Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 5(1997) 1/2
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The modern encyclopedia of East Slavic, Baltic and


97-1/2-164
The modern encyclopedia of East Slavic, Baltic and Eurasian literatures / ed. by Peter Rollberg. - Gulf Breeze, Fla. : Academic International Press. - 23 cm. - 1 (1978) - 9 (1989) u.d.T.: The modern encyclopedia of Russian and Soviet literatures (MERSL)
[3959]
Vol. 10. Holub, Yurka - Ivanov-Paimen, Vlas Sakharovich. - 1996. - VII, 246 S. - ISBN 0-87569-038-6 : $ 38.50 zzgl. $ 4.00 (Porto)

1977 erschien in den USA der 1. Bd. der Modern encyclopedia of Russian and Soviet literatures (MERSL), einer umfangreichen Literatur-Enzyklopädie, die sich nicht auf den russischen Bereich beschränkte, sondern Artikel über alle auf dem Territorium der UdSSR vertretenen Literaturen bot. Der gewählte Begriff - "Russian and Soviet literatures" - hob sich von dem gängigen - "multinationale Sowjetliteratur" - ab. Neben den vielen nichtrussischen Literaturen, schloß dieser Begriff auch die gesamte russische Literatur ein, also neben der russischen Sowjetliteratur auch die ältere russische der Jahrhunderte davor und die neuere, von der sowjetischen Politik ausgeschlossene der Emigranten und der unterdrückten Autoren. Seit 1989, als der 9. Bd. erschienen war, der bis Ho führte, war kein weiterer Band mehr herausgekommen. Nun ist unter neuer Redaktion von Peter Rollberg, einem nach der Wende von Leipzig an die George Washington University berufenen Slawisten, der Folgeband u.d.T. The modern encyclopedia of East Slavic, Baltic and Eurasian literatures (MESBEL) erschienen. Insgesamt läßt sich die Enzyklopädie auf 30 Bände von je etwa 250 Seiten schätzen. Der Titel wurde dem politischen Wandel angepaßt, aus "Russian and Soviet" wurde "East Slavic and Eurasian". Da jeder Band des Lexikons hervorragende größere Beiträge enthält, die innerhalb der Lexika und Literaturgeschichten zur russischen Literatur einmalig sind, und das Lexikon für manche der anderen erfaßten Literaturen überhaupt Seltenheitswert besitzt, ist die Wiederaufnahme zu begrüßen.

Das Lexikon verbindet Personal- und Sachartikel und bietet oft recht gute, weiterhelfende Bibliographien. Die Auswahl der Lemmata ist eine der schwierigen, letztlich nur subjektiv vom Herausgeber zu treffenden und immer angreifbaren Entscheidungen. In den ersten acht Bänden, die Harry Weber, University of Iowa, herausgab, ist zu loben, daß er damals noch wenig beachtete Emigranten wie Vladimir Dikson und Sergej Dovlatov und Literaturwissenschaftler wie E. Etkind und D. Cizevskij einbezogen hatte, andererseits hätten z.B. im 1. Bd. B. Achmadulina, G. Ajgi, V. Astaf'ev, A. Anan'ev vertreten sein müssen. Es ist eine erfreuliche Tatsache, daß vom 1. Bd. an das Prinzip der Einheit der russischen Literatur vertreten wurde, womit sich MERSL nicht nur gegen die ideologisch gebundene Russistik der UdSSR und der DDR stellte, sondern auch von vielen Handbüchern im Westen abhob. Daher steht im jetzt erschienenen 10. Bd. Michail Isakovskij als Sowjetlyriker neben Vjaceslav Ivanov, einem Emigranten der ersten und Elena Ignatova einer Vertreterin der dritten Welle.

