XI, 542 S. : Ill. ; 25 cm. - ISBN 3-476-01202-6 : DM 49.80
[3013]
97-3/4-342
The Cambridge history of Latin American literature / ed. by Roberto González Echevarría and Enrique Pupo-Walker. - Cambridge : Cambridge University Press. - 24 cm. - œ 175.00, $ 250.00 (Gesamtwerk)
[3649]
Vol. 1. Discovery to modernism. - 1. publ. - 1996. - XX, 670 S. - ISBN 0-521-34069-1 : œ 60.00
Vol. 2. The twentieth century. - 1. publ. - 1996. - XX, 691 S. - ISBN 0-521-34070-5 : œ 60.00
Vol. 3. Brazilian literature, bibliographies. - 1. publ. - 1996. - XX, 864 S. - ISBN 0-521-41035-5 : œ 70.00

2.1. Lateinamerikanische Literaturgeschichte (LLG)

2.1.1. Aufbau und allgemeine Charakteristik

Mit der von Michael Rössner herausgegebenen einbändigen Lateinamerikanischen Literaturgeschichte liegt eine seit langem fällige neue Gesamtdarstellung der Geschichte der literarischen Produktion Lateinamerikas in deutscher Sprache vor, die ihre Entwicklung von der präkolumbischen Zeit bis zur Gegenwart zu verfolgen erlaubt.[1]

In Anlage und Aufbau übereinstimmend mit der Konzeption aller im Metzler-Verlag erschienenen literaturgeschichtlichen Handbücher,[2] wurde die Literaturgeschichte mit zahlreichen Abbildungen illustriert und mit lektüreleitenden Randglossen versehen.

Das Handbuch enthält 40 Einzeltexte von insgesamt dreizehn Autoren. Sie spiegeln in dem vom Herausgeber zugelassenen Rahmen unterschiedliche Forschungsansätze wider. Es ist das Verdienst Rössners, aus den unterschiedlichen Beiträgen trotz verschiedener Ansätze ein strukturell und inhaltlich homogenes Werk geschaffen zu haben. Redundanzen[3] bleiben die Ausnahme.

Ebenso wie im DELAL wird auf ein grundlegendes Problem verwiesen, das die Bezeichnung "Literaturgeschichte Lateinamerikas" aufwirft, da Literaturgeschichten sich gemeinhin entweder durch eine gemeinsame Sprache oder einen gemeinsamen Staat definieren, es sich hier jedoch über die nationalen Grenzen der 20 Länder hinaus um einen vielsprachigen Kulturkreis handelt.

Der erklärte Anspruch, durch Veröffentlichung einer lateinamerikanischen Literaturgeschichte für den deutschsprachigen Raum diese Literaturen dem europäischen Leser näherbringen zu wollen, andererseits der Versuchung einer eurozentristischen Periodisierung zu widerstehen, wie sie noch bei Grossmann erfolgte, scheint paradox. Eingelöst wird die Forderung durch Einbeziehung nicht-europäischer Kategorien und durch den Nachweis intertextueller Bezüge zwischen den Werken einzelner Autoren. Zur Vermittlung der kulturellen Vielfalt lateinamerikanischer Literaturen wurde anstelle der gemeinhin üblichen Gliederung nach Epochen, Gattungen und Sprachräumen mit dem üblichen "Anhangskapitel" zur brasilianischen Literatur hier eine Gliederung nach sieben regionalen "Großräumen" gewählt - Mexiko, Mittelamerika, Karibik, Kolumbien und Venezuela, Andenländer (Ecuador, Bolivien, Peru) und Cono Sur (Paraguay, Chile, Argentinien, Uruguay), Brasilien -, die sich in der Zeit der Unabhängigkeit entwickelten. In Abweichung von der regionalen Gewichtung wurde der Modernismo als kontinentübergreifende Strömung der Jahrhundertwende in einem einzigen Kapitel zu den Avantgarde-Entwicklungen in Hispanoamerika und einem weiteren zum Modernismo Brasiliens abgehandelt. Die hier gewählte chronologisch angelegte Abhandlung der Themen nach "Großräumen" mag für ein Verständnis der Literaturen im historischen Kontext sinnvoller als eine Unterteilung nach Gattungen oder als eine rein formale Untergliederung in hispanoamerikanische und brasilianische Literatur (so z.B. die CHLAL) sein, da intertextuelle Bezüge innerhalb der Kulturräume (z.B.: im Falle des Indigenismus der Andenländer) über die nationalen Grenzen hinaus ausmachbar sind; für eine punktuelle Suche nach thematischen Schwerpunkten sind die Kapitelgliederungen dagegen oft nicht selbsterklärend genug.

