Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 5(1997) 1/2
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Literaturgeschichte Österreichs


97-1/2-129
Literaturgeschichte Österreichs : von den Anfängen im Mittelalter bis zur Gegenwart / Herbert Zeman (Hg.). Unter Mitwirkung von Werner M. Bauer ... - Graz : Akademische Druck- und Verlagsanstalt, 1996. - 604 S. ; 22 cm. - ISBN 3-201-01650-0 : öS 504.00, DM 68.00
[4051]
97-1/2-130
Geschichte der österreichischen Literatur / Donald G. Daviau ; Herbert Arlt (Hrsg.). - St. Ingbert : Röhrig, 1996. - Teil 1 - 2. - 758 S. ; 21 cm. - (Österreichische und internationale Literaturprozesse ; 3). - ISBN 3-86110-107-6 : DM 78.00
[4052]

"Die Begriffe 'Österreich' und 'österreichisch' sind im Geiste guter alter literatur- und kulturgeschichtlicher Überlieferungen seit dem 18. Jahrhundert auf jenes politische Territorium und dessen [richtig müßte es heißen: 'seine'] kulturelle Ausstrahlung bezogen, das seit dem Mittelalter über die Herrschaft der Babenberger und der Habsburger letztlich in das republikanische Österreich mündete": Laut Vorwort heißt der von Herbert Zeman herausgegebene Band "in diesem Sinne" Literaturgeschichte Österreichs.

Programmatisch entspricht das Vorhaben der Tendenz eines Großteils der österreichischen Literaturwissenschaft, die seit über dreißig Jahren versucht, eine eigenständige Austraziastik neben der eigentlichen Germanistik durchzusetzen, d.h. eine literarische Forschungsrichtung zu etablieren, die sich speziell mit der Literatur aus Österreich beschäftigt. Der neue Ansatz geht von der Überzeugung aus, daß unterschiedliche historisch-politische Bedingungen literarische Erscheinungen zur Folge haben, die sich inhaltlich wie ästhetisch je besonders profilieren, auch wenn ihr Medium dieselbe Sprache ist.

Es wäre ungerecht, hinter dieser Abgrenzung a priori nostalgische oder gar nationalistische Motive suchen zu wollen; das verbietet allein schon die Tatsache, daß der Name Österreich sich bis 1918 mit keiner ethnischen, sprachlichen oder geographischen Vorstellung deckt, wie auch das im letzten Jahr gefeierte "Millennium Austriae" buchstäblich nur einem "Namenstag" galt.

Wenn theoretisch also gegen das Unternehmen von Zeman nichts einzuwenden wäre, lassen jedoch die Töne, die hie und da im Buch angestimmt werden, den Verdacht einer gewissen kulturellen Selbstverteidigung aufkommen. Das läßt z.B. der Beitrag von Walter Zettl spüren, einem der acht Literaturwissenschaftler (die anderen sind Werner M. Bauer, Dieter Breuer, Fritz Peter Knapp, Wynfried Kriegleder, Joseph P. Strelka, Erich Trunz und Alois Wolf), aus deren Zusammenarbeit der Band entstanden ist.

Auf der Suche nach den "literarischen Spuren" der Übergangsperiode zwischen den Weltkriegen im Rahmen eines historisch-politischen Gesamtbildes, verschweigt Zettl völlig die "Blut-und-Boden"-Ideologie der Schriften eines Erwin Guido Kolbenheyer und unterschlägt die heikle Problematik des Austrofaschismus. Überdies räumt er diesem zweitrangigen Autor mit einer guten halben Seite (S. 466) mehr Platz ein, als Werner M. Bauer z.B. im Kapitel zur Nachkriegsliteratur Ilse Aichinger gönnt.

Seinerseits versucht Bauer zwar sehr originell, alle Grundtendenzen der "deutschsprachigen Literatur Österreichs nach 1945" an einem einzigen Gedicht von Ingeborg Bachmann (Große Landschaft bei Wien) aufzuzeigen, kann aber im Laufe der Behandlung seine Vorliebe für die lyrische Gattung nicht zähmen. Das Resultat ist ein ziemlich einseitiges und partielles Gesamtbild der literarischen Szene Österreichs in den letzten Jahrzehnten. Obwohl man dieser wie jeder anderen Literaturgeschichte gern das Recht auf eine subjektive Auswahl zuerkennt, verblüfft es doch, daß in diesem Kapitel so erfolgreiche Erzähler der Gegenwart wie Joseph Zoderer, Joseph Winkler, Waltraud Anna Mitgutsch oder Robert Schneider, der Autor von Schlafes Bruder, nicht einmal erwähnt werden.

