Wie bisher liegt demnach der Schwerpunkt des Dictionnaire auf den Einträgen zu Autoren und anderen Personen, und wie bisher ist der Anteil an Geistlichen für ein Literaturlexikon verblüffend hoch. Daneben werden die Titel von Anonyma, Kollektivwerken und Zeitschriften mit eigenen Artikeln bedacht, während von den Sachtiteln der bekannteren Autorenwerke in dem Band zum 18. Jahrhundert auf deren Verfasser verwiesen wird; der Band zum 17. Jahrhundert verzichtet, außer bei Anonyma, auf Werkeinträge. Zusätzlich enthält das Lexikon Einträge zu Sachbegriffen wie Gattungen, Institutionen, Strömungen, Einflüssen durch oder auf andere Literaturen etc., die in dem Band zum 18. Jahrhundert wie in der alten Ausgabe zusätzlich in einem Register am Ende des Bandes aufgeführt sind, um einen raschen Überblick zu gewährleisten.
Ein Vergleich mit der Ausgabe von 1960 erweist, daß lediglich fünf neue Sachbegriffe aufgenommen wurden; die Lektüre dieser fünf Artikel - Afrique, Allemagne, Femme, Franc-maçonnerie und Jansénisme - enttäuscht allerdings sehr rasch die durch das Register oder auch durch den Vergleich mit analogen Artikeln geweckten Erwartungen: Während etwa die aus dem Vorgänger übernommenen Artikel über die literarischen Beziehungen zu Spanien oder England neun bzw. über elf Spalten lang sind, beschränken sich die Artikel zu Afrika und Deutschland auf einige Literaturangaben, und im Falle der drei anderen Begriffe werden zusätzlich zu den bibliographischen Informationen ebenfalls nur sehr wenige Worte gemacht, obwohl doch, um nur ein Beispiel zu nennen, die Jansenisten neben den mit über 14 Spalten bedachten Jesuiten gewiß mehr als knappe sechs Zeilen verdient hätten, zumal nach wie vor Benediktiner, Kapuziner, Dominikaner und Ursulinerinnen mit zum Teil sehr ausführlichen Artikeln im Lexikon vertreten sind. Diese wurden weder gekürzt noch überarbeitet, so daß auch in der Ausgabe von 1995 beispielsweise über den im 18. Jahrhundert drohenden Rationalismus oder die schwere Aufgabe der Kapuziner zur Zeit eines Voltaire geklagt, hingegen der heilsame Einfluß der Missionare, im Unterschied zu jenem der Aufklärer, hervorgehoben wird.
Als nach wie vor inkonsequent und nicht unbedingt auf aktuellstem
Stand muß ferner die Auswahl der - laut Register doch berücksichtigten
- Gattungen erscheinen: 19 lange, weitgehend biblisch orientierte
Spalten informieren den Leser über den Cantique,[3] noch weit mehr über
das Chanson, und den Chansons enfantines wird ein zusätzlicher eigener
Artikel gewidmet, ebenso wie den Contes de fée au XVIIIe siècle,
obgleich der Artikel mit der bedauernden Feststellung schließt, nach
dem 17. Jahrhundert und Perrault, dem "maître incontestable du genre",
seien nur mehr "faibles résultats" erzielt worden. Dennoch werden
diese in beinahe drei Spalten dargestellt, während der im 18.