Die Benennung als Lateinamerikanische Literaturgeschichte ist insofern nicht ganz korrekt, als anglophone und frankophone Literaturen der Karibik ausgegrenzt wurden,[4] man also eigentlich genauer von einer iberoamerikanischen Literaturgeschichte sprechen müßte.

2.1.2. Adressatenkreis

Das Handbuch wendet sich "an ein akademisches Publikum wie an die vielen Freunde lateinamerikanischer Texte" in dem Bemühen, "das lateinamerikanische Denken und Schreiben möglichst adäquat in einer deutschsprachigen Literaturgeschichte zu vermitteln" (S. X).

Entscheidend für die Ausrichtung an der heterogenen Adressatengruppe war vermutlich das Konzept, das allen bei Metzler verlegten literaturgeschichtlichen Handbüchern zugrunde liegt. Gleichwohl lassen die einzelnen Beiträge ein durchaus wissenschaftliches Profil sichtbar werden, so daß das Handbuch für Einführungsseminare des deutschen Lehrbetriebs geeignet ist.

2.1.3. Periodisierung und inhaltliche Gewichtung

Die Rekonstruktion literarischer Strömungen in den einzelnen Regionen in einem weitgefaßten historischen Kontext eröffnet dem deutschen Leser bei kontinuierlicher Lektüre ein sehr differenziertes Bild lateinamerikanischer Literaturgeschichte. Nach einem Rekurs auf die präkolumbische Literatur widmet sich die LLG ausführlich (ca. 100 Seiten) der Kolonialzeit und erfaßt die Epochen zwischen den Unabhänigkeitskriegen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Besondere Beachtung erfahren der Modernismo und die lateinamerikanischen Avantgardebewegungen des ersten Viertels dieses Jahrhunderts, ein weiterer erklärter Schwerpunkt in der Periodisierung wurde auf die neuesten literarischen Entwicklungen gelegt. Eine erheblich stärkere Gewichtung des lateinamerikanischen Romans und der Lyrik des 20. Jahrhunderts gegenüber dem Drama und dem Film spiegelt die literarische Realität wider.

Die Überschriften der Hauptkapitel Indigene Literaturen und die frühe Kolonialzeit (1492 - 1650), Die Blüte der Kolonialliteratur (1640 - 1750), Das Ende der Kolonialzeit und die Unabhänigkeitsepoche (1750 - 1830), Die Literaturen Lateinamerikas bis zum Modernismo (1820 - 1900), Der Modernismo und die frühen Avantgardebewegungen in Lateinamerika (1880 - 1930), Nach dem Modernismo (1920 - 1970), Die neuesten Entwicklungen (1960 - 1995) tragen dem Wunsch nach einer "Periodisierung nach lateinamerikanischen Kriterien" (S. X) Rechnung, erschweren aber gerade aufgrund mangelnder thematischer Erschließung durch ein Schlagwortregister und das Fehlen einer Kapitelgliederung nach Gattungen eine gezielte Informationssuche nach thematischen Aspekten. Schwierig gestaltet sich die Suche nach dem Indigenismus, da der Unterabschnitt Indigenismus und Nationalismus (S. 338 ff. des Kapitels Die Andenländer 1920 - 1970 : die Erfahrung des "Anderen") nicht im Inhaltsverzeichnis aufgeführt ist. Wer Informationen über das lateinamerikanische Theater im gesellschaftlich-historischen Kontext des 20. Jahrhunderts sucht, der muß sich mühsam durch zwei Hauptkapitel (insgesamt 250 S.) kämpfen und die nicht im Inhaltsverzeichnis aufgeführten gliedernden Unterabschnitte überfliegen, um dann auf die Abschnitte Roberto Arlt und die Entwicklung des Theaters (S. 358 ff.), Der Beginn des modernen brasilianischen Theaters : Nelson Rodrigues (S. 388), Das neuere mittelamerikanische Theater (S. 429 - 433), Kritischer Realismus und neo-avantgardistische Experimente im Theater (S. 474 - 475) und aufgrund einer Randglosse Experimenteller Roman und experimentelles Theater (S. 441) auf den Text des Abschnitts Die neuere puertoricanische Literatur zu stoßen. Gezielte Informationen über nationale Literaturen, z.B. über die kubanische Literatur, verbergen sich im Unterabschnitt Karibik : Aufstieg und Stagnation des kubanischen Modells (S. 398), Revolutionärer Kulturelan : die Frühphase der kubanischen Revolution (S. 433), über die Randglossen Neue Lyrik in Kuba (S. 442) wird man auf den Abschnitt Die neueste Lyrik gelenkt. Ähnliche Probleme wirft die Suche nach Frauenliteratur, oder nach dem lateinamerikanischen Film auf. Ein mehrdimensionaler Zugriff hätte problemlos mit einem Schlagwortregister oder wenigstens einer Ergänzung der zahlreichen erläuternden Unterabschnitte im Inhaltsverzeichnis erreicht werden können.

