Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 5(1997) 3/4
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Fundbuch der Gedichtinterpretationen


97-3/4-316
Fundbuch der Gedichtinterpretationen / bearb. von Rolf-Bernhard Essig. Unter Mitarb. von Christina Böde ... Hrsg. von Wulf Segebrecht. - Paderborn [u.a.] : Schöningh, 1997. - X, 530 S. ; 25 cm. - ISBN 3-506-78300-9 : DM 48.00
[4345]

Das seit längerem angekündigte "Fundbuch" ist unter der Federführung des Bamberger Germanisten Wulf Segebrecht entstanden, aus dessen Feder zahlreiche - und nicht selten auch in Zeitungsfeuilletons an ein breiteres Publikum gerichtete - Gedichtinterpretationen stammen.

Das Werk "versteht sich ... als ein praktisches Hilfsmittel, nicht als eine Bibliographie im strengen Verständnis dieses Begriffs. Es erhebt den Anspruch, die für das Studium in Schule und Universität brauchbaren und erreichbaren Gedichtinterpretationen nachzuweisen, ohne zugleich eine 'erschöpfende Vollständigkeit' anzustreben" (S. VII). Es ist gegliedert in einen Hauptteil, der - in alphabetischer Folge der Autoren - die zu ihren Gedichten verzeichneten Interpretationen mit verkürzter Titelaufnahme anführt. Die Titel der Interpretationen selbst werden nicht angeführt; darin liegt die stärkste Abweichung von den Regeln bibliographischer Verzeichnung. Es werden die Verfasser und die abgekürzt zitierten Fundstellen mit Seitenangaben geboten - ein Verfahren, mit dem viel Platz gespart wird und das angesichts der oft "blumigen" Titelformulierungen von Gedichtanalysen ebenso gerechtfertigt ist wie durch die Tatsache, daß zum Aufsuchen der Fundstelle die übergeordnete bibliographische Einheit sowieso herangezogen werden muß. Die vollständigen Titelaufnahmen der ausgewerteten Werke finden sich am Schluß des Bandes im Alphabet der Abkürzungen. Nicht ganz glücklich mutet die Entscheidung an, die "Fundorte" selbst durchweg unter dem Sachtitel anzuführen, auch wenn es sich um Monographien oder Sammlungen aus der Feder eines Verfassers handelt. Zwischen dem Nachweis der Interpretationen und der Liste der Fundorte stehen drei Indizes: der Gedichttitel, der Gedichtanfänge und der Interpreten. Da der Hauptteil mit den Nachweisen der Fundstellen selbst nach dem Alphabet der behandelten Autoren angelegt ist, tauchen die dort vorkommenden Namen in keinem Register auf. Daß dieselben Personen bald als Verfasser interpretierter Gedichte, bald als Interpreten vorkommen - wie etwa Peter Härtling -, kann der interessierte Benutzer sich leicht selbst erschließen; daß die Dichterin Ruth Angress und die Interpretin Ruth Klüger ebenfalls ein und dieselbe Person sind, wird ihm so freilich nicht verraten.

Der Band weist rund 10.000 Interpretationen nach. In Konkurrenz steht er vor allem zu zwei Werken mit ähnlicher - allerdings nicht auf die Lyrik beschränkter - Zielsetzung: 1. zu Schleppers Was ist wo interpretiert?[1] aus demselben Verlag und zu dem vielbändigen Quellenlexikon zur deutschen Literaturgeschichte von Heiner Schmidt.[2] Von beiden Werken unterscheidet sich das Fundbuch u.a. in folgenden Hinsichten: Es berücksichtigt rein didaktisch orientierte Interpretationen in geringerem Umfang als Schlepper (was nicht als "didaktisch" etikettiert wird, ist ja oft die bessere didaktische Grundlage - hoffentlich merken das die Deutschlehrer!). Sodann liegt der Verzeichnung eine bewußt wertende Auswahl zugrunde, wie Segebrecht betont, der fraglos zu den besten Kennern der deutschsprachigen Lyrik gehört. Stichprobenhafte Vergleiche lassen erkennen, daß in der Auswahl der Gedichte ebenso wie in derjenigen der Interpretationen im allgemeinen tatsächlich die Hand des Herausgebers glücklich reguliert hat, wo wegen der großen Zahl der Bearbeiterhände rasch viel Uneinheitlichkeit und Ungleichmäßigkeit der Wertung sich leicht hätten einstellen können. Man vergleiche zum Beleg etwa, welche Titel zu Hofmannsthals Gedichten Reiselied und Lebenslied oder zu Hyperions Schicksalslied von Hölderlin bei Schlepper, welche bei Segebrecht nachgewiesen sind. Oder halte die Liste der berücksichtigten Gedichte Ilse Aichingers bei Schmidt gegen die im Fundbuch; bei Schmidt fehlen u.a. die Gedichte Abgezählt, Durch und durch, Ohne Bündel, Ohne Jahre.