Jahrhundert doch gewiß wichtigere conte philosophique völlig
unberücksichtigt bleibt. Tendenzen des Romans und des Theaters werden
in der Vue générale zu Beginn des Werkes kurz dargestellt; einen
eigenen Artikel beispielsweise zum Briefroman, der im 18. Jahrhundert
seine Blütezeit erlebt, vermißt man ebenso wie einen zur Komödie im
Jahrhundert Marivaux' und Beaumarchais', während die Tragödie mit
immerhin vier Spalten vertreten ist. Hinweise etwa auf die in diesem
Jahrhundert neuen Gattungen wie comédie larmoyante oder drame gibt
allenfalls deren Erwähnung in der Vue générale; der vielversprechende
Artikel Lecture, théâtre et public - leider ohne Verweisung etwa von
Théâtre oder Spectacle - erweist sich als weitere Enttäuschung: Erneut
wird hier das 18. Jahrhundert nicht in seinen Eigenheiten, sondern nur
als dekadente Phase nach dem 17. gesehen, wenn es etwa heißt, Voltaire
reiche nicht an La Fontaine, Montesquieu nicht an Descartes und
Rousseau nicht an Pascal heran. Mehrfach werden Unfrömmigkeit und
Sittenverfall bedauert - "Avec le libertinage vient l'impiété!" (S.
717) -, und ein Marquis de Sade "mérite à peine d'être nommé" (S.
720), obwohl im Avertissement de la nouvelle édition des Dictionnaire
ausdrücklich auf die inzwischen anerkannte Bedeutung de Sades
hingewiesen und der ihm gewidmete Artikel völlig neu verfaßt wurde.
Das Ende des Artikels über Lecture, théâtre et public wird 1995 um
eine Spalte (inklusive Literaturangaben) bereichert, die in
entschieden zu knapper Form zu korrigieren und zu kritisieren
versucht. Besser wäre es gewesen, auch diesen Artikel neu zu
schreiben, statt die Ausgabe von 1960 durch den ungekürzten
Wiederabdruck zu ehren.
Das Beispiel des Artikels zu de Sade bleibt leider eine der wenigen
Ausnahmen in der Neuausgabe des Dictionnaire. In zahlreichen anderen
Fällen wurden die Autoreinträge unverändert übernommen und lediglich
die bibliographischen Angaben aktualisiert, so daß die durch die
Verfasser oder Herausgeber vorgenommene und sich nicht zuletzt in der
Länge der Artikel widerspiegelnde Wertung sich ebenfalls kritiklos
wiederholt. Das Oeuvre eines Marivaux beispielsweise ist gewiß
ungleich umfangreicher als das eines Laclos und verdient damit einen
umfangreicheren Artikel; daß jedoch letzterem nicht einmal ein Zehntel
davon zukommt und daß diese knapp viereinhalb Spalten sich fast
ausschließlich mit der Biographie des Autors der Liaisons dangereuses
statt wesentlich mit seinem Roman befassen, der auch für die weitere
Geschichte dieser Gattung sehr bedeutend war, läßt sich nur schwer
rechtfertigen. Hier wäre es zumindest angesagt gewesen, der
Biographie, wie im Falle von Crébillon fils, eine detailliertere
Analyse des Werkes hinzuzufügen oder, wie im Falle von Diderot, die
früheren Besprechungen durch aktuellere zu ersetzen.[4] Verglichen
wiederum mit Marivaux, aber auch mit Rousseau oder Voltaire, kommt
zwar Diderot, gemessen an der ihm heute zuerkannten Bedeutung, nach
wie vor zu kurz, doch wurden hier, im Unterschied zu den oben
erwähnten Beispielen, immerhin Sätze wie der frühere Schlußsatz
gestrichen, in dem es hieß: "Certes il a des parties de grand écrivain
[...]. Mais son oeuvre, encombrée de fatras et souillée de
grossièretés, ne contient, mis à part le Neveu de Rameau, aucun
ouvrage achevé" (S. 388).
