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Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 5(1997) 3/4
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Französische Literaturgeschichte


97-3/4-333
Französische Literaturgeschichte / unter Mitarb. von Elisabeth Arend-Schwarz ... hrsg. von Jürgen Grimm. - 3., um die frankophonen Literaturen außerhalb Frankreichs erw. Aufl. - Stuttgart ; Weimar : Metzler, 1994. - X, 476 S. : Ill. ; 25 cm. - ISBN 3-476-01228-X : DM 49.80
[1684]

Bereits in dritter Auflage erschien 1994 die von Jürgen Grimm 1989 erstmals herausgegebene Französische Literaturgeschichte in der mittlerweile auf sieben Bände angewachsenen Reihe von Literaturgeschichten im Metzler-Verlag,[1] die sich ursprünglich vor allem einzelnen Nationalliteraturen widmete, bald jedoch, wie etwa im Fall der lateinamerikanischen Literaturgeschichte und wie nun auch in diesem Fall, die allzu engen Grenzen ausweiten und für die Literatur ein anderes Kriterium als das der Staatsgrenzen zugrunde legen mußte. Da zunehmend spezielle Publikationen zur außerhalb Frankreichs entstehenden oder zumindest wurzelnden frankophonen Literatur erscheinen und zudem auch die allgemeinen Nachschlagewerke zur französischen Literatur inzwischen weitgehend die gesamte frankophone Welt berücksichtigen, waren Verlag und Herausgeber offensichtlich in Zugzwang geraten: Im Unterschied zur gegenüber der ersten weitgehend unveränderten zweiten Auflage ist die dritte um fast 70 Seiten erweitert worden, in der an die bisherige Darstellung zunächst eine äußerst knappe, viereinhalb Seiten umfassende Nachlese zur Gegenwartsliteratur anschließt, der fünf Kapitel zu den Frankophonen Literaturen außerhalb Frankreichs, d.h. zur französischen Literatur Belgiens, Kanadas, der Karibik, des Maghreb und Schwarzafrikas, folgen. Bei dieser Gelegenheit wurde zugleich die Bibliographie am Ende des Bandes um einige wenige Titel ergänzt, wobei sich leider auch Fehler eingeschlichen haben.[2]

Da sich an der Präsentation der französischen Literatur Frankreichs nichts geändert hat,[3] soll hier vor allem auf die neu hinzugekommenen Kapitel eingegangen werden, zumal die Frankophonie in den bisherigen Auflagen ja tatsächlich eine bedauerliche Lücke darstellte, die nun geschlossen wurde. Selbstverständlich waren die bekanntesten französisch schreibenden Autoren, die nicht aus Frankreich stammen, auch bisher schon erwähnt worden: unter ihnen etwa Maurice Maeterlinck und Anne Hébert, Saint-John Perse und Aimé Césaire, Tahar Ben Jelloun und Kateb Yacine. Doch erstens beschränkte sich die bisherige Darstellung oft tatsächlich auf eine bloße Erwähnung, zweitens wurde nicht in allen Fällen auf die nicht-französische Herkunft hingewiesen, und drittens wurde kaum einmal der geographische Kontext, in dem die jeweiligen Texte stehen, berücksichtigt: Weitgehend unabhängig von ihrem Entstehungsraum wurden sie primär im Zusammenhang ihrer Gattungszugehörigkeit gesehen und behandelt: Hébert und Michaux beispielsweise im Rahmen der Lyrik nach dem zweiten Weltkrieg, Kateb Yacine im Kapitel über den Nouveau Roman und der unverzichtbare Simenon natürlich innerhalb der Geschichte des französischen Kriminalromans.