Hinsichtlich der Verzeichnung neuester literarischer Strömungen weist ein einbändiges Handbuch zwangsläufig Lücken auf. Während Vertreter der "Unterhaltungsliteratur" wie Isabel Allende und Angeles Mastretta inzwischen kanonisiert sind, werden die Werke neuerer Erfolgsautoren wie Paulo Coelho und Gioconda Belli ausgegrenzt. Doch hätten gerade die "vielen Freunde lateinamerikanischer Texte" eine häufigere Bezugnahme auf neuere Werke, die in deutscher Übersetzung vorliegen, (z.B. des Uruguayers Delgado Aparaín, des Exilchilenen Luis Sep£lveda und der Exilkubanerin Zöe Valdés) gewiß begrüßt.

Erzähl- und Lyriktraditionen aus dem Nordosten Brasiliens, die literatura de cordel, der die CHLAL ein eigenes Kapitel (Bd. 3, S. 315 - 328) und das DELAL einen eigenen Artikel widmet, nicht einmal erwähnt, obwohl diese Volkskunst die Werke kanonisierter Autoren wie Jorge Amados, Raquel de Queirós oder Joao Guimaraes Rosas beeinflußt hat.

Intertextuelle Bezüge zu anderen Autoren/Werken des Kontinents werden rekonstruiert (für García Márquez' El general en su laberinto lieferte der Protagonist Maqroll aus einem Text von Alvaro Mutis die Schlüsselidee, für die neueren Romane kolumbianischer Autoren wie Gustavo Alvarez Gardeazábal wurde Cien a¤os de soledad zum literarischen Bezugspunkt). Die LLG wird ihrer erklärten Absicht, einer eurozentrischen Kategorienbildung zu widerstehen, durchaus gerecht.

Die Zitierweise (Cien a¤os de soledad, S. 446, eine Seite zuvor Hundert Jahre Einsamkeit) ist nicht immer einheitlich. Auf originalsprachige Zitate wurde weitestgehend verzichtet, allerdings erscheint es auch hinsichtlich der inhaltlichen Ausgewogenheit wenig plausibel, die ersten beiden Verse der Ars poética II von Antonio Cisneros in deutscher Übersetzung zu zitieren (S. 458), dagegen das Canción del Bongó des kubanischen Lyrikers Nicolás Guillén in spanischer Sprache wiederzugeben, dann aber auf Zitate aus den viel bedeutenderen Prasas profanas des modernistischen Lyrikers Rubén Darío (S. 210 ff.), aus dem Canto general von Pablo Neruda (S. 367) oder dem anspruchsvollsten literarischen Zeugnis der kolonialen Literatur Mexikos, dem Primero sue¤o von Sor Juana Inés de la Cruz (S. 83) zu verzichten.

2.1.4. Bibliographische Hinweise und Register

Abgesehen von textbegleitenden Randglossen sind Inhaltsverzeichnis und kombiniertes Personen- und Werkregister die einzigen Erschließungshilfen. Einzelne Werke (ergänzt um das Jahr der Erstveröffentlichung und, wo vorhanden, die deutsche Übersetzung) stehen in chronologischer Reihenfolge im Alphabet unter dem Autor, Lebensdaten wurden in Klammern ergänzt.

Da auf ein separates Werkregister verzichtet wurde, muß dem Suchenden der Urheber des gesuchten Textes bekannt sein, um über das Register zur gewünschten Information zu gelangen.

Ein Schlagwortregister für die gezielte Suche nach Gattungen, Themen und nationalen Strömungen wäre trotz der damit verbundenen Probleme der Terminologiekontrolle um so wichtiger gewesen, als die Periodisierungshilfen über Kapitelüberschriften sehr grob sind und die gliedernden Unterabschnitte gar nicht erst im Inhaltsverzeichnis aufgeführt wurden.