Unrecht wird aber vielen anderen Autoren getan. Überraschend sind in diesem Sinne die Stellungnahmen Joseph P. Strelkas im Abschnitt zur Exilliteratur; nachdem er dem Spätexilanten Prager H. G. Adler (S. 490 f.) fast zwei Seiten gewidmet hat (wobei er sogar die Namen der beiden Frauen des Schriftstellers nicht vergißt), erledigt er den "vielbesprochenen" Elias Canetti mit einem einzigen Satz, in dem er Die Blendung zu einem "zur Zeit zweifellos überschätzten Roman" erklärt, ohne sein rasches Urteil gegenüber dem Leser irgendwie zu rechtfertigen. Während der Nobelpreisträger Canetti keiner weiteren Bemerkung im ganzen Buch gewürdigt wird, widmet sich Strelka leidenschaftlich der Rehabilitation der "zu Unrecht vergessenen" Martina Wied: Die unbekannte Autorin erscheint somit rein quantitativ doppelt so wichtig wie Georg Trakl oder Joseph Roth, dessen meistgelesener Roman Radetzkymarsch nicht einmal erwähnt wird.

Irritierend ist außerdem Strelkas allzu saloppe Schreibweise, die sogar Syntaxfehler birgt. Besonders auffallend ist in seinem Beitrag die telephonbuchartige Aufzählung von Namen und Werkdaten, eine Versuchung, der übrigens fast alle Mitwirkenden erliegen, was bei der Lektüre um so mehr stört, als diese Partien (die manchmal halbe Seiten in Anspruch nehmen) noch dazu in augenfeindlichen Versalien abgesetzt sind.

Den Kern des Buches, etwa ein Drittel, bilden vier Abschnitte aus der Feder des Herausgebers selbst. Drei von ihnen gelten den Epochen von Maria Theresia bis zum Ersten Weltkrieg. Zeman, der in den Fußnoten im Text sogar Dissertationen über diesen literarisch sehr fruchtbaren Zeitabschnitt angibt, in dem sich der vielberufene "habsburgische Mythos" herausbildete, vergißt, den Namen Claudio Magris zu nennen, obwohl die Studie dieses italienischen Germanisten Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur[1] - hier in die "Bibliographische Notiz" des Anhangs verbannt - der Erforschung dieser Periode und dieses kulturellen Phänomens den entscheidenden Impuls gegeben hat.

Auch bei Zeman sind Sorglosigkeiten nicht selten. Zwar betont er den internationalen Charakter der österreichischen Kultur am Anfang des 18. Jahrhunderts. Wenn er aber zum Beleg dessen auf S. 261 einen von zahlreichen Fehlern durchsetzten Text Metastasios aus zweiter Hand zitiert, nämlich nach dem Tagebuch des Fürsten Johann Joseph Khevenhüller-Metsch, erwartet man schon den gebräuchlichen Hinweis ("sic!"), um sicher sein zu können, daß das unzulängliche Italienisch sich in der Zitatvorlage findet und nicht auf Druckfehler zurückgeht, die bei einer aufmerksamen Schlußredaktion hätten korrigiert werden müssen.

Der Verzicht Zemans, die verschiedenen Dichter mehr oder minder monographisch zu behandeln, mag originell sein, verhilft aber dem Leser zu keinem nützlichen und einheitlichen Überblick über Schaffen und Bedeutung der jeweiligen Autoren. Zusammengehöriges findet sich auseinandergerissen, und vieles bleibt allzu lückenhaft. Von Schriftstellern wie Hofmannsthal und Schnitzler werden z.B. nur einige Werke genannt, dazu oft mit falschem Erscheinungsjahr.

Von keinem Unternehmen dieser Art darf man aber Vollständigkeit erwarten, zumal man von vornherein gewarnt wird, es handle sich um eine "knappe, mitunter bloß abrißartige Darstellung", die auf ungefähr 600 Druckseiten vom Hochmittelalter bis in die jüngste Gegenwart reicht. Die chronologisch so weit gedehnte Zeitspanne ist auf dreizehn Kapitel verteilt, die nach Umfang und Qualität sehr unterschiedlich ausfallen. Auch die Anlage der einzelnen Beiträge ist wenig homogen. Einige zitieren umfangreich aus den Werken selbst, andere weisen kaum einen Textbeleg auf.