Analog zum Aufbau des Frankreichteils sind auch die Kapitel über die einzelnen frankophonen Literaturen chronologisch gegliedert, wobei die allgemeine und politische Geschichte hier im Verhältnis eher noch größeren Raum einnimmt als in den vorausgehenden Abschnitten: Teilweise scheint es sich weniger um historisch ausgerichtete Aufsätze über die Literatur denn um primär sozialgeschichtliche Abhandlungen mit Blick auf die Literatur zu handeln, da die Texte oft eher als Dokumente für bestimmte politische oder gesellschaftliche Entwicklungen denn als Kunstwerke betrachtet werden. Dennoch bleibt auch in diesen Kapiteln das für die gesamte Literaturgeschichte gewählte und in aller Regel überzeugende Prinzip gültig, die Literatur eines Zeitabschnitts getrennt nach den einzelnen, jeweils für eine Zeit relevanten Gattungen zu betrachten, statt sie beispielsweise nach den "großen" Autoren einzuteilen. Freilich schützt auch eine solche Anordnung weder vor einer allzu schematischen Darstellung, die Kategorien wie das sogenannte "absurde Theater" an keiner Stelle in Frage stellt, noch vor allzu verkürzender Einordnung eines Autors in eine der Schubladen.[4]

Gültig bleibt ferner, was für wohl jede von mehreren Autoren verfaßte Literaturgeschichte und so auch für diese zutrifft: daß die Schwerpunkte der einzelnen Beiträge, selbst bei einer von allen Autoren respektierten Grundtendenz, unterschiedlich gesetzt werden. So geht etwa der Artikel über Belgien stärker auf einzelne Texte ein als der über die französische Literatur Kanadas, wo die Fülle der aufgeführten Schriftsteller oft jede auch nur andeutungsweise ins Detail gehende Analyse verhindert, vielmehr jedem Namen einfach ein Etikett zugeordnet wird, etwa nach folgendem Muster: "Sozialkritisch und weniger regionalistisch als urban gefärbte Familiengeschichten schreiben Jacques Ferron, Victor-Lévy Beaulieu, André Major, Michel Tremblay und Yves Beauchemin, der mit Le matou in den achtziger Jahren einen Sensationserfolg feiert. Unverzichtbar ist ein Blick auf die reichhaltige Frauenliteratur der Epoche. Louky Bersianik (L'Euguélionne, 1976), Nicole Brossard (L'Amer, 1977), France Théoret (Bloody Mary, 1977) sowie Pauline Cadieux, Hélène Rioux, Madeleine Gagnon, Francine No‰l, Monique Bosco und Geneviève Amyot bereichern den Roman um feministische Aspekte" (S. 396) - Etiketten, die meist so allgemein sind, daß sie über den einzelnen Text nichts mehr auszusagen vermögen. Selbst im Fall von so bekannten und anerkannten Autoren wie etwa Saint-John Perse im Kapitel über Die frankophone Literatur der Karibik begnügt sich die Französische Literaturgeschichte mit wenigen und pauschalen Sätzen, die keinen Zugang zu den Texten selbst verschaffen: "Der bedeutendste Autor dieser Jahre ist jedoch der Lyriker Saint-John Perse, Nachfahre einer weißen Großgrundbesitzerfamilie. Seine Dichtungen (Eloges, 1911; Anabase, 1924; Exil, 1942; Vents, 1946; Amers, 1957) lassen nichts von den realen Lebensbedingungen der Antillaner erkennen, ihre Hymnik feiert die Elemente, den Rhythmus der Naturerscheinungen; sie soll 'le mouvement même de l'Etre' ausdrücken, wie der Autor aus Anlaß der Verleihung des Nobelpreises 1960 erklärt" (S. 405 - 406). Auch wenn die Karibik nicht explizit thematisiert wird, sind die Texte von Belang[5] - zumal ja auch bei Autoren aus Frankreich nicht nur dort näher auf einzelne Werke eingegangen wird, wo die "realen Lebensbedingungen" der Franzosen erkennbar bleiben.