Neuere Werke lateinamerikanischer Autoren, die überwiegend nach 1991 erschienen sind, z.B. Roa Bastos: Vigilia del Almirante (1992), Contravida (1994); Cortázar: Deshoras (1983); García Márquez: Del amor y de otros demonios (1994) fehlen. Druckfehler (z.B. S. 392, 364; S. 501 in der Schreibweise von D. W. Foster) lassen sich nie gänzlich vermeiden, das Fehlen einiger Übersetzungstitel - von Arrámcame la vida (S. 528), Mujeres de ojos grandes (S. 528), Son vacas, somos puercos (S. 514) - ist insofern marginal, als für den deutschsprachigen Raum das Autorenlexikon Lateinamerika seiner Funktion gemäß diesen Anspruch erfüllt.

Bibliographische Quellenangaben unter besonderer Berücksichtigung deutschsprachiger Beiträge der mit sechs Seiten recht knapp ausgefallenen, nach Großräumen gegliederten Allgemeinbibliographie spiegeln den Forschungsstand bis 1990/91.

Regine Schmolling 2.2. The Cambridge history of Latin American literature (CHLAL)

2.2.1. Aufbau und allgemeine Charakteristik

In einem Fünfjahresprojekt entstand unter Federführung der beiden Exilkubaner Enrique Pupo-Walker (Vanderbilt University) und Roberto González-Echevarría (Yale University) und unter Einbeziehung von 40 Mitarbeitern aus den USA, Lateinamerika und Großbritannien, die dreibändige Cambridge history of Latin America.[5] Im Gegensatz zu DELAL und der ELAL berücksichtigt sie die hispanoamerikanische und brasilianische, nicht aber die frankophone und niederländische (Karibik-)Literatur, so daß man auch hier genauer von einer iberoamerikanischen Literaturgeschichte sprechen müßte.

Die einzelnen Beiträge berücksichtigen insbesondere neuere Forschungsansätze zum jeweiligen Thema: "Each [of the contributors] was consulted about the limits of his or her area of study and about the very assumptions that make it a coherent subset within Latin American literary history. Everyone was asked ... to be self-conscious in her or his choices, not merely to review a field and to furnish an état présent. In this sense the History is not only a history of Latin American literature, but equally a statement on the current status of Latin American historiography" (Bd. 1, S. XII). Gerade dieser in gewisser Weise eklektizistische Ansatz macht die Literaturgeschichte jedoch zu einem wertvollen Instrument für das wissenschaftliche Arbeiten auf diesem Gebiet.

Wert gelegt wurde auch auf eine Erweiterung des literarischen Kanons auf Werke, die bisher kaum Beachtung fanden. Dies trifft insbesondere auf Werke der kolonialen Epoche, Frauenliteratur, Chicanoliteratur und literarische Texte karibischer Autoren in den USA zu. Erstmals wurden intertextuelle Bezüge zwischen der afro-spanischen und afro-amerikanischen Literatur hergestellt (Bd. 2, S. 164 ff.)

Einem historiographischen Ansatz gemäß wird auch hier, wie in DELAL und der LLG die Frage, ob man überhaupt von einer lateinamerikanischen Literatur oder vielmehr von zahlreichen nationalen Literaturen mit überwiegend gemeinsamer Sprache ausgehen sollte, ideologiekritisch gestellt und unter Rekurs auf lateinamerikanische Vordenker wie A. Bello und O. Paz aufgrund der zweifellos vorhandenen transnationalen intertextuellen Bezüge zugunsten einer lateinamerikanischen Literatur entschieden. "The most prominent writers, from Andrés Bello to Paz, have argued in favor of the existance of a Latin American literature that transcends national boundaries; and if one thinks of tradition as being made up by the major works, as we do here, then one can assume the existance of a Latin American literature" (S. XIII).

Ausgenommen aus dieser Grundannahme wird die brasilianische Literatur "a national literature as original and self-contained as French, Italian, or Spanish literature; ist ties to a broader Latin American literature, however, are strong, if fluid and ever-changing over time" (S. XIII).