In geringerem Maße gilt dieselbe Kritik auch für den ein Jahr später
erschienenen Band zum 17. Jahrhundert. Ob beispielsweise die Artikel
zu Vincent de Paul, der kein Buch, nur "lettres" und "conférences
spirituelles" geschrieben hat (vgl. S. 1260), oder zum Kardinal Pierre
de Berulle, der eher auf geistlicher als auf literarischer Ebene
seinen Einfluß ausübte (vgl. S. 143), noch einmal in voller Länge
abgedruckt werden mußten, läßt sich in Frage stellen, und ebenso, ob
die Einträge zu Scarron, Scudéry, Sorel oder d'Urfé durch eine
vollständige Überarbeitung nicht mehr gewonnen hätten als durch einen
hinzugefügten Abschnitt, der manchmal vor allem den Zweck zu haben
scheint, das Vorausgegangene als überholt zu brandmarken. So enthält
etwa der übernommene Artikel zu Honoré d'Urfé und seiner Astrée
mehrere Wiederholungen, die nicht erneut hätten aufgenommen werden
müssen; in dem kurzen neuen Absatz am Ende ist die Rede von den
zahlreichen neuen Forschungsarbeiten, die die "richesse technique,
poétique, symbolique, voire idéologique" des Romans aufgedeckt und in
ihren Interpretationen auch von den "recherches diverses sur les
conditions de publication du texte et sur les questions que pose son
inachèvement" profitiert hätten (S. 1239). Gewiß wäre eine auf dem
heutigen Forschungsstand basierende, den erwähnten Reichtum
aufzeigende Einführung fruchtbarer für eine erste Auseinandersetzung
mit dem Roman gewesen als der alte Artikel. Hingegen entspricht der
neue Eintrag zu Guilleragues, der die ursprüngliche Notiz ersetzt, dem
gegenwärtigen Stand der Forschung, demzufolge der angebliche und lange
als solcher angesehene Herausgeber der Lettres portugaises tatsächlich
der Autor dieses frühen Briefromans ist; allerdings hätte der Eintrag
zum Roman selbst, gemäß dem im Vorwort geäußerten Prinzip, Werkartikel
nur für Anonyma beizubehalten, wegfallen bzw. in neuer Form dem
Autoreneintrag hinzugefügt werden müssen, zumal auch diesem Artikel
wiederum nur ein neuer Absatz hinzugefügt wurde, obwohl "l'approche
critique" durch die in den sechziger Jahren gewonnenen Erkenntnisse
"totalement renouvelée" wurde (S. 755). Noch krasser wird der
Widerspruch im Artikel Traduction, wo der Roman nach wie vor als ein
von Guilleragues nicht selbst verfaßtes, sondern nur aus dem
Portugiesischen ins Französische übersetztes Werk gehandelt wird.
Doch auch in bezug auf die sogenannten großen Autoren des 17.
Jahrhunderts, deren Einschätzung sich nicht grundlegend, aber doch in
vielen Punkten geändert hat, wäre häufig eine detaillierte
Überarbeitung wünschenswert gewesen,[5] da beispielsweise moralische
Appelle an heutige Schriftsteller, die sich etwa Boileau zum Vorbild
erwählen und sich seine Verse zu Herzen nehmen sollten (vgl. S. 166),
in einem Literaturlexikon über das 17. Jahrhundert ebenso deplaziert
wirken wie die den Boileau-Artikel abschließende schwärmerische
Feststellung: "il demeure un des plus honorables représentants du
meilleur esprit français" (S. 166).
Generell gilt demnach auch für die Personenartikel, daß die neue
Ausgabe des Dictionnaire gegenüber der früheren relativ wenig Neues
bringt; Stichproben zeigen, daß einige wenige kurze Artikel fehlen
sowie gelegentlich die Reihenfolge von Einträgen berichtigt wurde.
Leider ließ die allzugroße Treue der heutigen Herausgeber zum Grente,
vor allem was den Band über das 18. Jahrhundert anbelangt, trotz der
Neubearbeitung kein Lexikon entstehen, das derzeitigen Anforderungen
gerecht wird, so daß sich für Bibliotheken, die den alten Grente
bereits besitzen, bei Bedarf an aktuellen Nachschlagewerken eher die
Anschaffung anderer Lexika zur französischen Literatur empfiehlt, denn
als historisches Dokument dürfte die alte Ausgabe genügen - ein
Lexikon jedoch sollte andere Bedürfnisse befriedigen.
Barbara Kuhn
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