Methodisch geht jeder seinen eigenen Weg: Während Alois Wolf in das literarische Leben des Hochmittelalters anhand ausführlicher Interpretationen Walthers von der Vogelweide und des Nibelungenliedes einführt und so das Interesse auch auf die anderen volkssprachlichen Autoren und Texte des Hochmittelalters lenkt, deckt Fritz Peter Knapp in seiner Skizze der lateinischen Literatur des Hochmittelalters vor allem Defizite der Forschung auf.

Die meisten Kapitel sind in einer gleichförmig einfachen Sprache gehalten, wie sie einem Buch gut ansteht, das sich an so viele Adressaten wendet: Laien, Schüler, Studenten, Lehrer usw. Sie alle erwarten von solch zusammenfassenden Darstellungen einen schnellen Einstieg in ein unbekanntes oder wenig bekanntes "weites Feld" und verzichten gern auf unfruchtbare Abstraktionen und Theorie.

So bleibt zwar trotz aller Einwände der Versuch schätzenswert, ein dermaßen reichhaltiges Material auf so kleines Format zu reduzieren. Zu oft ist aber der Ton des Buches viel zu vage, und viel zu selten bietet es dem Unkundigen einen sicheren Bewertungsmaßstab.

Wer es mit einer chronologisch fortschreitenden Darstellung im herkömmlichen Sinne zu tun haben glaubt, wird eher enttäuscht sein, wenn er die von Donald G. Daviau und Herbert Arlt herausgegebene Geschichte der österreichischen Literatur zur Hand nimmt. Der Titel des zweibändigen Werks ist nämlich irreführend: die 65 - von genau so vielen "Wissenschaftlern aus 17 Ländern" verfaßten - Beiträge, aus denen das Buch besteht, befassen sich zwar alle mit Problemen, die die österreichische Literaturgeschichtsschreibung betreffen, folgen jedoch weder dem geschichtlichen Ablauf noch einem inhaltlich koordinierenden Kriterium.

Wie die Herausgeber im Vorwort aber erklären, ist das Werk "nach sechs Themenschwerpunkten gegliedert". Die Einteilung entspricht den Sektionen einer 1995 in Riverside veranstalteten Konferenz "Austrian Literary History" an der University of California, aus der das Werk hervorgegangen ist. Das Buch spiegelt also das Ziel dieses Symposiums, aus unterschiedlichen Ansätzen "den Prozeß der Entwicklung einer Methodologie, der Etablierung von Richtlinien, der Sammlung von Daten zu beginnen", um "den Bedürfnissen und Interessen der WissenschaftlerInnen entgegenzukommen" und sie weiter in ihrer Forschung zu unterstützen. Am Rande bemerkt: Auf die "Innen"-Schreibung als modischen Tribut an political correctness würde man bei einem wissenschaftlichen Text noch lieber verzichten als ohnehin schon. In der Tat sind die hier gesammelten Aufsätze sowohl im Unfang wie in der Qualität so vielfältig, daß man erst mit Hilfe dieses einführenden Hinweises die polyphonische Intention des Unternehmens erkennt.

Neben rein theoretischen Fragen allgemeiner, spezifischer oder interkultureller Natur (Geschichte der Darstellung, Sektion I; Kommunikationsstrukturen, Sektion III) kommen Berichte über besondere Forschungsergebnisse an bestimmten öffentlichen Institutionen vor (Forschungsstrukturen, Sektion II); neben der Analyse von autor- oder gattungsbedingten hermeneutischen Problemen (Interpretation von Texten, Sektion IV), findet man sachliche Nachrichten über den Stand der Aufnahme österreichischer Literatur im Ausland (Rezeptionsgeschichte, Sektion V) und den Bestand von Archiven und Forschungszentren (Datenmengen, Sektion VI).

Wenn der Titel auch falsche Erwartungen auf einen traditionellen literarhistorischen Abriß weckt, sind sich die Herausgeber der Heterogenität des Werkes bewußt, das ja nur einem begrenzten Zweck dienen will: indem er so Verschiedenes (Definitionen, Methodologien, Richtlinien und Formen der textuellen und bibliographischen Aufbereitung) berücksichtigt, will der Sammelband mögliche Gesichtspunkte einer künftigen Darstellung der österreichischen Literaturgeschichte beschreiben.

Gabriella Rovagnati


[1]
Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur / Claudio Magris. - 2. Aufl. - Salzburg : Müller, 1988. - XIII, 354 S. - EST: Il mito asburgico nella letteratura austriace moderna <dt.>. (zurück)

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