Da das Forschungsinteresse der letzten Jahre sich stärker den literarischen Zeugnissen der kolonialen Epoche zugewandt hat, wurde in dem Bemühen um eine Literaturgeschichtsschreibung, die von einem gemeinsamen kontinentalen Erbe ausgeht und einen gemeinsamen literarischen Diskurs konstituiert, ein besonderer Schwerpunkt auf die Kolonialliteratur gelegt, die ein Sechstel der Literaturgeschichte ausmacht. Es wurden Werke berücksichtigt, die streng genommen keine literarischen Texte sind und Forschungsmethoden einbezogen, die üblicherweise nicht zum literaturwissenschaftlichen Instrumentarium zählen. Der historiographische Ansatz drückt sich auch in der Interdisziplinarität der Mitarbeiter aus. Asunción Lavrin (Bd. 1, S. 286 - 335) und Thomas Skidmore (Bd. 3, S. 345 - 382) sind ausgewiesene Historiker. Die strukturelle Nähe zur achtbändigen Cambridge history of Latin America[6] ist unverkennbar.

2.2.2. Adressatenkreis

Als wissenschaftliche Literaturgeschichte hat die CHLAL den Anspruch historiographischer Zuverlässigkeit und Genauigkeit. Sie wendet sich erklärtermaßen an Wissenschaftler, die den aktuellen Forschungsstand auf dem Gebiet der Lateinamerikanistik rezipieren wollen, um daran anknüpfend eigene Fragestellungen formulieren und bearbeiten zu können. Sie ist aber auch für den deutschen Lehrbetrieb, der höhersemestrigen Studenten und Studentinnen eigene wissenschaftliche Beiträge in Form von Examensarbeiten abverlangt, sehr geeignet.

Aufgrund der sehr umfangreichen Bibliographie (s.u. 2.2.4.) ist die CHLAL für die bibliographischen Apparate wissenschaftlicher Bibliotheken als wichtiges Nachweisinstrument nachdrücklich zu empfehlen. Für den "interessierten Laien" ist sie wegen ihres wissenschaftlichen Profils dagegen weniger geeignet.

2.2.3. Periodisierung und inhaltliche Gewichtung

Am historiographischen Ansatz orientiert sich auch die inhaltliche Gewichtung. Band eins widmet sich der vorkolumbischen und der hispanoamerikanischen Literatur der Kolonialzeit bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert, Band zwei behandelt, beginnend mit dem Modernismo, die hispanoamerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts, Band drei ist der brasilianischen Literatur gewidmet und enthält die 450 Seiten umfassende Bibliographie. Einige Kapitel, wie die über die lateinamerikanische Literaturgeschichtsschreibung und Literaturkritik bis zur Gegenwart, über die Chronistenliteratur, die Historiker der Kolonialzeit, und über den Essay lassen den weiter gefaßten Literaturbegriff erkennen. Ein weiterer Schwerpunkt wurde auf die Vielfalt der Literaturen des 19. Jahrhunderts vor dem Modernismo gelegt.

Die Untergliederung der Einzelbände erfolgt nach chronologischen und gattungsbezogenen Kriterien und bezieht literarische Strömungen (wie den Indigenismo in Band 2) oder regionale Besonderheiten (wie die Gaucholiteratur) thematisch mit ein. Die Beiträge über die Romane des 20. Jahrhunderts (Band 2) gliedern sich in Modernist prose, The literature of Indigenismo, The criollista novel, The novel of the Mexican Revolution, The Spanish American novel from 1950 to 1975, The Spanish American novel : recent developments, 1975 - 1990. Von der Gliederung nach einzelnen Gattungen wurde dort abgewichen, wo dies aufgrund regionaler oder historischer Besonderheiten sinnvoll erschien (z.B. Afro-Hispanic literature). Während sich die lateinamerikanische Literaturgeschichtsschreibung in den 60er Jahren, zur Zeit der kubanischen Revolution, vom kolonialen Erbe distanzierte und sich stärker an Literaturen orientierte, die dem politischen Bedürfnis nach Identitätsfindung Rechnung trugen, hat sich in den letzten Jahren aufgrund einer Neuorientierung der Schriftsteller selbst (Paz, García Márquez, Neruda, Carpentier) an historischen Themen die lateinamerikanische Literaturkritik wieder stärker auf literarische Zeugnisse des gemeinsamen kolonialen Erbe bezogen.