Doch nicht überall hat die Darstellung diesen aufzählenden Charakter, und generell läßt sich festhalten, daß in dieser 3. Aufl. zahlreiche Autoren und Texte berücksichtigt wurden, die zuvor entweder, wie etwa Michel de Ghelderode, erstaunlicherweise überhaupt nicht auftauchten oder, wie Fernand Crommelynck, im Rahmen der französischen Literatur Frankreichs zwar bereits erwähnt wurden, doch ohne konkret auf Texte einzugehen. Leider wurde allerdings die 3. Aufl. tatsächlich nur, wie die Titelseite ankündigt, "um die frankophonen Literaturen außerhalb Frankreichs erweitert", nicht im Hinblick auf diese Erweiterung auch überarbeitet: Da die 2. Aufl. bis S. 370 identisch übernommen wurde, finden sich bis S. 370 auch keinerlei Hinweise auf die eventuell folgende, detailliertere Auseinandersetzung mit einem Autor. Gelegentlich wird zwar, etwa bei Maeterlinck, Verhaeren und Simenon, von den neuen Kapiteln auf die alten zurückverwiesen, doch wäre erstens der Querverweisun von der ersten Erwähnung im bisherigen Teil auf die in der Regel etwas ausführlichere Betrachtung im neuen wichtiger, weil hilfreicher, gewesen und wird zweitens in sehr vielen Fällen, bei Rodenbach, Michaux und Toussaint, bei Tahar Ben Jelloun und Kateb Yacine, bei Aimé Césaire und Saint-John Perse, völlig darauf verzichtet, den Bezug herzustellen.

Natürlich hat jede Literaturgeschichte eine Gratwanderung zu gehen und kann oft nur zwischen der Skylla einer Fülle von Namen unter Verzicht auf direkten Textbezug und der Charybdis einer intensiveren Textlektüre um den Preis vieler ungenannt bleibender Autoren wählen. Wie so oft liegt der Königsweg wohl in der Mitte, und zumindest in einigen Kapiteln der neuen Französischen Literaturgeschichte wird dieser Mittelweg denn auch gewählt.

Barbara Kuhn


[1]
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[2]
So ist beispielsweise Englers Lexikon der französischen Literatur nicht 1977 in 1. und 1984 in 3. Aufl. erschienen, sondern in schöner Regelmäßigkeit 1974 in 1., 1984 in 2. und 1994 in 3. Aufl., und das Literaturwissenschaftliche Wörterbuch für Romanisten erschien 1989 nicht in der 2., sondern in der 3., völlig neu bearb. und erw. Aufl. mit nunmehr vier statt drei Autoren. Daß der unter anderem von Jean-Pierre de Beaumarchais herausgegebene Dictionnaire des littératures de langue française in seiner neuesten Ausgabe von 1994 ebensowenig berücksichtigt ist wie das 1994 erschienene Pendant Dictionnaire des oeuvres littéraires de langue française, mag am ungefähr gleichzeitigen Erscheinen der Lexika und der Literaturgeschichte liegen, obgleich andere 1994 publizierte Titel noch aufgenommen wurden. (zurück)
[3]
Vgl. hierzu beispielsweise die - weitgehend konträren - Besprechungen von H.-J. Lope in Romanische Forschungen. - 104 (1992), S. 216 - 218, und von G. Holtus in Zeitschrift für Romanische Philologie. - 111 (1995), S. 84 - 87. (zurück)
[4]
Jabès zum Beispiel wird nur und ausgerechnet in dem Kapitel Die Literatur im Zeichen der Studentenbewegung erwähnt, und alles, was Leserinnen und Leser über sein vielschichtiges Werk erfahren, ist die Feststellung: "Edmond Jabès sucht sich in den sieben esoterischen Büchern des Livre des questions (1963 - 1973) immer auch den Holocaust von der Seele zu schreiben" (S. 350). (zurück)
[5]
In den 1996 erschienenen Hauptwerken der französischen Literatur (s.u. IFB 97-3/4-336), einer Auswahl aus Kindlers neuem Literaturlexikon, findet sich Saint-John Perse zwar nicht im Kapitel über die Karibik, sondern in jenem über Das Zeitalter der Moderne: 1900 - 1945, doch wurden hier sämtliche fünf oben genannten Texte und Sammlungen besprochen und folglich als "Hauptwerke der französischen Literatur" anerkannt, was der Rolle, die Saint-John Perse für die weitere Entwicklung der französischen Lyrik spielt, gewiß eher gerecht wird als die Aufzählung der Werktitel und die - unmögliche - Zusammenfassung dieser komplexen Texte in ein, zwei Sätzen. (zurück)

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