The world's writing systems, ein Überblick über die Schriften und Schriftsysteme der Welt, ist in insgesamt dreizehn Sektionen eingeteilt: 1. Grammatology (in der Nachfolge I. J. Gelbs begriffen als Wissenschaft von der Schrift, die ihrerseits verstanden wird als "a system of more or less permanent marks used to represent an utterance in such a way that it can be recovered more or less exactly without the intervention of the utterer" (S. 3); 2. Ancient Near Eastern writing systems (u.a. Schriftsysteme der ersten Zivilisationen, mesopotamische Keilschrift, ägyptische Schriften); 3. Decipherment (über Methoden der Entzifferung oder gar Interpretation von Schriften, u.a. am Beispiel der Maya-Schrift); 4. East Asian writing systems (u.a. chinesische, japanische, koreanische Schriften, asiatische Kalligraphie); 5. European writing systems (griechische, römische, slawische Alphabete, Runenschrift u.a.); 6. South Asian writing systems; 7. Southeast Asian writing systems; 8. Middle Eastern writing systems; 9. Scripts invented in modern times (z.B. von Missionaren erfundene oder fiktive, in literarischen Werken auftretende Schriften); 10. Use and adaptation of scripts (u.a. Adaptationen des römischen und des kyrillischen Alphabets); 11. Sociolinguistics and scripts (mit einem lesenswerten Beitrag von Gerhard Augst, Germany : script and politics, S. 765 - 768); 12. Secondary notation systems (über numerische und phonetische Notationen, Kurzschrift, Notationen der Musik und zur Aufzeichnung von Bewegungen); 13. Imprinting and printing (im wesentlichen über die Dichotomie analoges vs. digitales Schreiben).
Wie aus der Kapitelfolge ersichtlich, sind die Sektionen nicht allein
nach regionalem Aspekt geordnet, überdies sind schrifttheoretische,
soziolinguistische, historische und anwendungsorientierte Aspekte
gliederungsrelevant: eine vorzügliche editorische Entscheidung, da sie
einer problemorientierten Darstellung des Themas, dem Einblick in
vielfältige faszinierende schrifthistorische, kultur-, religions-,
sprach-, sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Zusammenhänge sowie der
Berichterstattung über die Mühen der Entzifferung und die Kontroversen
der Forschung förderlich ist. Die einzelnen Artikel, von ausgewiesenen
Fachleuten geschrieben, geben eine kurze historische Skizze der
jeweiligen Schrift (Verbreitung, Nutzung, Bedeutung), eine Tabelle der
Zeichen, soweit als möglich vollständig[2] (häufig einschließlich
Ziffern und Zahlen, Diakritika sowie Interpunktion) und in
standardisierter Folge mit Transliteration und phonetischer
Transkription, eine Schriftprobe, ebenfalls mit Transliteration und
Transkription sowie einer Übersetzung als Interlinearversion und
freier Übersetzung. Den phonetischen Transkriptionen kommt hierbei
eine besondere Rolle zu, denn im Unterschied zu anderen
Nachschlagewerken zu den Schriften der Welt will der vorliegende
survey vor allem darstellen, "how the script actually works - how the
sounds of a language are represented in writing" (S. XXXV), und ist
hierbei in besonderem Maße an "Symbol-sound correspondences" (S. 359)
interessiert. Die einzelnen Beiträge sind von angemessenem Umfang:
altpersische Keilschrift: 4 S., armenisches Alphabet: 7,5 S.,
karolingische Minuskel: 1,5 S. Das über weite Strecken streng
technizistisch phonologisch-graphematische Erkenntnisinteresse und der
spröde dokumentierende Habitus weisen den Band wohl eher als
Nachschlagewerk für Spezialisten aus denn als Informationsmittel für
den Laien, der im übrigen verwundert feststellt, daß der vorliegende
survey zwar reichlich mit Tabellenwerk (auch komparativem)
ausgestattet ist und ein detailliertes Register aufweist, jedoch
keinerlei Karten enthält.