Da die Kapitel sich überwiegend auf innerliterarische und historische Entwicklungen konzentrieren, wurde der Biographie einzelner Autoren weniger Bedeutung beigemessen. Über den ersten in Per£ geborenen Schrifsteller, El Inca Garcilaso de la Vega, Sohn einer Inkaprinzessin und eines spanischen Hauptmanns adliger Herkunft, werden biographische Informationen nur insoweit gegeben (Bd: 1, S. 138), wie sie dem besseren Verständnis seiner Werke und seines politischen Standpunktes (Er befürwortete im Gegensatz zu Las Casas die Conquista und die Christianisierung) dienen. Der Beitrag über Colonial lyric (Bd. 1, S. 221 ff.) widmet sich ausführlich der Textanalyse des Primero sue¤o von Sor Juana Inés de la Cruz mit Zitaten in Originalsprache und englischer Übertragung. Biographische Details beschränken sich, abgesehen von den Lebensdaten, auf beiläufige Bemerkungen. Ihr faszinierendes Leben, das sie als uneheliches Kind und als Wunderkind an den Hof des Vizekönigs und später ins Kloster brachte, "inspired many a commentary, most recently Octavio Paz's remarkable literary biography" (S. 221). Es wirkt ein wenig befremdlich, daß aus O. Paz' Sor Juana Inés de la Cruz o las trampas de la fé in der englischen Übersetzung zitiert wird.

Hilfreich für wissenschaftliche Forschungsvorhaben sind die jeweiligen Verweisungen im Text auf die einschlägige Forschungsliteratur mit kurzer Darstellung ihrer wichtigsten Thesen (z.B. im Kapitel über Cultures in contact, Bd. 1, S. 54). Generell sind die Passagen über bestimmte Werke einzelner Autoren in der CHLAL sehr viel knapper als die entsprechenden Einträge im DELAL. Den Kurzgeschichten des mexikanischen Autors Juan Rulfo (1917 - 1986) El llano en llamas widmet R. Prada Oropeza im DELAL einen neunseitigen Beitrag unter Rekurs auf die erzähltheoretischen Aspekte eines semiotisch-strukturalistischen Ansatzes: 1. Presentación de la fábula, 2. La articulación de diferentes planos temporales, 3. El narrador explícito ..., 4. Revelación del marco de enunciación, 5. Integración del escenario o marco topológico, 6. El espacio irónico. Im Vergleich dazu fällt der Abschnitt über El llano en llamas im Kapitel The twentieth century short story (Bd. 2, S. 471- 472) der CHLAL von Daniel Balderston sehr kurz aus, doch sein Erkenntnisinteresse ist auch ein anderes. Unter Rekurs auf die literaturtheoretischen Ansätze von Roland Barthes und Michel Foucault bezweifelt er, daß es überhaupt historiographische Parameter gebe, die es erlauben, von einer "Geschichte der Kurzprosa in Lateinamerika" zu sprechen. "Instead ... I have chosen here to tell ... the story of the 'diverse intonations of a metaphor' or series of metaphors" (S. 466). Im Abschnitt Circles vergleicht er, Erzählstrukturen der Caja china, der Verschachtelung einzelner Erzählstränge, in einer Kurzgeschichte Rulfos mit ausgewählten Erzählungen von Roa Bastos, S. Ocampo, Onetti und Borges, d.h. er entwickelt am Beispiel ausgewählter lateinamerikanischer Erzähler einen neuen poetologischen Ansatz. Hier wird vielleicht der wesentliche Unterschied der CHLAL gegenüber traditionellen Literaturgeschichten deutlich. Sie erfüllt vor allen Dingen den Anspruch, eine "Geschichte der lateinamerikanischen Literaturkritik" (vgl. Band 1, S. XV) zu sein, d.h. neuere (literatur-)wissenschaftliche Forschungsansätze der Lateinamerikanistik zu präsentieren. Die bloße Übermittlung literaturgeschichtlicher Fakten ist dabei zwangsläufig ein sekundäres Anliegen.

2.2.4. Bibliographische Hinweise und Register

Um ein zuverlässiges Forschungsinstrumentarium zu schaffen, wurde auf die Zusammenstellung der bibliographischen Quellen besondere Sorgfalt verwandt. Kurzannotationen werten die einzelnen Quellen inhaltlich und hinsichtlich ihres Wertes für weitere Forschungsvorhaben. Die Auswahlbibliographie, die, nach Kapiteln gegliedert, die zweite Hälfte des dritten Bandes (S. 383 - 838) ausmacht, ist schon an sich ein eigener Beitrag zum gegenwärtigen Forschungsstand.

Was die Aktualität betrifft, so wurde der Anspruch, "the most up-to-date ... reference work on its subject" (Klappentext) sein zu wollen, insofern nicht ganz eingelöst, als die Quellen den Forschungsstand lediglich bis 1990/91 widerspiegeln.