Insgesamt haben bisher 197 Wissenschaftler für MERSL/MESBEL geschrieben, die meisten sind Amerikaner, nicht selten international als Spezialisten für den jeweiligen Autor bekannte Gelehrte. So stammen die Artikel über M. Aldanov von C. N. Lee, über A. Belyj von G. Janecek, über A. Bitov von P. Meyer, über G. Gazdanov von L. Dienes und über N. Gogol' von V. Setchkareff. Im 9. Bd. sind, alphabetisch bedingt, mehr Ukrainer vertreten, dafür war schon früher Arnold B. McMillin gewonnen worden. In den ersten Bänden stehen neben hervorragenden Artikeln auch solche mit veraltetem Forschungsstand und einseitiger Sicht, was sich daraus erklärt, daß in den Fällen, in denen ein Spezialist für den Autor oder den Sachartikel nicht gefunden wurde, Artikel aus der Kratkaja literaturnaja enciklopedija (KLE) übernommen wurden. Das ließ im Laufe der Jahre nach. Waren im 1. Bd. noch 45 % des Textes aus sowjetischen Quellen übersetzt worden, senkte sich die Seitenzahl des Übernommenen ab Bd. 4 auf durchschnittlich 10 %, hinsichtlich der Zahl der Artikel aber war der Prozentsatz höher. Rollberg nimmt nun nur noch Originalartikel auf und hat das im 10. Bd. dadurch realisiert, daß er etliche selbst geschrieben hat. Es bleibt für ihn wie jeden Herausgeber solcher Lexika das Problem, daß sich nur für berühmte Schriftsteller leicht Autoren finden lassen. Seine eigenen Artikel hat er - wohl in Abhängigkeit von dem Umfang der eigenen Forschung - namentlich gezeichnet oder als redaktionellen Artikel ungezeichnet gelassen. In der Tendenz entspricht in allen Lexika der Umfang der Bedeutung eines Autors, aber dieses Prinzip kann nie konsequent durchgehalten werden. Sowohl die Menge des Geschriebenen, als auch der Forschungsstand spielen eine Rolle. Im 10. Bd. widerspricht der Bedeutung, daß Egor Isaev, ein amusischer sowjetischer Literaturfunktionär und Lyrikproduzent, drei Seiten erhielt, während Oleg Il'inskij auf nur einer Seite vorgestellt wird, ein begabter, natur- und kunstverbundener Lyriker, der zunächst in Deutschland bei Fedor Stepun studierte, dann in New York promovierte und nun in Richmond Hill, NY, lebt. Rollbergs Wertungen aber sind in beiden Fällen treffend: deutlich kritisch über den Sekretär des Schriftstellerverbandes und anerkennend über den Emigranten. Jedes gute Handbuch enthält neben oft über Jahrzehnte Tradiertem auch Entdeckungen. In Bd. 10 gehört dazu der erste Lexikon-Artikel über Nina Jur'evna Iskrenko (1951 - 1995). Ihren Gedichten öffnete die Perestroika russische Zeitschriften, und erst 1991 erschien ihr erstes Buch - fragmentarische, provozierend kontrastreiche, experimentelle Lyrik: Suchendes im heutigen russischen Chaos, das vor einem Finden zerbrach. Vitalij Cerneckij, der Autor des Artikels, hat 1994 erstmals auf sie verwiesen (im Slavic and East European journal).

In jedem Band der Enzyklopädie stehen auch ausgezeichnete Sachartikel. Aus den früheren Bänden hat z.B. bleibende Gültigkeit der zwischen L. Dienes, L. Rzevskij und L. Losev aufgeteilte Überblick über Emigré literature, Russian. Auch der Beitrag über Children's literature war ausführlicher als entsprechende in anderen Lexika. Eine Überraschungsleistung war der Artikel von Philip E. Frantz über die alten russischen und neuen sowjetischen Enzyklopädien unter dem Gesichtspunkt der jeweiligen Einbeziehung der russischen Literatur. Im 10. Bd. forderte der Buchstabe I Sachartikel zur Zeitschrift Inostrannaja literatura, zu den Akademie-Instituten für Weltliteratur und Russische Literatur, sowie zum Imaginismus als literarischer Richtung. Sie sind auf neuestem Stand. Ein Artikel über Illustrationen, wie ihn die KLE-Redakteure einbezogen, hätte ihn bereichert. Der kirchliche Bereich ist durch zwei in literarischen Lexika einmalige Artikel vertreten, einen ausgewogenen über Holy Synod and literature und einen leider durch etliche Fehler belasteten über den Heiligen Johannes von Kronstadt. Ein Gewinn für Bd. 10 wäre auch einer über die Zeitschrift Illjustrirovannaja Rossija gewesen, die 1924 - 1939 in Paris 1245 Nummern herausbrachte und in der - da unter Emigranten wegen ihrer politischen Unabhängigkeit beliebt - auch namhafte Schriftsteller kleinere Texte veröffentlichten. Doch Lexika müssen sich ergänzen, und hier sei auf die von A. Nikoljukin herausgegebene Literaturnaja enciklopedija russkogo zarubez'ja[1] verwiesen.

Wenn man so verschiedene Literaturen wie die litauische, armenische, baschkirische und viele mehr mit der russischen in einem Buch vereint, weil großrussischer und sowjetischer Imperialismus die Völker in einen Staat zusammenführte, spricht man recht unterschiedliche Wissenschaftler an. Wer aber auf einem der vielen vertretenen Fachgebiete arbeitet, sollte nach Artikeln in diesem Lexikon suchen. Er dürfte Lohnendes finden.

Wolfgang Kasack


[1]
Literarurnaja enciklopedija russkogo zarubez'ja : (1918 - 1940) / Rossijskaja Akademija Nauk, Institut Naucnoj Informacii po Obscestvennym Naukam. - Moskva. - T. 2,1 (1996). (zurück)

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