Der Unterschied zwischen The world's writing systems und The Blackwell
encyclopedia of writing systems ist markant und lädt zu einem direkten
Vergleich der beiden Nachschlagewerke geradezu ein. Ersteres, von
mehreren Spezialisten geschrieben, ist nach sachlichen Gesichtspunkten
(wenn auch nicht nach strenger Systematik) geordnet, eher für den
Spezialisten konzipiert; es enthält über weite Strecken sehr
detaillierte Informationen und enthält umfangreiche Literaturhinweise,
ferner Illustrationen jedoch nur in Form von Schriftproben. Letzteres
hingegen, von einem einzigen, durch zahlreiche Publikationen
ausgewiesenen Schriftexperten[3] verfaßt, stellt ein alphabetisch
geordnetes, um Vermittlung konziser Information bemühtes
Sachwörterbuch dar, dessen Adressatenkreis schwer zu bestimmen ist,
das aber trotz eines dezidierten theoretical outlook (S. XXVI) nicht
zuletzt auch den interessierten Laien ansprechen will (zu
Differenzierungen s.u.). Den einzelnen Artikeln sind nur spärliche
Literaturhinweise beigegeben: Kurzreferenzen, die in einer etwa 600
Titel aufweisenden Bibliographie (S. 578 - 603) aufgelöst werden;
deren Auswahl ist gelegentlich, etwa im buchgeschichtlichen Bereich,
kaum nachvollziehbar: beispielsweise wird zwar ein Ausstellungskatalog
zu Gutenberg (hrsg. von Paul Raabe, 1990) aufgeführt, nicht aber das
Standardwerk von Albert Kapr.[4] Das Werk enthält ebenfalls keine
Karten, dafür aber vielfältige (nicht selten populärwissenschaftlich
gestylte), oft instruktive Illustrationen (S. 88: eine babylonische
Tontafel mit Keilschriftinschrift; S. 153: anhand von Buchstaben der
Tulo typeface wird die Frage gestellt: "How much variation is
tolerable [ ... ] ?").
Insbesondere empfiehlt sich The Blackwell encyclopedia ... durch das
breite Spektrum und die Vielfalt der Stichwörter, die durch großzügige
Verweisungen miteinander verknüpft sind. Die Stichwörter betreffen
vornehmlich Schriften und Schriftsysteme (Gothic alphabet, Hittite
hieroglyphic, Khmer writing, Tagalog writing). Der Umfang dieser
Artikel ist zumeist deutlich geringer als das Volumen der
entsprechenden Beiträge in The world's writing systems (z.B. Malayalam
script / Malayalam writing: 1 S. gegenüber 6 S., Ogham script / Ogham
eine knappe S. gegenüber fast 6 S.), doch bei manchen Schriften,
insbesondere bei einigen nachgeordneten oder eher derivativen
Schriften sind die Umfänge nahezu identisch (z.B. uncial / uncial
scripts: in beiden Fällen nur wenige Zeilen). Gleichzeitig erfaßt The
Blackwell encyclopedia ... aber auch in besonderem Maße
schrifttheoretische Konzepte (memory, universals of writing, variation
in writing) und zugleich semiotische Schlüsselbegriffe (icon). Ebenso
ist Schrift- und Buchwissenschaftliches angemessen berücksichtigt:
Beschreibstoffe (clay tablets, papyrus), auch Institutionen und
Umgebungen des Schreibens (scriptorium) sowie Typographisches (font,
grotesque, point size, serif). Sogar poetologische Termini (word play)
sind aufgeführt, deren Schriftabhängigkeit gelegentlich (auch um die
Aufnahme des jeweiligen nicht unbedingt zu erwartenden Stichwortes zu
rechtfertigen?) explizit angezeigt wird (Beispiel: palindrome: "The
palindrome depends on alphabetic writing", S. 387). Auch werden nicht
wenige Personen berücksichtigt (Caxton, William; Champollion,
Jean-Francois; Lepsius, Karl Richard; Saussure, Ferdinand de).
Wissenschaftlicher Anspruch, Niveau, Darstellungsweise, Stringenz und
Ausführlichkeit der einzelnen Artikel sind sehr unterschiedlich und
machen eine nähere Bestimmung des intendierten Nutzerkreises so
schwierig. So sind manche Beiträge problemorientiert (z.B. functions
of writing), auf erfreuliche Weise kontextbewußt (Carolingian reform,
nicht "Caroline minuscule"), vielleicht ein wenig theorielastig (etwa
der hochabstrakte, leider völlig auf Beispiele verzichtende Artikel zu
grapheme); zugleich finden sich ein erstaunlich aussagearmer Artikel
zu codex (nicht einmal der epochale Wandel von der Buchrolle zum Codex
wird erwähnt) und ein insbesondere aus deutscher Sicht eher dürftiger
Beitrag zu Gothic type. Kulturgeschichtliches, das von allgemeinem
Interesse ist, wird einbezogen (deities of writing), zugleich
Alltagskulturelles und Massenmediales aber eher lieblos behandelt
(graffito).
Aufgrund der völlig verschiedenen Konzeption wird man sich schwerlich
für eines der beiden Nachschlagewerke entscheiden können, und so
sollte man beide für den Informationsapparat von Universalbibliotheken
erwerben. Dies um so mehr, als Bibliotheken weiterhin eine besondere
Fürsorgepflicht für Schriftkulturen haben und sich beide Werke, trotz
aller Kontraste, durch ihren theoretischen Zugriff doch wesentlich von
älteren, zwar verdienstvollen, doch insgesamt eher
bieder-paläographischen Publikationen wie etwa dem Standardwerk von
Hans Jensen[5] unterscheiden.
Werner Bies
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