Die bibliographischen Angaben zur Sekundärliteratur sind selektiv. Sie sollen den Wissenschaftler zu den Quellen führen, die für die Fragestellung die neuesten und interessantesten Ansätze liefern, um eigene Forschungsbeiträge darauf aufbauen zu können. Trotz notwendiger Selektion ist es nicht erklärlich, daß von Germán List Arzubide, der als ein Vertreter der avantgardistischen Bewegung des Estridentismo im Kapitel The Vanguardia and ist implications (Bd. 2, S. 124) explizit erwähnt wird, die 1927 veröffentlichte Darstellung El movimiento estridentista unter den für dieses Kapitel genannten Primary sources in der Bibliographie (Bd. 3, S. 617 - 619) nicht erwähnt wird.

Primärliteratur wurde bis 1990 aufgenommen, neuere und neueste Veröffentlichungen, wie Doce cuentos peregrinos von García Márquez (1992) und Del amor y otros demonios (1994), Noticia de un secuestro (1996) fehlen also.[7] Hinsichtlich der Berücksichtigung deutscher Beiträge zur Lateinamerikanistikforschung ist die CHLAL die zuverlässigste Quelle (beispielsweise finden sich neuere Forschungsbeiträge aus dem Jahr 1991 von H. Wentzlaff-Eggebert[8] und K. Kohut[9]), doch fehlen auch hier wichtige Monographien (wie z.B. die Beiträge von W. B. Berg zur argentinischen Literatur oder die Studien von Frauke Gewecke zur Literatur der Karibik). Das Autorenlexikon Lateinamerika von Dieter Reichardt wurde nur in der alten Ausgabe von 1972 und die Monographie von K. Meyer-Minnemann zum modernistischen Roman nur in der deutschen Ausgabe von 1979, nicht aber in der übersetzten Fassung La novela hispanoamericana de fin de siglo[10] zitiert, der wichtige literaturtheoretische Grundlagentitel zur Avantgardetheorie von Peter Bürger nur in der englischen Ausgabe Theory of the avant-garde, 1984 genannt.

Die Gliederung der bibliographischen Quellen nach den jeweiligen Kapiteln, denen sie thematisch zu subsumieren sind, erweist sich bei der Recherche als umständlich. Wenn man die neuere Forschungsliteratur zu einzelnen Autoren oder Themen konsultieren möchte, wird man über das Register des jeweiligen Bandes zum einschlägigen Kapitel geführt und kann dann in Band drei die entsprechende Literatur einsehen. Eine Einbeziehung der Quellen in das allgemeine Register wäre hier sehr hilfreich gewesen.

Ein kombiniertes Autoren- und Schlagwortregister erschließt die einzelnen Themenbeiträge eines jeden Bandes inhaltlich, wobei Verweisungen auf Werke in Originalsprache unter dem jeweiligen Verfassernamen als Unterrubrik aufgenommen wurden. Erklärende Zusätze grenzen die jeweiligen Schlagwortbegriffe weiter ein. So findet man beispielsweise im Register des ersten Bandes unter Paz, Octavio einen Hinweis auf alle Textstellen, die sich auf seine Rezeption der Werke von Sor Juana Inés de la Cruz beziehen. Die themen- oder gattungserschließenden Begriffe (typographisch durch Kursivdruck gekennzeichnet) sind überwiegend englischsprachig (z.B. Baroque, colonial). Dort, wo sich fachwissenschaftlich aufgrund der regionalen Besonderheiten die originalsprachigen Bezeichnungen (z.B. costumbrismo, estridentismo) durchgesetzt haben, erfolgte der Eintrag unter diesem Begriff.

Unübersichtlich wird die Erschließung über weite Schlagwörter dort, wo z.B. unter novel oder indigenous peoples ganze Spalten der weiteren inhaltlichen Untergliederung des Hauptbegriffes dienen. Zwar wird der Eintrag über den venezolanischen Dichter und Philologen Andrés Bello durch 22 Unterbegriffe inklusive der bibliographischen Aufnahme seiner Werke weiter thematisch eingegrenzt, eine Siehe-auch-Verweisung auf den Begriff historiography fehlt jedoch, der noch einmal Bello on historiography mit weiteren 39 (!) Unterbegriffen und entsprechenden Seitenverweisen erschließt.