Als Einstieg empfiehlt sich künftig für die Suche immer der Segebrecht. Freilich lohnt der Blick in die konkurrierenden Werke, wenn man im Fundbuch nicht fündig geworden ist. Zu den Gedichten Leopold von Andrians findet man bei Segebrecht nichts, bei Schmidt gleich mehrere Nachweise.

Ein paar Petitessen seien zum Schluß mit Blick auf eine dem Fundbuch gewiß einmal bevorstehende Neuauflage benannt: Zu Matthias Claudius' Gedicht Bei dem Grabe meines Vaters findet sich nur der Hinweis auf eine ältere Monographie, nicht jedoch die minutiöse Interpretation von Herbert Rowland.[3] Und wo Felix Dörmann und Arthur Schnitzler unter die Lyriker aufgenommen sind, sollte - zumal die italienische Germanistik bei den Fundstellen durchaus gut vertreten ist - das Buch Spleen e artificio[4] von Gabriella Rovagnati nicht fehlen, das zu den Gedichten dieser beiden und anderer Autoren ungleich substantiellere Interpretationen bietet als die nachgewiesenen kurzen Beiträge der Frankfurter Anthologie.

Indes: Gaudeamus obtentis - was das Fundbuch bietet, läßt allenthalben staunen, welche Quantitäten das erst seit dem 20. Jahrhundert geläufige Genre der Gedichtinterpretation angenommen hat. Als Wegweiser durch diese Fülle ist ein so vorzügliches Arbeitsmittel entstanden, wie es die (sonst doch so bibliographiefreudige) Germanistik nicht oft hervorbringt.

Hans-Albrecht Koch


[1]
Was ist wo interpretiert? : eine bibliographische Handreichung für das Lehrfach Deutsch / Reinhard Schlepper. - 8., völlig überarb. Aufl. - Paderborn [u.a.] : Schoeningh, 1991. - 184 S. (zurück)
[2]
Quellenlexikon zur deutschen Literaturgeschichte : Personal- und Einzelwerkbibliographien der internationalen Sekundärliteratur 1945 - 1990 zur deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart = Bibliography of studies on German literary history / Heiner Schmidt. Bibliographische Mitarb. von Günter Albrecht ... - 3. überarb., wesentlich erw. und auf den neuesten Stand gebrachte Aufl. - Duisburg : Verlag für Pädagogische Dokumentation. - 25 cm. - Bis 2. Aufl. u.d.T.: Quellenlexikon der Interpretationen und Textanalysen [2288]. - Bd. 1. A - Bau. - 1994. - 512 S. - ISBN 3-930551-01-2 : DM 198.00. - Vgl. IFB 94-3/4-438. - Es escheinen mit schöner Regelmäßigkeit 4 Bände im Jahr; der letzte bis Dezember 1997 erschienene Bd. 13 (1997) reicht bis Hol. (zurück)
[3]
Das Schweigen bei Matthias Claudius, gezeigt am Beispiel des Gedichts "Bei dem Grabe meines Vaters" / von Herbert Rowland. // In: Jahresschriften der Claudius-Gesellschaft. - 2 (1993), S. 20 - 32. (zurück)
[4]
Spleen e artificio : poeti minori della Vienna di fine secolo / Gabriella Rovagnati. - Napoli : Edizioni Scientifiche Italiane, 1994. - 198 S. - (ESI UNI ; 22). (zurück)

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