Regine Schmolling


[1]
In dieser Hinsicht löst sie die erste vollständige Literaturgeschichte Lateinamerikas in deutscher Sprache ab, die aufgrund ihrer "eurozentristischen Epochen- und Kategorienbildung" (Amero-Romantik, Amero-Realismus) heute überholt ist:
Geschichte und Probleme der lateinamerikanischen Literatur / Rudolf Grossmann. - 1. Aufl. - München : Hueber, 1969. - 698 S.
Kleine Geschichte der lateinamerikanischen Literatur im 20. Jahrhundert / Christoph Strosetzki. - Orig.-Ausg. - München : Beck, 1994. - 367 S. ; 18 cm. - (Beck'sche Reihe ; 1048). - ISBN 3-406-37438-7 : DM 24.00 [4558].
Dieses Werk genügt schon wegen der zeitlichen Beschränkung auf das 20. Jahrhundert nicht den Ansprüchen eines für den deutschen Sprachraum verfaßten Standardwerkes. Literargeschichtliche Begriffe wie der Magische Realismus und die zugrundegelegte Kanonbildung "wichtiger Autoren" (S. 8) werden nicht kritisch hinterfragt. Auch als "knappe Überblicksdarstellung" (S. 7) ist der "mit zahlreichen Mängeln behaftete Band (...) allenfalls selektiv nutzbar" (so Hanspeter Broder in seiner Rezension u.d.T. Neigung zum Selbstmord : eine sehr kleine Geschichte der lateinamerikanischen Literatur. //_In: Frankfurter Allgemeine. - 1995-03-30, S. 40. (zurück)
[2] Stellvertretend sei auf die Bände für andere Literaturen des romanischen Sprachkreises verwiesen:
Französische Literaturgeschichte. - 3. Aufl. - 1994. - S.o. IFB 97-3/4-333.
Italienische Literaturgeschichte. - 2. Aufl. - 1994. - Rez.: IFB 95-2-307.
Spanische Literaturgeschichte / unter Mitarb. von Sebastian Neumeister ... hrsg. von Hans-Jörg Neuschäfer. - Stuttgart ; Weimar : Metzler, 1997. - X, 423 S. : Ill. ; 25 cm. - ISBN 3-476-00960-2 : DM 49.80 [3758]. - Eine Rezension durch Sabine Schmitz, Marburg, ist für IFB vorgesehen. (zurück)
[3]
A hora da estrela von Clarice Lispector wird in zwei Textabschnitten unterschiedlicher Mitarbeiter behandelt (S. 391 und 497). (zurück)
[4]
Die frankophone Literatur der Karibik wird in dem Band Französische Literaturgeschichte bei Metzler behandelt. (zurück)
[5]
Vergleichbar im Umfang ist sie mit folgender, in Brasilien erschienener dreibändigen Literaturgeschichte:
América Latina : palavra, literatura e cultura / organizadora Ana Pizarro. - Sao Paulo : Fundaçao Memorial da América Latina [u.a.]. - 1. A situaçao colonial. - 1993. - 588 S. : Ill. - ISBN 85-85373-07-5. - Vol. 2. Emancipaçao do discurso. - 1994. - 829 S. : Ill. - ISBN 85-85373-09-1. - 3. Vanguarda e modernidade. - 1995. - 750 S. : Ill. - ISBN 85-85373-10-5.
Textbeiträge über die hispanoamerikanische Literatur wurden hier in spanischer und über die brasilianische Literatur in portugiesischer Sprache veröffentlicht. (zurück)
[6]
The Cambridge history of Latin America / ed. by Leslie Bethell. - Cambridge [u.a.] : Cambridge University Press, 1984 - (zurück)
[7]
Um Informationen über Werke der letzten zehn Jahre zu erhalten, erweist sich, wie bereits erwähnt, die ELAL als das zuverlässigste der behandelten Nachschlagewerke. (zurück)
[8]
Las literaturas hispánicas de vanguardia : orientación bibliográfica / Harald Wentzlaff-Eggebert. - Frankfurt am Main : Vervuert, 1991. - XV, 229 S. ; 23 cm. - (Bibliotheca Ibero-Americana ; 38). - ISBN 3-89354-538-7 : DM 48.00 [1659]. - Rez.: IFB 93-3/4-175. - Europäische Avantgarde im lateinamerikanischen Kontext : Akten des Internationalen Berliner Kolloquiums 1989 = La vanguardia europea en el contexto latinoamericano . - Frankfurt am Main : Vervuert, 1991. XV, 590 S. : Ill. - (Biblioteca Ibero-Americana; 37). (zurück)
[9]
Un universo cargado de violencia. - 1991. (zurück)
[10]
México : Fondo de Cultura Económica, 1991. - XII, 300 S. (zurück)

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